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Götterwelten

von

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Petrus und Amor

Sein deprimierter Seufzer musste im ganzen Himmel zu hören gewesen sein, denn das Publikum war sofort zur Stelle. „Hallo Petrus. Was macht das Wetter?“

Er hasste Witze dieser Art. Seit man ihm die Zuständigkeit für die Witterung übertragen hatte, musste er sich diesen stumpfsinnigen Unsinn anhören. Allmählich hatte er es wirklich satt. Dummer Weise handelte es sich bei dem Besucher um jemanden, dem man unmöglich böse sein konnte - selbst wenn man es von ganzem Herzen wollte. „Amüsierst du dich?“, knurrte Petrus und entschied spontan, die Temperatur auf der Erde um zwei Grad zu erhöhen. Momentan hatte er Europa auf dem Kieker.

„Absolut“, der Junge schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln. „Was kann ich für dich tun Petrus? Wie wär’s mal wieder mit einer kleinen Liebschaft?“, fragte er und spannte demonstrativ den Bogen. Es war ein Irrtum und ein ziemlich kitschiger noch dazu, dass Amors Pfeile ein Herz an ihrer Spitze trugen. Tatsächlich waren es, zumindest äußerlich, ganz gewöhnliche Pfeile. Weshalb der einzige Grund, weshalb diejenigen auf die er sie richtete nicht sofort die Flucht ergriffen der war, dass er ein so einnehmend schönes Wesen war. „Du kannst dir das leisten Amor. Dich hält man ja auch nicht für einen bärtigen, senilen, alten Sack.“

Er war frustriert. Amor ließ den Bogen sinken und schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. Tatsächlich waren die Vorstellungen der Menschen von seinem Äußeren auch nur bedingt zutreffend. Meist wurde er puttenartig, als ein kleiner nackter Junge dargestellt. Mochten die Götter auch noch so lüstern sein, DAS ging nun wirklich nicht. Früher hatte Amor die Kleider der Römer bevorzugt, sich aber später den Vorstellungen der nachfolgenden Generationen angepasst. So hatte er über lange Zeit, abgesehen von ein wenig schlichtem Schmuck, kaum mehr als ein Tuch um die Hüften getragen. Kein Wunder, dass Zeus sich anderweitig nach Partnerschaften umsah. Seine Gattin war über alle Maßen jähzornig. Amor selbst war, rein optisch betrachtet, ein Knabe von etwa 15 Jahren. In Wirklichkeit war er selbstverständlich um ein Vielfaches älter. Seit Anbeginn der Götterzeit existierte er in der Himmelswelt, so wie alle anderen Götter und göttergleichen Wesen auch. Oder zumindest fast alle. Götter wurden geboren, wann immer die Menschen an sie zu glauben begannen. Davor existierten sie schlichtweg nicht. Wenn sie es taten, dann in einer Form, in der sie keinerlei Bedeutung hatten. Erst der Glaube der Menschen ermöglichte es ihnen, sich in einem stabilen, meist menschenähnlichen Körper zu manifestieren. Letztlich verdankten die Götter ihre Existenz also den Menschen, weshalb man sich durchaus fragen konnte, wer denn nun der eigentliche Gott war. Bei der Erschaffung Amors jedenfalls, hatten sie sich selbst übertroffen. Was Aphrodite bei den Frauen war, war der Liebesbote bei den Männern. Selbst unter den Göttern war er eine absolute Schönheit. Und einer der wenigen, der mit der Zeit ging statt alten, vergangenen Tagen nachzutrauern. So war aus dem blonden Jüngling mit dem golden schimmernden Haar ein Knabe mit schwer gelocktem, tiefschwarzem Haar geworden, das verhüllende Tuch Boxershorts gewichen. Beides stand ihm gut. Ebenso wie die Ohrringe die er trug. Obwohl er all das natürlich nicht nötig gehabt hätte. Nichts vermochte seine Schönheit noch zu steigern und nichts sie zu schmälern. Und obwohl er es nicht mit Sicherheit sagen konnte, war sich Petrus sicher, dass der Junge das vielleicht einzige Wesen war, das tatsächlich dann perfekt war, wenn es sich so zeigte, wie Gott es geschaffen hatte. Petrus war eine spätere Erfindung und als solche weitaus menschlicher ausgefallen. Aber das war nicht das Problem. „Na ja, ich würde auch gerne mal als cooler Typ bezeichnet werden und nicht immer nur als puttiges Babyface an irgendwelchen Fassaden rumhängen.“

Sein Jugendslang war inzwischen allgemein bekannt, wenn auch nicht bei allen gleichermaßen beliebt. Immerhin, er brachte dadurch frischen Wind in die verstaubten Machtgefilde. Wie auch immer - er hatte Recht. Wer auch immer etwas für Amor zu empfinden glaubte, und das waren sowohl Götter als auch Menschen in rauen Mengen, befürchtete sofort einen Lolitakomplex und - insbesondere und ausschließlich die Menschen - eine Anklage wegen Verführung Minderjähriger. Das machte es für Amor unglaublich schwer einen Partner zu finden. „Wie geht es Psyche?“

Der Knabe verzog das Gesicht und ließ sich dann neben Petrus auf der Kumuluswolke nieder. Er lächelte, wirkte aber betroffen. Es schien ihn nur noch schöner zu machen. „Das ist nicht nett von dir“, erwiderte er halb schmollend - er war so süß, auch wenn einen seine Betrübtheit unweigerlich traf -, dann beantwortete er die Frage: „Gut denke ich.“

Mit anderen Worten: er wusste es nicht. „Die Menschen sind auch nicht nett.“

Der Junge legte den Kopf schief und schenkte ihm einen ebenso mitfühlenden wie ermutigenden Blick. Er wollte sich sein Gejammer also ganz offensichtlich tatsächlich anhören. Fast schämte sich Petrus dafür, dass es im Grunde immer das Gleiche zu beklagen gab. „Lasse ich die Sonne scheinen, jammern sie über die Hitze, lasse ich die Temperatur wieder sinken, sind sie auch unzufrieden. Ist es kalt fluchen sie, lasse ich es regnen, um ihre Pflanzen gedeihen zu lassen, beschweren sie sich auch. Allmählich bin ich es leid sie immerzu unzufrieden zu sehen.“

Amor lächelte ihn sanft an. „Sie wissen eben nicht, was sie an dir haben“, meinte er versöhnlich und beinahe wäre der Andere rot geworden. Aber dafür war er einfach zu frustriert. „Weißt du es denn?“, grummelte er und blickte ihn fast feindselig an. Doch der junge Gott ließ sich nicht beirren. „Nein.“

Manchmal hätte Petrus sich gewünscht - so sehr er Ehrlichkeit sonst auch schätzen mochte -, dass der Andere nicht ganz so ehrlich wäre. Amor, der offenbar genau das erreicht hatte, was er hatte erreichen wollen, beugte sich zu ihm, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. „Aber ich würde es gerne wissen“, er kam ihm noch näher, seine Absicht war unverkennbar. Petrus war zumeist ein ruhiger Zeitgenosse, nicht gerade bekannt dafür, dass er Witze, ganz gleich welcher Art, liebte - was abgesehen von seiner Aufgabe auch auf seinen Status im Himmel zurückzuführen war - und er konnte, einmal aus dem Konzept gebracht, ausgesprochen launisch sein. Nach einem kurzen Moment der Überraschung stand er auf. Er war ganz offensichtlich verärgert. Schwerer zu sagen war dagegen, ob es daran lag, dass er glaubte, dass der Andere sich einen Scherz mit ihm erlaubte - was nur bedingt der Fall war, Amor hatte es durchaus Ernst gemeint, es war nur seine Art sich auszudrücken - oder weil er tatsächlich rot geworden war. Ein paar Sekunden lang zeigte Petrus dem Anderen seine Wut, blickte direkt in die sanften Augen des Jungen, dann wandte er sich von ihm ab und ließ ihn allein. Amor sah ihm noch eine Weile nach, dann seufzte er und ließ die Beine baumeln. Ohne Pfeile war es eben doch nicht so einfach...

Allahs Nase

„Es ist furchtbar!“

Das dachte Petrus auch. Wenn Aphrodite, die Schönste der Schönen, hysterisch kreischend durch das Götterreich fegte, dann musste es allerdings furchtbar sein. Allerdings konnte Petrus noch nicht sagen was es war. Er war gerade mit der Regenzeit in der Sahara beschäftigt und nicht informiert worden. „Was ist los?“, erkundigte sich der Wetterpatron, wenn auch gänzlich desinteressiert. Dass Amor hin und wieder vorbeischaute war ja noch ganz nett, aber warum zum Henker musste man ihn andauernd bei der Arbeit stören?! Offenbar hatten die übrigen Götter nichts zu tun. Aphrodite konnte man das schwerlich zum Vorwurf machen. Ihre Aufgabe bestand nun einmal darin schön zu sein, damit andere sich daran erfreuen konnten - und schön war sie, keine Frage. Sie schien ihn erst jetzt wirklich zu bemerken, was Petrus’ Stimmung nicht gerade verbesserte. Er wurde nicht gern übersehen, was zu seinem Leidwesen - wenngleich er sich nicht allzu viel daraus machte - jedoch relativ häufig vorkam. „Allah hat Nasenbluten!“

Der Gott des Islam? Das überraschte Petrus jetzt doch. Allah hatte es seiner und auch der Meinung vieler anderer nach von allen Göttern am schlechtesten getroffen. Sicher, nicht alle von ihnen hatten ein hübsches Gesicht, aber sie hatten wenigstens eines! Selbst den Gott des Christentums, von dem man sich ja angeblich auch kein Bild machen durfte, hatte es gelegentlich auf eine Leinwand oder wenigstens in ein Comicheft verschlagen. Allah, der bedauernswerte, hatte da weniger Glück. Man hatte ihm, so oft er auch wo auch immer zu sehen war, ein Gesicht vorenthalten. Blieb ein Problem. Wenn man kein Gesicht besaß, besaß man logischer Weise auch keine Nase. Und das wiederum schloss Nasenbluten eindeutig aus. Aber Petrus wollte nicht voreilig sein. Schließlich befanden sie sich hier im Reich der Götter. „Er hat keine Nase“, bemerkte er trocken. Aber das schien Aphrodite nicht wirklich beruhigen zu können. Im Gegenteil - sie wurde noch viel hektischer. „Das ist es ja eben! Ich habe Angst, dass er explodiert!“

Petrus bezweifelte, dass er das tun würde. Obwohl es durchaus etwas Neues gewesen wäre. Manchmal vergaßen eben auch die Götter, dass sie Götter waren und damit - einmal ins Leben gerufen - so gut wie unsterblich. Es gab allerdings etwas anderes, das Petrus noch weitaus mehr interessierte. „Woher weißt du das? Du willst mir doch nicht erzählen, dass er es dir gesagt hat?“

Schwer vorstellbar. Allah besaß keinen Mund. Deshalb war er auch nicht als Partner für die Göttinnen geeignet. Er brachte glaubensbedingt einfach keine Zungenküsse zustande. Armer Kerl - er konnte einem wirklich leid tun. Petrus mochte seine ruhige Art. Die Methoden einiger seiner Anhänger dagegen weniger. Der Gesichtslose oder vielmehr seine Vertreter auf Erden, waren schwer in Verruf geraten. Nun, wenigstens brauchten sie sich, im Gegensatz zu den Christen, nicht zu fragen, weshalb ihr Gott ihnen nicht antwortete. Eigenverschulden. Aber vielleicht würde ihnen das ja eines Tages auffallen und der arme Mann von seiner schweren Bürde erlöst. Menschen konnten ganz erstaunlich herzlos sein. „Red keinen Unsinn, Petrus!“

Sie war schön wenn sie wütend war. Amor wurde nicht wütend, aber bei ihm hätte es sich gewiss genauso verhalten. Und wenn er die Wahl hätte, wäre ihm Amors Gesellschaft stets die liebste. „Er ist rot geworden!“

Das war zu viel. Entgegen seiner ursprünglichen Laune prustete der Wetterpatron los und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte. Die Art wie sie die Unterlippe vorschob, machte die Verwandtschaft unverkennbar. „Aphrodite meine Liebe, wer würde bei deinem Anblick nicht erröten?“

Sie errötete selbst ein wenig - man sah Petrus nur sehr selten so heiter -, besann sich dann aber wieder auf den eigentlichen Punkt ihrer Unterredung. „Ich meine richtig rot! Fast blutrot! Ich habe Angst, dass ihm etwas zustößt!“

Ja, ja, die Lüsternheit, dachte Petrus und unterdrückte ein Grinsen, da das Ganze ob seiner Kuriosität zwar zum Lachen reizte, genauer betrachtet aber alles andere als lustig war. Gerade die Götter waren alles andere als abgeneigt. Einige mochten nicht so helle sein, aber unschuldig war hier definitiv keiner. Schließlich waren sie von Menschen ersonnen worden. „Ist unser Messias schon zurück?“

„Seit etwa 2000 Jahren, ja.“

Petrus machte eine Geste als wolle er sagen: na siehst du. Tatsächlich sagte er: „Dann ist es doch kein Problem. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass Al etwas passiert und falls doch, kann Josh ihn doch heilen.“

„Sprich bitte nicht so respektlos über die anderen Götter“, tadelte sie ihn, wenn auch ohne die nötige Strenge. Petrus zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. Sie konnte nichts dafür. Es lag in ihrer Natur. Das gleiche sanfte Wesen wie Amor und von ebensolcher Schönheit. Nur was das Temperament anging, war sich Petrus mit sich selbst noch nicht ganz einig. Zu wenig Input. Aphrodite hatte inzwischen über seine Worte nachgedacht und obwohl sie mit dieser Erklärung nicht wirklich glücklich zu sein schien, bedankte sie sich brav und verabschiedete sich - nachdem sie ihm einen Kuss auf die Wange gegeben hatte- mit einem umwerfenden und absolut entwaffnenden Lächeln. Die Verwandtschaft war unverkennbar. Selbst ihre Bewegungen als sie davoneilte erinnerten an ihn. Petrus seufzte und kehrte auf seine Wolke zurück. Was für ein Aufstand. Eine Liaison zwischen dem alten Griechenland und dem Islam? Rührende Geschichte. Geradezu herzergreifend. Der Wetterpatron nannte so etwas Ironie des Schicksals. Er warf einen Blick auf die Erde und verzog angesäuert das Gesicht. Hermes, dieser windreitende Idiot, hatte bei seinen Streifzügen mal wieder alles durcheinander gebracht. Jetzt waren die Wolken wieder überall, nur nicht da, wo sie sein sollten. Und mit ihnen der Regen. Das war das Problem in einer multireligiösen Gemeinschaft. Es gab für die komplexeren Aufgaben einfach zu viele Doppelbesetzungen. Aber man konnte es ihnen auch nicht überlassen. Als er einmal auf Wunsch einen nordischen Gott seine Aufgabe hatte übernehmen lassen, hatte er die Welt gerade noch vor einer dritten Eiszeit bewahren können. Ein anderes Mal hatte er seine liebe Not damit gehabt, dem Anderen klar zu machen, dass die gleichzeitige Eruption aller noch aktiven Vulkane der Welt aus verschiedenen Gründen kein anzustrebendes Ereignis war. Und dann Hermes, dieser unverbesserlich Hohlkopf. Er hatte auch seine guten Seiten, sicher, wer nicht? Aber dieser unmögliche Weiberheld schoss mit seinen idiotischen Winden einfach zu oft über das Ziel hinaus. Sicher war es ärgerlich, wenn einem die Freundin den Laufpass gab, aber musste man deshalb derart durch die Gegend fegen? Ob nun absichtlich oder nicht, Kyrill hätte er sich wirklich sparen können. Anstatt in sich zu gehen und darüber nachzudenken, welchen Beitrag er zur Verbesserung der Situation beitragen konnte und welche Fehler er möglicher Weise gemacht hatte, tobte er wie ein Poltergeist durchs Gelände und produzierte dabei ganz nebenbei einen der schlimmsten Stürme, den die Welt seit langem gesehen hatte. Hoppla, mein Fehler. T’schuldigung, kann ja jedem mal passieren. Wenn er wenigstens etwas in der Art gesagt hätte, aber nichts dergleichen. Er zeigte sich uneinsichtig wie eh und je. Na ja, die Menschen konnten zwar nicht direkt etwas dafür, aber irgendwie hatten sie es bestimmt verdient. Tolle Ansicht. Erinnerte irgendwie an den Gott der Christenheit. Allerdings stand bei ihm etwas anderes im Vordergrund. Er war einfach hoffnungslos naiv. Seine Anhänger glaubten daran, dass er alles Gute und Schöne in sich verkörpere und sie auf ihren Wegen leiten würde. Tatsächlich glaubte ihr Gott daran, dass sie gute und liebenswerte Wesen seien, die seiner führenden Hand eigentlich gar nicht bedurften. Zwei Welt- und zahllose, bis heute andauernde Glaubenskriege hatten ihn nicht vom Gegenteil überzeugen können. Er war zum Beobachter verkommen. Warum wusste keiner so genau, denn die meisten Götter besaßen im Allgemeinen zumindest den Vorstellungen der Menschen ähnliche Charakterzüge. Schließlich war es der Glaube der Menschen, der ihnen Leben einhauchte. Da war es nur natürlich, dass sie sich dessen Inhalt auch in irgendeiner Weise annäherten. Zumindest zu Beginn ihrer Existenz. Wieder seufzte Petrus frustriert, diesmal störte ihn jedoch niemand. Auch Amor ließ sich nicht blicken. Fast bedauerte der Wetterpatron es, aber eben nur fast. Hermes hatte ordentlichen Schaden angerichtet und wie immer lag es nun bei ihm, die Sache wieder gerade zu biegen. Es schien irgendwie zur Gewohnheit zu werden oder vielmehr geworden zu sein, dass er es war, der die Fehler der anderen Götter auszugleichen hatte. Es half nichts. Leidende Menschen mochten die Perversion so manch göttlichen Wesens nach außen kehren - die Menschen nannten das Kino und auch die Götter hatten dabei nichts gegen ein wenig Popcorn einzuwenden -, er gehörte jedenfalls nicht dazu. Obwohl er sich auch nicht gerade in Anbetung der menschlichen Rasse erging. Im Gegensatz zu gewissen Personen - spontan fiel ihm da vor allem Hephaistos ein -, schätzte er die Ordnung und fühlte sich am wohlsten, wenn er seine Aufgabe ebenso ordnungsgemäß erfüllen konnte. Bedauerlicher Weise schien es das selbsterklärte Ziel der anderen Götter zu sein, ihn bei eben dieser Tätigkeit andauernd und sehr ausdauernd zu stören. Wahrscheinlicher war jedoch, dass er paranoid war. Ein weiterer frustrierter Seufzer. Es half nichts. Die Sahara brauchte ihr Wasser. Also nahm er auf seiner Wolke platz und kam das zweite Mal an diesem Tag seiner Pflicht nach, den größten Sandkasten der Welt zu wässern und zu begrünen.

Liebschaften

Hätte er Flügel besessen, er wäre mit sanftem Flügelschlag gelandet und hätte, aus reiner Freude an der Sache, ein paar weiße Federn in den Wind gestreut. Aber er besaß keine Flügel. Es war das erste Mal seit langem, dass Petrus not amused war. Das war an sich zwar nichts Neues, aber für gewöhnlich hatte der junge Amor nichts damit zu tun. Diesmal lag der Fall allerdings etwas anders. „Amor, du liebestolle Götterbrut, hast du den Verstand verloren?!“

Der Wetterpatron war nicht gerade für seine Ausgeglichenheit bekannt, aber es war das erste Mal seit Äonen, dass der junge Gott zur Zielscheibe seines Unwillens wurde. Oder vielmehr seiner offenkundigen Wut. Wie immer schenkte ihm der Knabe ein absolut einnehmendes Lächeln. Seiner kindlichen Gestalt zum Trotz ein Verführer ohne gleichen. Nur, dass nach der Verführung nicht das kam - durchaus wörtlich gemeint -, was man in einer solchen Situation erwartet hätte. Wenn Amor verführte, dann nur um seine Pfeile zum Einsatz zu bringen. Und waren sie erst einmal zum Einsatz gekommen, war der Junge für den Betreffenden ohnehin nicht mehr von Interesse. „Ich finde sie gar nicht so schlimm“, meinte er amüsiert und deutete auf seine Boxershorts. Bordeaux mit goldenen Ornamenten. Also wirklich! Nun, er konnte es sich leisten. Wie immer wirkte er frisch und munter - das blühende Leben. Petrus dagegen sah abgehetzt aus - und vollkommen entnervt. „Es ist selten, dass du nach mir verlangst. Was also kann ich für dich tun?“

Der Wetterpatron wollte gerade zu einer gereizten Antwort ansetzen, als...

„Oh Petru-hu-us!“

Noch nie hatte der Betroffene eine solche Leidensmiene gezeigt. Amor empfand ehrliches Mitgefühl. Petrus, nun ganz offensichtlich auf der Flucht, kam nicht weit. Eine Weinranke hatte sich um seinen Fuß geschlängelt und er fiel der Länge nach hin. Glück im Unglück – es gab im ganzen Universum nichts weicheres als Wolken. Die Art, in der er versuchte sich aufzurappeln, grenzte an Verzweiflung. Aufgebracht und vorwurfsvoll sah er den Jungen an. „Hast du keine Augen im Kopf? Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?!“

„Pfui, du sollst nicht fluchen“, tadelte er, wie zuvor Aphrodite, dann zeigte Amor eines seiner unschuldigsten Lächeln. „Freust du dich nicht?“

Mittlerweile hatte die Ranke weit mehr als nur seinen Fuß umwickelt. Und ihr Herr walzte unaufhörlich näher. Nur noch ein paar Kumuluswolken, dann hatte er ihn. „Spinnst du?!“

Es schien, dass Petrus wirklich nicht zu Scherzen aufgelegt war. „Wie konntest du mir das antun? Ich verlange ja gar nicht, dass du den Geschmack besitzt mir eine hübsche Göttin oder von mir aus auch eine Menschenfrau auszusuchen, aber DAS bringt das Fass wirklich zum überlaufen!“

Welch treffender Wortwitz, wo sie doch über den Gott des Weines sprachen. Auch Amor bemerkte es und kicherte. „Na ja“, er lächelte und zuckte die Schultern, „ich dachte er sorgt für ein wenig Zerstreuung. Dafür ist er schließlich prädestiniert.“

Doch so leicht war Petrus nicht zu besänftigen. „Wir reden hier von Dionysos! Der Typ säuft wie ein Loch, ist dauerbetrunken und treibt’s mit Schafen und Ziegen genauso wie mit Göttern und Menschen!“, polterte er, inzwischen kaum noch bewegungsfähig. „Mach mir die Ziege“, erwiderte Amor, der noch immer seinen Spaß an der Sache hatte. Obwohl ihm das Gesicht des Anderen nicht so recht gefallen wollte. Schließlich hatte er es, zumindest ursprünglich, gut gemeint. Mittlerweile hatte der besagte Gott den bedauernswerten Petrus eingeholt und ließ die Ranke sich aufrichten, sodass der arme Gefangene vor ihm in die Höhe getragen wurde. Amor beobachtete das Ganze aufmerksam. Er hätte wirklich einen Pfeil auf den guten Wetterpatron abschießen sollen. Einseitige Liebe war immer ein Problem. Nicht dass Petrus gegen seine Macht immun gewesen wäre, schon deshalb nicht, weil er jünger und weitaus schwächer war als er, es war nur so, dass er sich einfach nicht treffen ließ. Meist genügten Blicke, manchmal waren auch Worte nötig, um ihn wieder davon abzubringen. Der Andere war in all den Jahrhunderten nur etwa ein dutzend Mal in die Verlegenheit gekommen tatsächlich einem Pfeil ausweichen zu müssen. Und in zwei Drittel der Fälle hatte er es auch nicht wirklich ernst gemeint. „Ohohoho, Petrus du Schelm! Dachtest du wirklich ich ließe dich entkommen? Unser kleines Tete-a-tete ist noch nicht vorbei.“

Zugegeben, eine Schönheit war der Gott des Weines und der Feste wirklich nicht und im Augenblick hörte er sich wie ein verliebtes Schulmädchen an, aber zumindest hatte er jede Menge Erfahrung vorzuweisen, wenn es darum ging, wie man sich amüsierte. Und Amor war einfach davon ausgegangen, dass der gute Petrus einen erfahrenen Partner brauchte. Diese dauerhafte Abstinenz konnte ja nicht gut für ihn sein. Wahrscheinlich war er tatsächlich noch nie verliebt gewesen. Kein Wunder also, dass er immerzu gleichgültig und wenn nicht das, dann finster dreinblickte. Außerdem war es Verschwendung. Entgegen seiner eigenen Aussagen war Petrus recht hübsch. Sein Gesicht war ebenmäßig und wohlgeformt und auch sonst war an seinem Körper, zumindest dem Teil der Amor bekannt war, nichts auszusetzen. „Amor du süßer kleiner Verführer, warum hast du nur so lange damit gewartet?“

Er meinte wohl den Liebespfeil. Der junge Gott lächelte, wenn auch ein wenig gequält. Irgendwie konnte einem der arme Petrus leid tun. Inzwischen war er fast gänzlich seiner Bewegungsfreiheit beraubt worden. Im Gegensatz zu den anderen Göttern war die Wirksamkeit seiner Kräfte fast ausschließlich auf die Menschenwelt beschränkt. Oberhalb der Wolkengrenze waren sie quasi bedeutungslos. Der verliebte Dionysos beachtete den Liebesboten schon gar nicht mehr. Er war vollauf damit beschäftigt seinen vermeintlichen Partner zu bedrängen. Amor sah es und je mehr er sah, desto stärker regte sich der Unmut in ihm. Er sollte ihn nicht anfassen. Davon einmal abgesehen war dieses Liebesspiel die reinste Farce und dazu in höchstem Maße lächerlich. Gerade hielt der liebestolle Dionysos seinem oder vielmehr durch Amor Auserwählten ein paar schillernde Trauben hin. Der Blick mit dem er Petrus musterte war dem Schwarzgelockten durchaus bekannt, doch missfiel er ihm mit jeder Sekunde mehr. Er sollte ihn nicht so ansehen. „Oh Petrus mein Liebster, koste hiervon. Nimm einen Schluck vom Tau der Liebe.“

Der Reaktion des Wetterpatrons nach zu urteilen hätte er lieber lebende Schnecken verspeist, als auch nur einen Tropfen des schweren Weins zu probieren. Er vertrug keinen Alkohol. Doch Dionysos achtete gar nicht darauf, schien sich an dem sich sträubenden Körper noch zu erfreuen. Verzweifelt wand sich Petrus in seinen Fesseln. Es war aussichtslos. Gegen einen Gott dieses Ranges kam er unmöglich an. Einer Macht wie dieser hatte er nichts entgegenzusetzen. Soweit es die ihn umklammernden Ranken zuließen, wandte er sich in Amors Richtung. „Verdammt noch mal Amor! Steh da nicht nur so rum! Du hast deinen Spaß gehabt, jetzt tu endlich...“

Die Finger der groben Hand unter seinem Kinn, drehte der verliebte Gott das Gesicht des Wetterpatrons wieder zu sich und verschloss die Lippen des Widerspenstigen mit den seinen. Und sehr schnell hatte Petrus mehr Wein in sich, als er vertragen konnte. Sein Körper wurde schlaff, seine Gegenwehr erstarb und sein Geist versank in undurchdringlichem Nebel. Wie erstarrt stand Amor da und sah zu ihnen herüber. Die sanften Augen weit aufgerissen, das liebliche Antlitz maskengleich. Kein Lächeln, das den Gegenüber verzauberte. Dionysos achtet nicht darauf. Er nahm ihn gar nicht mehr wahr. Er genoss. Und Petrus, wenn er denn überhaupt noch bei Bewusstsein und Herr seiner selbst war, schien seine Existenz nicht einmal mehr wahrzunehmen. Es kam durchaus vor, dass der junge Gott diejenigen, die er in Liebe zueinander verbunden hatte, ein wenig beneidete, aber was er jetzt empfand, lag jenseits dieses unschuldigen Wunsches nach ein wenig Glück. Als sei in seinem inneren ein Damm gebrochen durchflutete eine Welle der Eifersucht seinen ganzen Körper. Er hob die Hand und mit einer einzigen Bewegung, einem einzigen Blick, trennte er Herz und Pfeil wieder voneinander. Wann immer er den Bogen spannte und sein Ziel traf, verschmolzen Pfeil und Herz miteinander – legte sich das Gefühl, in das sich der Pfeil auflöste, wie eine schützende Hülle um das lebenserhaltende Organ. Eine Verbindung die auf ewig halten sollte. Amor allein besaß die Fähigkeit, beide wieder voneinander zu trennen. Und das tat er. Unverzüglich kehrte der Pfeil zu ihm zurück. Und schon blickte Dionysos genauso dämlich drein, wie vor seiner Verwandlung in ein liebestolles Weinfass. Er sah sich um, kratze sich erst am Kopf, dann an seinem recht ansehnlichen Bauch und wandte sich schließlich mit einem weinseligen „Was’n los“ zuerst an Petrus und, als dieser nicht reagierte, an Amor. Doch der junge Gott war viel zu aufgebracht um irgendetwas zu erklären. Und von allein würde diese Schnapsdrossel wohl nie darauf kommen. „Ey Pedrus, wat spielste denn mit meiner Ranke rum“, lallte er und Amor schauderte. Wie hatte er Petrus so etwas antun können? Dieser Mann war ein Koloss und schien die Intelligenz einer Gießkanne zu besitzen! Sicher, man durfte ihn nicht unterschätzen, er war schließlich ein Gott, aber DAS... Amor war fassungslos. Was in Gottes Namen hatte er sich nur dabei gedacht?! In diesem Moment betrat eine junge Satyrfrau – eines der Geschöpfe die sich Dionysos wie in einem Harem hielt – die überirdische Weltenbühne. Kaum dass er sie erspäht hatte, wurde der Rest der Umgebung mitsamt der anwesenden Götter und Nicht-Götter auch schon unwichtig und nur wenig später schäkerte der Trunkene auch schon aufs heftigste mit dem Tierweib. Der menschenkundige Amor wusste, dass dies erst die Vorstufe heftigen Pettings und später natürlich noch viel mehr als das war. Als Gott der Liebe war ihm solch eine Haltung eigentlich fremd und dennoch konnte er nicht umhin angewidert den Blick abzuwenden. Und so jemanden hatte er Petrus berühren, ihn sogar küssen lassen! Er schauderte. Allein der Gedanke daran ließ ihn eine Gänsehaut bekommen. Lachend, grölend und trinkend entfernte sich Dionysos mit seiner Geliebten. Einen Moment noch blieb Amor unbeweglich stehen, dann eilte er zu dem achtlos zurückgelassenen Petrus. Der Gott des Weines hatte die Ranken bereits zurückgezogen und so war der Wetterpatron lautlos auf eine der Wolken gesunken. „Petrus“, seine Stimme klang ungewohnt aufgeregt – und besorgt. Ein wenig rascher als nötig drehte er ihn herum. Der Geist der Witterung war blass wie immer. Kein weinseliger Hauch von Rot schmückte seine Wangen. Sein flacher Atem roch schwach nach Alkohol. Und das war etwas, was er offenbar gar nicht vertrug. Jetzt schien er zu schlafen. Vorsichtig bettet Amor den Kopf des Jüngeren auf seinen Schoß. Gedankenverloren strich er ihm durch das ewig windzerzauste braune Haar, dessen Weichheit ihn stets aufs neue überraschte. Er bekam viel zu selten die Gelegenheit es zu berühren. Es gefiel ihm. Er genoss es, Petrus bei der Arbeit zu beobachten, ihm, wenn möglich Gesellschaft zu leisten, wenn der Wind den er beherrschte spielerisch sein Haar durchwehte, die Kleidung seinen Körper umschmeichelte. Amor mochte das blasse, ebenmäßige Gesicht des Anderen. Seine Augen, deren Beschreibung jeden Sterblichen überfordert hätte. Ihm hätten sie nur schwerlich ein Kompliment bezüglich der Farbe machen können. Ihr Grundton war Grau, doch gesellten sich Braun-, Grün-, Blau- und sogar Goldtöne hinzu, die, seiner jeweiligen Stimmung entsprechend, stärker in den Vordergrund traten. Sie verwirrten, diese Augen. Er mochte nicht die zuweilen bis an das Unerträgliche heranreichende Schönheit manch anderer Götter besitzen, aber seine Augen waren ein Blickfang ohnegleichen. Lange Zeit hatte Amor es bedauert, dass andere ihm fast nie nahe genug kamen, um sie zu sehen und wenn sie es taten meist nur ein dunkles Grau zu sehen bekamen. Inzwischen war er fast schon glücklich darüber. Denn er kannte sie und fand sie unglaublich aufregend. Jetzt waren sie allerdings geschlossen. Sanft strich er dem Wetterpatron ein paar aufmüpfige Haarsträhnen aus der Stirn. Er war warm. Die meisten Götter fühlten sich bei Berührung wie Marmor an – eine unausweichliche Folge des menschlichen Glaubens. Die Erdenbewohner bemerkten es nicht, nahmen die unnatürliche Kühle ihrer Haut nicht wahr, wann immer ein Gott zu ihnen herabstieg um sich, wie einst Zeus, ein wenig zu amüsieren. Untereinander jedoch spürten sie sie. Die beinahe abweisende Kälte des jeweils anderen. Amor betraf dies als Gott der Liebe weniger, auch diejenigen, die die Mächte des Feuers beherrschten zählten weniger dazu, die meisten anderen Götter waren jedoch davon betroffen. Dionysos wirkte dem durch Wein entgegen, alle anderen entwickelten entweder Alternativstrategien oder blieben genau so wie sie waren. Petrus war eine sehr viel spätere Erfindung der Menschen und als solche ihnen sehr ähnlich ausgefallen. Seine Launen waren in der gesamten Götterwelt und darüber hinaus bekannt, auch wenn bei dem Gedanken daran weitaus weniger frustrierte und resignierte Seufzer zu hören waren, als das beispielsweise bei Michael der Fall war. Er war zuweilen wirklich unerträglich. Petrus dagegen gehörte zu dem Typ den man belächelte und dem man still verzieh. Ganz gleich wie abweisend er auch zu sein versuchte, wie teilnahmslos und ungehalten er sich auch gab, auf seine Weise wirkte er sympathisch. Amor mochte ihn. Sehr sogar. Der junge Gott schreckte aus seinen Gedanken auf, als seine Hand die nackte Haut des Anderen berührte. Einen Moment lang blickte er ein wenig verdutzt drein, dann zog er seine Finger zurück. Im Ausschnitt eines Mannes hatten sie, hatte er, nun wirklich nichts zu suchen. Ein wehmütiges Lächeln legte sich auf seine Züge. Wirklich nicht. Was ist los Amor? Liebeskummer? Fragte er sich selbst, konnte aber nicht darüber lachen. „Es tut mir leid“, flüsterte er dem Schlafenden zu. „Bitte verzeih mir.“

Er war ein Idiot, dass er ihn allen Ernstes mit einem Gott wie Dionysos hatte verbinden wollen und es war idiotisch, sich bei einem Schlafenden zu entschuldigen, ihn gar um Verzeihung zu bitten. Idiotisch – und feige. Mehr als alles andere war es feige. Sehnsüchtig sah er zu dem Jüngeren hinab, dann beugte er sich vor und küsste ihn. Eine Weile verharrte er so, die Augen geschlossen, dann zog er sich enttäuscht zurück. Nicht dass er irgendeine Reaktion erwartet hatte, er hätte es vermutlich nicht einmal gewagt ihn zu berühren wäre Petrus bei Bewusstsein gewesen. Er schmeckte süß, doch es war die Süße des Weines und ganz sicher nicht das, was der junge Gott sich gewünscht hatte. Vor seinem inneren Auge wollte ihm nur das Bild eines rauschenden Festes, eines riesigen Gelages erscheinen. Das war nicht Petrus. Es war das, was Dionysos in ihm zurückgelassen hatte – wie eine ferne Erinnerung. Es gab einen Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Kuss, mit sämtlichen dazugehörigen Zwischenstufen. Das wussten die Menschen so gut wie die Götter. Nur, dass sich erstere dabei auf eine Werteskala bezogen, die nicht den Kern der Sache traf. Die richtige Technik, so es denn eine gab, war sicherlich von Bedeutung, viel wichtiger jedoch war das Bild, das eine Berührung dieser Art in der jeweiligen Person hervorrief. Dieses Bild war es, das über die Qualität entschied. Immer standen diese Bilder in irgendeiner Weise mit dem Auslöser in Verbindung, verrieten etwas über seinen Charakter, seine Vorlieben und so weiter. Es konnte von Mal zu Mal variieren, aber auch stets das gleiche sein. Letzteres zeugte zwar von Sicherheit und Stabilität, ließ jedoch schnell Langeweile aufkommen. Man verlor schließlich das Interesse daran. Das Entscheidende war nun, ob dem Partner das Bild gefiel oder nicht. Die Menschen hatten nur zuweilen noch eine Ahnung davon wenn sie sagten, ein Kuss habe sie an einen Tag am Strand, an Softeis, ihren Ex-Partner oder sonst irgendetwas erinnert. Für Götter dagegen war es die reinste Offenbarung. Für sie taten sich Welten auf. Er wollte es noch einmal versuchen. Ihn noch einmal küssen. Den Schleier des Weingottes von ihm nehmen und IHN sehen. Nur ihn. Ihn, seine Bilder, alles von ihm! Doch er wagte es nicht. Er holte tief Luft und ließ sie langsam, ganz langsam wieder ausströmen. Und mit dem neuen Atemzug kehrte auch seine Ruhe zurück, schlug sein Herz wieder langsamer, ließ das brennende Verlangen in ihm nach. Er hob den Kopf und sah in das makellose Blau des Himmels. Amor konnte es steuern, beeinflussen, lenken, er war der Gott der Liebe! Doch es hatte keinen Zweck. Wann immer er daran dachte, ihm der Gedanke kam, begriff er gleichsam die Sinnlosigkeit des Unterfangens. So sehr er es sich auch wünschen mochte, seine Pfeile würden ihm hier nicht weiterhelfen. Bei anderen funktionierte es, weil sie nicht wussten wie ihnen geschah, den Hintergrund ihrer plötzlichen Verliebtheit nicht begriffen. Doch auf ihn traf das nicht zu. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, Petrus verliebt zu machen. Seine Pfeile wirkten – so glaubte er wenigstens – auf ihn genauso wie auf jeden anderen auch. Was aber sollte er dann tun? Ihn zu seinem Partner machen in dem Wissen, dass er nie eine Wahl gehabt hatte? In dem unzweifelhaften Wissen, dass alle Liebe und Zuneigung auf einem Zauber beruhte? Einem, den er selbst gesprochen hatte? Nein, das hätte er niemals ertragen können. Wie hätte er sich jemals sicher sein, sich von den Zweifeln freisprechen können, dass der Andere ihn um seiner selbst Willen liebte? Amor schüttelte den Kopf. Dann lachte er leise und ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. Er würde es wohl allein schaffen müssen. Welch Ironie, dass es ausgerechnet dem Gott der Liebe in eben dieser nicht besser erging als dem einfachsten Menschen. Wirklich erbärmlich. Sein Blick wanderte wieder zu Petrus und sofort besserte sich seine Laune wieder. Ein Gefühl der Wärme durchströmte ihn und weckte wieder Zuversicht in ihm. Er würde bei ihm bleiben. Zumindest so lange, bis er aufwachte. Er unterdrückte ein Kichern. Auf die Reaktion des Wetterpatrons wenn er aufwachte war er wirklich gespannt.

Frau Holle

„Es ist furchtbar!“

Das war es allerdings. Petrus hatte gerade eine ausgesprochen lebhafte Diskussion mit den verschiedenen Göttern der Naturgewalten hinter sich gebracht und war nun damit beschäftigt das Chaos zu beseitigen, das der windsurfende Hermes in seiner Gedankenlosigkeit mal wieder angerichtet hatte. Es duldete keinen Aufschub und abgesehen davon hasste es der pflichtbewusste und gewissenhafte Wetterpatron, wenn man ihn andauernd bei der Arbeit störte. Retten tat ihn das allerdings nicht. Zurück zum Aspekt des Furchtbaren. Er konnte sich schwerlich vorstellen, dass der Auslöser dessen schon wieder ein bluten Allahs nicht existierender Nase sein sollte. Natürlich sollte man, besonders in der Welt der Götter, niemals nie sagen, aber auch hier gab es so etwas wie Wahrscheinlichkeit. Und die Wahrscheinlichkeit, dass etwas, das im Grunde unmöglich schien, nun schon zum zweiten Mal stattfinden sollte, erschien ihm doch ausgesprochen gering. Außerdem war Aphrodite gerade auf einem Zerstreuungsurlaub auf den Balearen und konnte deshalb unmöglich der Auslöser sein. Vorausgesetzt Al spannte nicht, was angesichts der Tatsache dass er keine Augen hatte ebenfalls unwahrscheinlich schien. Die einzigen Sinnesorgane, die er tatsächlich vorzuweisen hatte, waren seine Ohren. Zum Glück hatten die Menschen nicht versucht, den Mangel der anderen durch die Größe derselben wettzumachen. Der arme Gott hatte schon genug zu ertragen, da musste nicht auch noch ein Spitzname wie Dumbo hinzukommen. Aber so kam er nicht weiter. Zurück zum Ausgangspunkt. Da sich wohl kaum jemand die Mühe machen würde zu ihm zu eilen und ihm mitzuteilen wie furchtbar sein, Petrus’, Leben zuweilen war, war er wohl auch nicht der primäre Anlass. Er verengte die Augen zu Schlitzen und sah angestrengt in die Richtung, aus der der Aufschrei gekommen war. Er tat es demonstrativ, denn auch ohne diese Anstrengung wusste er sofort um wen es sich handelte. Seine Stimme war unverkennbar. Diesmal war es der Messias persönlich, der ihm einen Besuch abstattete. Er konnte sich wirklich nicht beklagen. Populär war sein Publikum. Amor schien auch irgendwo in der Nähe zu sein – ein sanfter Hauch von Parfüm hing in der Luft. Er hatte diesen komischen blütenduftbestäubten Nebelhauch – soweit zu den Inhaltsstoffen – von seinem letzten Erdenbesuch mitgebracht und ihm geschenkt. Und tatsächlich trug ihn dieser kleine Sturkopf seither. Dabei hatte er das nun wirklich nicht nötig. Außerdem hatte bald der ganze Himmel davon gesprochen und da Amor zu den Wenigen gehörte, die überhaupt etwas bekommen hatten – und das obwohl bekannter Maßen alle Götter scharf auf Souvenirs waren – brodelte die Gerüchteküche natürlich auf das vortrefflichste. Natürlich wusste Petrus, dass der junge Gott niemand war, der mit solchen Dingen hausieren ging, aber wenn er es auftrug bemerkte man es natürlich und es war ihm unsagbar peinlich gewesen. Im Nachhinein hatte er sich geärgert, dass er überhaupt irgendetwas mitgebracht hatte. Hör endlich auf dieses furchtbare Zeug zu benutzen. Es ist widerlich, hatte er wütend zu ihm gesagt, doch Amor hatte ihn nur sanft angelächelt und erwidert: Wenn dem so wäre, hättest du es mir bestimmt nicht geschenkt. Er kannte ihn einfach zu gut. Lass sie reden, hatte er hinzugefügt und ihm einen federleichten Kuss auf die Wange gegeben. Und er, Petrus, war tatsächlich ein wenig rot geworden. Er hatte so glücklich ausgesehen. Egal, das war Vergangenheit. Seit er ihm den Gott des Weines auf den Hals gehetzt hatte, stand er auf Kriegsfuß mit dem Liebesboten und seiner Natur entsprechend war er ein äußerst nachtragender Charakter. Seit jener unvorteilhaften Partnerwahl mied der Wetterpatron den jungen Gott wo auch immer es ihm möglich war. Er hatte schlichtweg kein Interesse daran, sich jetzt in irgendeiner anderen als der gedanklichen Weise mit ihm zu beschäftigen. Apropos beschäftigen, wenn es Jesus, den Sohn des Christengottes höchstpersönlich zu ihm führte, dann musste es schon etwas Besonderes geben. Petrus vermutete, dass er mal wieder mit seinem Vater aneinander geraten war. Das kam öfter vor, besonders seit der Knabe wieder in der Götterwelt weilte. Eigentlich war der Messias von sanfter, aber zielstrebiger und entschlossener Natur. Wenn es um seinen Vater ging konnte er allerdings ausgesprochen wehleidig sein. Die beiden waren sich in ihrem naiven Glauben an das Gute im Menschen einfach zu ähnlich. „Josua, welch Ehre, welch Ehre! Schon zurück von deinem irdischen Streifzug?“

Irritiert hob der Mann, der tatsächlich außer Atem gekommen war, den Kopf. In ihrer Menschlichkeit ähnelten er und Petrus sich stark, aber Jesus besaß mehr Charisma. Der Wetterpatron machte sich nichts daraus. Weder war er Gottes Sohn, noch musste er sich seine Daseinsberechtigung durch Prophetendienste erarbeiten. Er brauchte kein Charisma. Aber Prophet war ein gutes Stichwort. Den gleichnamigen Kuchen musste er unbedingt mal wieder probieren. Was sollte er sonst in sein Sündentagebuch schreiben? „Seit 2000 Jahren“, beantwortete das Gotteskind die Frage und Petrus hob in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. „Wirklich“, ihm stand der Sinn nach Sarkasmus, auch wenn man bei dem guten Josh nie sicher sein konnte, ob er den Witz verstand oder nicht. Er war ein kluger Kopf, keine Frage, aber mit Ironie, Sarkasmus und derlei anderer Böswilligkeit hatte er so seine Schwierigkeiten. Er konnte nichts dafür, lag in der Familie. „Ich weiß Gottes Wege sind unergründlich, aber würdest du mir trotzdem die Ehre erweisen, mir den Grund deines Hierseins mitzuteilen?“

„Machst du dich gerade über Vater lustig?“, fragte Jesus ungewohnt misstrauisch und erinnerte Petrus ein weiteres Mal daran, welch tiefgreifenden Vaterkomplex der Gottessohn hatte. Er hob beschwichtigend die Hände. Auch wenn er keine gute Laune hatte, er wollte nicht leichtsinnig einen Streit vom Zaun brechen – das endete bei Göttern und Gottähnlichen meist wenig hübsch. Obwohl er sich diesbezüglich eigentlich keine Sorgen hätte machen müssen. Genau wie bei Amor konnte man mit Josua nicht streiten. Wenn die Gründe dafür auch verschiedene waren.

Amor beobachtete das Ganze aus sicherer Entfernung. Lauschen schickte sich nicht, er wusste das und jemandem nachzuspionieren sprengte ganz sicher den Rahmen der Höflichkeit, aber seit Petrus auf ihn reagierte, als handele sich bei ihm um eine ansteckende Krankheit – ihn wie Luft zu behandeln brachte er dann wohl doch nicht über sich – war es seine einzige Möglichkeit gelegentlich einen Blick auf den Wetterpatron zu erhaschen. Er vermisste ihn. Seine raue Art ebenso wie seine sanften Augen. Er vermisste ihre Gespräche, ja selbst die ewige Verstimmtheit, die der Andere an den Tag zu legen pflegte. Seit jenem schicksalhaften Stelldichein mit Dionysos hatte er ihn nicht mehr in seiner Nähe haben, ja nicht einmal sehen wollen. Er wollte sich ja entschuldigen. Wollte es wirklich, aber wie denn, wenn der Jüngere ihn so vehement zurückwies. Er hatte ihn wohl schon bemerkt, schien ihn jedoch nicht vertreiben zu wollen. Zum Glück. Er hatte nicht vor die kritische Grenze zu übertreten.

„Petrus, du weißt doch es ist Winter.“

„Ich weiß es ist Winter“, bestätigte Petrus.

„Und du weißt doch auch, welches Fest man im Winter feiert“, druckste der Messias herum, dem es immer wieder peinlich war um etwas zu bitten, das sich tatsächlich auf seine Person bezog, also egoistische Züge aufwies. Innerlich seufzte der Wetterpatron. Er wusste schon was jetzt folgen würde. Wer wusste es nicht? Seit Tagen, wenn nicht Wochen, rannten die Menschen ununterbrochen von A nach B, von B zu C und so weiter und so weiter, während sie an nichts anderes mehr dachten. „Erntedankfest?“, riet Petrus und sah das Gesicht des Anderen sich verdüstern. „Tut mir leid. Ich bringe diese ganzen Festlichkeiten immer durcheinander. Es sind so viele, dass ich sie mir unmöglich alle merken kann.“

Lügner, dachte Amor. „Schwindler“, sagte Josua. Wenn der Wetterpatron auch sonst nicht viel göttliches an sch hatte, sein Gedächtnis war phänomenal. Amors Mut sank. In Bezug auf Dionysos hätte es ruhig etwas lückenhafter sein dürfen. Währenddessen wand sich der Göttersohn unter dem unnachgiebigen Blick des Witterungsbeauftragten. „Na jedenfalls: Könntest du nicht für ein wenig Schnee sorgen?“

In seinem Versteck sog Amor die Luft ein. Schlechtes Thema. Ganz schlechtes Thema. „Ich könnte die Temperatur absenken“, bot Petrus an. Es war offensichtlich, dass sein Gesprächspartner Gefahr lief, sein Missfallen zu erregen. Doch Josua war, was das anging, ebenso unbedarft wie sein Vater. Er schüttelte ablehnend den Kopf. „Kannst du es nicht schneien lassen?“

Petrus Mundwinkel zuckten. „Kannst du nicht Frau Holle fragen?“, gab er gereizt zurück und wandte sich bereits halb von seinem Gesprächspartner ab. „Deshalb bin ich hier.“

Reflexartig zog Amor den Kopf ein. Der Gottessohn war gerade völlig unbedarft in ein Fettnäpfchen getreten – um nicht zu sagen: mitten hineingehüpft. Frau Holle war eine sehr junge Erfindung der Menschen, besonders der Kinder, und Petrus war sogar einiger Maßen dankbar dafür gewesen, dass ihm die rüstige, absolut liebenswerte alte Dame ein wenig von seiner Arbeit abnahm. Für gewöhnlich arbeiteten sie zusammen. Der Wetterpatron senkte die Temperatur und sie ließ es schneien. Eine gute Sache, man konnte geradezu von einer Symbiose sprechen, und es war auch seit ihrer Erschaffung immer gut gegangen – sah man von den gelegentlichen Auseinandersetzungen mit den Frostgöttern ab. Unglücklicher Weise hatten die Erdbewohner sie allzu menschlich erdacht und war sie einmal, zur Winterzeit, erkrankt. Das an sich wäre kein besonderes Problem gewesen, Petrus hätte diese Aufgabe schließlich auch allein meistern können, aber die alte Dame erfreute sich bereits einer solchen Beliebtheit, dass die Götter – denen so etwas wie Demokratie für gewöhnlich fremd

war – einstimmig entschieden, das ein Ersatz her musste. Wenig überraschend, dass Petrus dafür auserkoren wurde. Das an sich wäre nun auch noch kein Problem gewesen, wenn man nicht von ihm verlangt hätte, dass er sich – für den zu 100% unmöglichen Fall, dass jemand von Seiten der Erde ihn sehen könnte – auch noch in die Kleidung der guten Frau Holle warf. Sie hatten es übertrieben. Natürlich hatten sie das und Petrus war weiß Gott nicht der Einzige der das wusste, aber jeder, der auch nur einen Anflug von Wissen über die Götterwelt und ihre Bewohner sein Eigen nannte, wusste, dass nichts so gefährlich war, wie den Zorn derselben auf sich zu ziehen. Sie konnten ungeahnt grausam sein. Und die griechische Mythologie war nicht die einzige, die voll von solchen Geschichten war. Und Petrus, der nun einmal kein Gott war, stand auf verlorenem Posten. Tatsächlich hatte er, wie entschieden worden war, den ganzen Winter in Frau Holles Tracht auf einer Wolke gehockt und für Schnee gesorgt. Und es war unschwer zu erkennen gewesen, was er davon hielt. Es hatte ihn verletzt. Unsagbar verletzt. Man mochte es ihm nicht ansehen, aber der Wetterpatron war von durchaus empfindlichem Charakter. Im guten wie im schlechten Sinne. Er hatte ihnen bis heute nicht verziehen. Spaß war eine Sache, aber für ihn war es eine absolute Demütigung gewesen. Sein Verhalten hatte sich seither nur unwesentlich verändert. Tatsächlich aber war er noch kühler, noch abweisender geworden, hatte sich noch weiter in sich selbst zurückgezogen. Entsprechend kühl fiel seine Reaktion aus. „Ich verstehe dass es Weihnachten wird und die Menschen sie gern weiß hätten und ich habe auch nicht vergessen, dass es dein Geburtstag ist Messias, aber dafür bin ich nicht zuständig. Frau Holles Lieblingswolke ist gar nicht so weit von hier entfernt und für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie dir nicht weiterhelfen kann oder will besteht immer noch die Möglichkeit, dass du dich an die Frostriesen wendest. Ich bin nur der Verteiler. Die Produktion liegt in den Händen anderer. Tut mir leid.“

Erst sah es so aus, als wolle Josua noch etwas erwidern, besann sich dann offenbar eines Besseren und gab auf. Es sah allerdings nicht danach aus, als sei er mit diesem Ergebnis zufrieden. Im Gegenteil – er wirkte ausgesprochen niedergeschlagen. „Ich kann dich wohl nicht überzeugen dich darum zu kümmern, hm?“, es war eher eine rhetorischen Frage. Wie ein geprügelter Hund sah der Messias zu ihm auf. Petrus verzog das Gesicht, seufzte und schüttelte den Kopf. Er hatte immer Schwierigkeiten damit, wenn jemand ihn derart anflehte etwas für ihn zu tun. Allem Anschein zum Trotz war er ein sanfter, friedliebender Charakter und so hatte er alle Mühe, nicht doch noch weich zu werden. Und wie gesagt, der Messias besaß Charisma. Jesus seufzte ebenfalls – es klang noch deprimierter als bei Petrus, was ungewöhnlich, wenn nicht bedenklich war – und nickte.

In seinem Versteck atmete Amor erleichtert auf. Nicht etwa, weil er ein Sadist gewesen wäre, der sich am Leid anderer ergötzte – diesbezüglich gab es bereits mehr als genug Götter – sondern vielmehr deshalb, weil der gute Josua es hingenommen und ihn nicht noch weiter bedrängt hatte. Das führte in der Regel zu nichts – abgesehen natürlich von schlechter Stimmung und Verärgerung seitens des Wetterpatrons. So abweisend er sich auch gab, war er im Grunde doch viel zu weichherzig. Und das nutzten die Götter natürlich. Er selbst liebte ihn dafür. Und bei Weitem nicht nur dafür. Amor, der das Gespräch damit für beendet gehalten hatte, war gerade dabei sich schweren Herzens und äußerst widerwillig zu einem Verlassen der Örtlichkeiten zu überwinden, als der Messias erneut die Stimme erhob. „Ach ja, was ist das eigentlich für ein uminöses Parfüm, das du dem Liebesboten geschenkt hast? Der ganze Himmel spricht schon davon. Amor war ja schon immer eine Augenweide, aber seit er diesen neuen Duft hat, kann er sich vor Verfolgern kaum retten.“

Gedankenloser, beiläufiger Plauderton. Hätte Amor einen Felsen gehabt, er hätte seinen Kopf dagegen geschlagen. Da ihm jedoch keine derartige Gesteinsformation zur Verfügung stand, begnügte er sich damit mental zusammenzubrechen. Mal ganz davon abgesehen, dass es eine maßlose Übertreibung war, was Petrus natürlich nicht wissen konnte, wie konnte man nur derart zielsicher und sorglos alles ansprechen, was bei dem Witterungsbeauftragten mit 100%iger Wahrscheinlichkeit Unwillen und mit 99%iger Wahrscheinlichkeit mehr als das auslöste?! Fettnäpfchenwetthüpfen. Bei Josua unnötig – er lief außer Konkurrenz. Auch das lag in der Familie. „Ach wirklich?“, erwiderte Petrus unterkühlt und Amor vermutete, dass die Menschen, wenn Jesus so weitermachte, mit einem ungewohnt plötzlichen und heftigen Wintereinbruch rechnen mussten. Dem Messias waren derartige Überlegungen offenbar völlig fremd. Eben noch niedergeschlagen, schien er nun – kaum dreißig Sekunden später – wieder guter Dinge zu sein. Ein sonniges Gemüt. Direkt beneidenswert. „Er muss ja wirklich etwas Besonderes für dich sein.“

„Wer?“, erkundigte sich der Wetterpatron höflich, obwohl er natürlich wusste, besser als jeder andere wusste, von WEM hier die Rede war. „Amor.“

„Ach so“, er wirkte direkt gelangweilt. Der Liebesgott verbiss sich ein Kichern. Er wusste, dass Petrus diesbezüglich unglaublich schüchtern war und er bedauerte ihn ja auch, aber in seiner unbeholfenen Art war er einfach zu süß. Und auch der gute Josua wurde offensichtlich – wenn auch aus anderen Gründen – nicht müde, ihm sein Interesse und seine Bewunderung offenkundig mitzuteilen. „Ich wusste gar nicht, dass du dich auf diesem Gebiet so auskennst.“

„Reden wir immer noch von Amor?“, erkundigte sich der Wetterpatron höflich und für einen Moment war der Gottessohn, ob seiner Überraschung, tatsächlich sprachlos. Selbst der Liebesgott konnte nicht verhindern, dass sein Herz kurzweilig aus dem Takt geriet und ein zartes Rot seine Wangen wärmte. Nein, auf dem Gebiet Amor kannte er sich wahrlich nicht aus und doch kannte er ihn besser als jeder andere. „Ich spreche von dem Parfüm“, erwiderte der Messias mit einer Mischung aus Verlegenheit und Schmollen. „Du hast wirklich einen erlesenen Geschmack – was Düfte angeht.“

„Danke“, dem Ton nach hätte es genauso gut ‚verpiss dich’ heißen können. Amor kämpfte mit einem Lachanfall. Glücklicher Weise war der Gott stärker. Den Nachsatz hätte sich Josh wirklich sparen können. Schon aus diplomatischen Gründen. Doch der Messias plauderte munter weiter. „Ich gebe zu, dass ich die wohl wichtigsten Zeiten der Parfümerie wohl verpasst habe, aber ein Duft wie dieser ist mir noch nicht untergekommen. Er ist wohl ziemlich selten, was?“

Petrus betrachtete durch die Wolken hindurch das Erdengeschehen. Eisiger Wind kam auf, umwehte ihn, durchspielte sein Haar und bewegte sich dann hinab in die Welt der Menschen. Amor konnte den Wunsch ihm nahe zu sein, das Verlangen ihn zu berühren kaum unterdrücken. Es sah so wunderschön aus, wenn Petrus das tat. Wenn er seine – wie er behauptete – bescheidenen Kräfte nutzte, sturmgleiche Winde entfesselte oder sanfte Brisen zu den Menschen schickte. Gerade jetzt schenkte er ihnen den Winter. Einfach so. Mit einer einzigen Geste seiner schlanken Finger. Hinreißend, hätte Aphrodite gesagt. Amor hätte es anders formuliert, musste ihr aber letztlich Recht geben. Ein lautloser Seufzer stieg aus den Tiefen seiner Seele auf. Er führte sich auf wie ein Idiot. Er war wohl wirklich hoffnungslos verliebt. Als Petrus sich wieder umwandte wirkten seine Augen beinahe schwarz. Sein Blick war kalt, beinahe arrogant. Es waren Moment wie diese, in denen seine Verwandtschaft mit den Göttern deutlich sichtbar wurde. Erhaben, unantastbar und alles andere als ungefährlich. Nur einen Lidschlag später war alles wie zuvor. Eine sehr deutliche Warnung. „Es ist einzigartig“, bemerkte er schlicht und nahm eine abwartende, vor allem aber ablehnende Haltung ein. „Wo hast du es gekauft?“, fragte der Messias, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte. Es kam nur höchst selten vor, dass Petrus sich ernstlich wütend zeigte. Im Gegensatz zum Wetterpatron, auf dessen Gesicht sich eine Spur von Langeweile abzeichnete, fühlte Amor freudige Erregung in sich aufsteigen. Er hatte nicht gewusst, dass er der Einzige war, in dessen Besitz sich dieses Parfüm befand. Obwohl es natürlich albern und kindisch war, machte ihn dieses Wissen glücklich. Es bedeutete ihm viel, vielleicht mehr, als er es sich selbst eingestehen wollte. Petrus dagegen wirkte über alle Maßen desinteressiert. „Ich habe es nicht gekauft. Es stammt von mir.“

Flamm. Diese unvollständige Wort beschrieb äußerst treffend, wie es Amor in diesem Moment ging. Als habe man in seinem Inneren ein Feuer entzündet, das sich nun nach Herzenslust ausbreitete. Er war froh, dass er sich versteckt hatte und so den Blicken der Anderen verborgen blieb. Um nichts in der Welt hätte er gewollt, dass ihn jemand so sah. Schon gar nicht Petrus. Für einen kurzen, erschreckenden Moment fragte er sich, ob der Wetterpatron dies sagte, weil er um seine Anwesenheit wusste – oder hatte er sie gar vergessen? Er legte die Hand auf seine Brust und zwang sein Herz zur Ruhe. Er durfte das nicht missverstehen. Petrus war ehrlich, nichts weiter. Möglich, dass es nur aus einer Laune heraus geschehen war. Das sah dem Witterungsbeauftragten zwar nicht ähnlich, aber undenkbar war es nicht. Und außerdem war er ja nicht der Einzige, der etwas bekommen hatte. Sofort schwand ein Teil seiner Euphorie. Sein Kopf begriff das – es war ja nur allzu verständlich – aber sein Herz wollte davon nichts wissen. Es war zum verrückt werden. Vielleicht war er es schon. Wenn nicht völlig, so doch nach ihm. Er wagte einen kurzen Blick auf Jesus und war sofort wieder bester Laune. Der Messias war ein durchaus ansehnlicher junger Mann, aber jetzt gerade blickte er nicht gerade intelligent drein. Köstlich. „Wenn man sich ein wenig mit der Technik auskennt, ist es gar nicht so schwer.“

Da konnte Amor ihm nur zustimmen. Wenngleich er zu wissen glaubte, dass sie an verschiedene Dinge dachten. Naturgemäß. Zumindest was den Liebesgott betraf. Das war offenbar alles, was Petrus erklärender Weise dazu zu sagen bereit war. Er sah den Messias an und dieser wusste, dass es Zeit war sich zu verabschieden. Es gab nichts mehr zu besprechen. Josua deutete eine Verbeugung an und bekreuzigte sich wie es üblich war. Weiche Dämon, glaubte er von den Lippen des Wetterpatrons abgelesen zu haben, doch kein Wort drang an sein Ohr. Es wäre auch sehr unklug gewesen, die wichtigste Geste der Christenheit in dieser Art zu kommentieren. Josua konnte so schrecklich ernsthaft sein. Und entsprechend beleidigt. Zweifellos der Sohn Gottes. Petrus verbeugte sich tief vor dem Messias. „Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, Messias“, beantwortete der Wetterpatron die Abschiedsworte Josuas. „Sei so gut und grüße Frau Holle von mir. Wir haben uns schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen und ich werde wohl auch in naher Zukunft nicht dazu kommen. Oh und lass dich doch bitte von dem aufmerksamen Beobachter dort hinten begleiten. Frau Holle wird sich über einen Besuch unseres göttlichen Knaben gewiss freuen. Sie liebt Kinder.“

Schuldbewusst trat Amor vor und schloss sich dem freundlich lächelnden Jesus an. Petrus lächelte nicht. Ein scheuer Blick in seine Richtung zeigte ihm, dass der Jüngere, wenn auch nicht ernstlich wütend, so doch ungehalten war. Sein Blick war streng, seine Gesichtszüge zeigten, schwach, aber unverkennbar, Verärgerung. Hätte der Liebesgott Hundeohren besessen, er hätte sie todtraurig hängen lassen – so übernahm sein Kopf diese Rolle. „Es tut mir leid“, sagte er leise und tapste dann neben dem Messias her. Er spürte seinen Blick im Nacken. Die ganze Zeit über. Als er es schließlich, nach schier endlosen quälenden Minuten nicht mehr aushielt und sich umwandte, war in der Ferne nur noch die Silhouette des Wetterpatrons zu sehen. Stumm auf einer Wolke sitzend, die Erde beobachtend, die Winde lenkend. Wie immer. Und wie immer allein. Schweren Herzens drehte er ihm den Rücken zu und ließ den einsamen Menschenbehüter hinter sich.

Venus

„Guten Morgen, Petrus“, erklang die sanfte Stimme der schönen Frau und der Angesprochene sah auf. „Guten Morgen“, erwiderte er und schickte sich an sich zu erheben. Doch die Besucherin schüttelte nur ablehnend den Kopf und bedeutete ihm sitzen zu bleiben. „Was führt dich zu mir?“, fragte er und warf einen kurzen Blick auf das Geschehen weit unter ihnen. Obwohl sie, ohne dass es jemanden auch nur im geringsten verwundert hätte, vor Selbstbewusstsein nur so hätte überquellen können, war ihr Auftreten eher schüchtern. „Störe ich dich? Es tut mir leid, du hast bestimmt jede Menge zu tun und gewiss wirst du auch ohne mein Hiersein oft genug unterbrochen, aber...“

„Du störst mich nicht“, antwortete der Wetterpatron ehrlich und bedeutete ihr, so sie es wünschte, neben ihm Platz zu nehmen. Tatsächlich hatte er zum ersten Mal seit ewigen Zeiten nicht wirklich etwas zu tun. Die nordischen Götter verhielten sich ungewohnt ruhig – wahrscheinlich hatten sie diesmal intern ein paar Dinge zu klären – und Hermes hielt seinen Schönheitsschlaf. Und mochte man es nun glauben oder nicht, die Wirkung war enorm. Keine Sintfluten, keine Wintereinbrüche mitten im Sommer, keine Wirbelstürme und auch kaum anders geartete Katastrophen. Die Welt war geradezu ungewohnt friedlich. Unter diesen Bedingungen fiel es natürlich nicht schwer, Wind und Wetter richtig zu dosieren und dann einfach aufrecht zu erhalten. Man konnte direkt planvoll vorgehen. Ein ungemein seltenes, aber äußerst erquickliches Vergnügen. Und Petrus, der gerade in der letzten Zeit – in Zahlen ausgedrückt in den letzten Jahrzehnten – wahrlich genug zu tun gehabt hatte, konnte nicht sagen dass ihm der Trouble fehlte. Nach so langer Zeit war es einfach angenehm, einmal ohne wenn und aber genau die Arbeit zu verrichten, für die man nun einmal gedacht war. Insofern lagen also sogar verschiedene Arten der Erfüllung darin. Pflicht und Kür in einem, wenn man es so ausdrücken wollte. Die römische Göttin setzte sich zu ihm – weder zu nah noch zu weit weg – und strich ihr zartes weißes Kleid glatt. Satin? Petrus vermutete es, aber es hatte nur einen sanften matten Schimmer. Es lud geradezu dazu ein berührt zu werden, was der Wetterpatron selbstverständlich nicht tat. Zwar hatte keiner der Götter und auch nur wenige der Götterwesen so etwas wie Erziehung genossen – auch Petrus nicht – , aber im Gegensatz zu ihnen besaß er einfach Anstand. Die Menschen hätten es wohl den schwulen besten Freund genannt. Amor war zu höflich um so etwas zu sagen, ganz gleich wie viel er für die Erdenbewohner auch übrig haben mochte. Und mal ganz davon abgesehen stimmte es nicht. Erstens war er, soweit er wusste, nicht vom anderen Ufer und zweitens hatte er keine Freunde – nur Bittsteller. Abgesehen vielleicht von dem knabenhaften Liebesgott und auch bei ihm konnte man nicht ganz sicher sein. Anders als das bei verschiedenen Gattungen der Fall war, machte es ihn keineswegs betrübt oder gar depressiv. Er war nicht gerade das, was man einen Lebemann nannte und er vermisste es auch nicht. Tatsächlich schätzte er die leider viel zu seltene Ruhe und Beschaulichkeit seines Daseins. Er umgab sich durchaus gern mit Wesen die er mochte, aber es gab nun einmal nicht viele, die diesen Status innehatten. Er sah zu der strahlend schönen Göttin hinüber. Venus gehörte dazu. Als Äquivalent zu Aphrodite entstanden, war sie die ruhigere und sanftere der beiden. Ein atemberaubend schönes, aber, anders als die quirlige Aphrodite, sehr rücksichtsvolles Wesen. Petrus hatte durchaus etwas für sie übrig. Wäre Amor ein Mädchen, er wäre wie sie. Mochte er nun gerecht sein oder nicht, dieser Gedanke kam ihm immer wieder. Ob er wohl eifersüchtig würde, wenn er wüsste, dass sie sich auf diese Weise unterhielten? Wahrscheinlich. Er war einfach zu ehrlich und nicht besonders gut darin Gefühle zu verbergen. Schon gar nicht, wenn sie stark waren. Kurz fragte er sich, ob er eine Affinität zu körperlicher Schönheit hatte, aber das war nicht ohne weiteres haltbar. Schließlich waren alle Götter – er dachte an das Abenteuer mit Dionysos und modifizierte den Gedanken noch einmal – , waren fast alle Götter echte Schönheiten. Im Grunde kam er mit allen ganz gut aus, aber tatsächliche Sympathie brachte er nur etwa einer handvoll von ihnen entgegen. Wen mochte er noch? Artemis, die Göttin der Jagd, war eine recht gute Gesellschafterin. Klug, eine scharfe Beobachterin und – glücklicher Weise – nicht übermäßig redselig. Amor, Artemis, Venus – gut, dass es nicht Aphrodite war die er mochte, sonst hätte er sich, wenn schon keine Affinität zur Schönheit, so doch zumindest eine bezüglich des Buchstabens A vorwerfen müssen. Aber Josua begann schließlich auch nicht mit einem A und der Messias war, abgesehen von kleinen Schwächen die sein menschliches Dasein nun einmal mit sich brachte, ebenfalls ein angenehmer Zeitgenosse. Wirklich schade, dass Buddha nie als Gott vorgesehen war. Sicher, er hätte mit seiner „Die Welt ist schön und friedlich“-Theorie nicht allzu viel Freude ausgelöst, aber der Leitspruch des Christengottes – Liebe deinen Nächsten – hatte schließlich auch nicht gerade eine Welle der Enthaltsamkeit heraufbeschworen. Vermutlich würden die meisten von ihnen die meiste Zeit auf der Flucht vor seinen versöhnlichen Gedanken sein. Das Wesen der meisten überirdisch transzendenten Existenzen war für derlei einfach zu kriegerisch.

„Woran denkst du?“

Wie unhöflich von ihm. Da kam die Göttin der Schönheit höchstpersönlich zu Besuch und er hatte nichts besseres zu tun, als sich in irgendwelchen unsinnigen Gedankenkaskaden zu ergehen. Wie peinlich. „Oh, Verschiedenes, aber nichts von Belang.“

Sie hob eine Augenbraue, als wolle sie andeuten, dass sie gern mehr darüber erfahren würde, beließ es dann aber dabei. Auch eine Eigenschaft, die er an ihr schätzte.

„Was führt dich denn nun eigentlich zu mir?“

Sofort wurde ihr Blick weicher, doch ihre Körperhaltung drückte Verlegenheit aus. Sie war wirklich ein reizendes Geschöpf. Sie zögerte noch einen Moment, dann antwortete sie ihm. „Ich wünschte, ich könnte dir etwas wirklich Bedeutsames berichten oder eine interessante Nachricht überbringen, aber“, sie sah ihn halb entschuldigend halb fröhlich an, „eigentlich wollte ich mich nur ein wenig mit dir unterhalten und mich noch einmal für das Geschenk, das du mir gemacht hast, bedanken.“

Er warf einen beiläufigen Blick auf das Schmuckstück und kratzte sich eine wenig verlegen am Hinterkopf. „Entschuldige. Es ist ziemlich geschmacklos der Göttin der Schönheit eine Halskette zu kaufen. Ich habe mich wirklich bemüht, aber mir ist einfach nichts besseres eingefallen.“

Sie sah ihn verblüfft an, schüttelte dann den Kopf und schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. „Aber nein. Sie ist wundervoll. Ich hab mich so gefreut. Deshalb wollte ich mich auch noch einmal bei dir bedanken.“

Glücklich barg sie den Anhänger in ihren Händen und drückte ihn – wie ein Kreuz im Gebet – an sich. Ein langer, fein geschliffener Bergkristall, von zarten Bändern aus Weißgold und Silber umrankt. Ein schönes Stück, ohne Zweifel – sonst er hätte er es auch niemals gewagt es ihr zu schenken. Aber es gab nun einmal nichts, das ihre Schönheit noch zu steigern vermochte. Als Venus die Augen wieder öffnete und ihn ansah, lag Besorgnis in ihrem Blick. „Aber sie muss ja unglaublich teuer gewesen sein.“

„Ziemlich“, erwiderte Petrus und zuckte die Schultern. Wenn sie ihr gefiel, spielte der Preis keine Rolle. Allerdings vermied der Wetterpatron es, diese Worte auszusprechen. Er musste an Amor denken. Seit ihrer letzten Begegnung hatte er nicht wieder versucht sich ihm zu nähern. Er gab sich gar nicht erst die Mühe es zu leugnen. Er vermisste ihn. Und wenn Venus auch eine atemberaubende Schönheit war, so vermochte sie es doch nicht, ihn zu ersetzen. Niemand vermochte das. Er schrak ein wenig zusammen, als die Göttin sich an ihn lehnte. Petrus fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde. Körperkontakt war nicht gerade seine Stärke. Es machte ihn immer schrecklich nervös. Er unterdrückte den Schüttelfrost der ihn befallen wollte, als er an das Abenteuer mit Dionysos zurückdachte. Sofort kehrte seine Wut auf Amor zurück, flammte erneut auf und unterdrückte jeglichen Anflug von Sehnsucht nach dem jungen Liebesgott.

„Danke“, erklang die sanfte Stimme der Venus an seinem Ohr und er lächelte ein wenig. „Gern geschehen.“

Eine kleine Weile verharrten sie in dieser Haltung und genossen die Nähe des jeweils anderen. Schließlich löste sich die Göttin wieder von ihm und setzte sich auf. Gemeinsam beobachteten sie das bunte Treiben auf der Erde und ließen entspannt die Beine baumeln. „Sag, du hast Amor doch auch etwas von der Erde mitgebracht, nicht wahr? Stimmt es, dass du das Parfüm selbst entworfen hast?“

Petrus stöhnte. „Auch du, meine Venus?“, beklagte er – in Anlehnung an Caesars letzte Worte – theatralisch seine missliche Lage. „Ich wünschte wirklich, ich hätte es nicht getan. Das werde ich mein Lebtag nicht mehr los und angesichts der Unendlichkeit meines Daseins ist das ein mehr als hartes Schicksal.“

Sie sah ihn verblüfft an, lachte ein wenig und schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. „Entschuldige. Ich wollte ganz sicher nicht tratschen.“

Der Wetterpatron blickte leidend drein und seufzte dann ein weiteres Mal. „Aber um deine Frage zu beantworten: Entworfen ist wohl ein bisschen übertrieben. Sagen wir ich habe mehr oder weniger zufällig ein paar hübsche Sachen entdeckt und sie so passend wie möglich kombiniert.“

Ein weiterer Seufzer. „Aber im Grunde genommen ist es genauso geschmacklos, wie der Göttin der Schönheit Schmuck zu schenken. Das zeugt von einer gewissen Einfallslosigkeit, nicht wahr? Um nicht zu sagen Ignoranz.“

Er empfand es wirklich so und wie üblich widersprach sie ihm. Ihr weiches blondes Haar wiegte sich mit der Bewegung ihres Kopfes leicht hin und her. „Sieh es doch nicht als etwas, das uns Schönheit bescheren soll, sondern als etwas, das das Gegebene noch unterstreicht. Auch wir haben unsere Schwächen Petrus und Schönheit liegt immer im Auge des Betrachters. Und bitte“, fuhr sie sanft und eindringlich fort, „sag nicht, dass du es bereust. Er hat sich so gefreut. Du hättest ihn sehen sollen. Ich habe ihn noch nie so glücklich gesehen. Er trägt den kleinen Flakon immer bei sich.“

Petrus war ehrlich überrascht. Er hatte es nie bei ihm gesehen... Aber es sah ihm ähnlich. „Seit kurzem trägt er es an einem kleinen Silberkettchen um den Hals.“

Sie kicherte leise und der Witterungsbeauftragte sah sie fragend an. Möglicher Weise hatte er – wie es so oft der Fall zu sein schien – mal wieder die Pointe verpasst, aber er konnte an dieser Sache nicht wirklich etwas erkennen, das ernsthaft heiterkeitsauslösend gewesen wäre. Möglich, dass er einfach nur zu spießig war, aber... „Nein, entschuldige“, sagte sie und brachte es tatsächlich ausgesprochen schnell fertig, sich wieder zu beruhigen. Und wie konnte es anders sein, sie sah auch dabei hinreißend aus. „Aber du hättest ihn sehen sollen, ihn erleben müssen, dann würdest du es ganz sicher verstehen. Ich habe Amor noch nie zuvor derart wütend erlebt. Ein paar Himmelsgeister wollten das kleine Fläschchen nur mal anfassen - und er hat sehr eindrucksvoll unter Beweis gestellt, das sein Bogen nicht nur Liebespfeile verschießen kann. Er hat die armen Kleinen durch die halbe Götterwelt gejagt, bevor er endlich von ihnen abgelassen hat.“

Petrus sah sie ein paar Sekunden lang ungläubig an, dann wandte er den Kopf zur Seite. „Idiot“, sagte er leise, doch der Rotton auf seinen Wangen und der sanfte Blick seiner Augen strafte den harschen Tadel Lügen. Venus lächelte wissend und ließ ihm einen Moment Zeit, um seine Gedanken ein wenig zu ordnen. Für seine Gefühle, das wusste sie, würde er sehr viel länger brauchen. „Gib ihm doch eine Chance, Petrus. Sei nicht länger kalt zu ihm. Du weißt er hat es nicht böse gemeint und nie würde er absichtlich etwas tun, das dir Schaden zufügt.“

Die Augenbrauen des Wetterpatrons zogen sich drohend zusammen und verliehen seinem Gesicht einen wütend-trotzigen Ausdruck. Darum ging es also. „Ich weiß nicht was passiert ist und er wollte es mir auch nicht erzählen. Aber was ich weiß ist, dass er unglücklich ist. Todunglücklich. Er habe einen Fehler gemacht, sagte er. Einen ganz schrecklichen Fehler. Du musst ihm nicht verzeihen Petrus, das sage ich gar nicht und es ist auch ganz allein deine Entscheidung. Aber sag, kannst du ihn nicht wenigstens anhören? Du weißt, dass er mehr als alles andere deine Nähe sucht. Er möchte sich entschuldigen, dich um Verzeihung bitten. Und du weißt das. Was immer auch vorgefallen sein, was immer er auch getan haben mag, kannst du es denn wirklich nicht über dich bringen ihn wenigstens anzuhören?“

Der Wetterpatron sah sie an – seine Laune war soeben in absehbare Nähe des absoluten Tiefpunktes gesunken. „Hat er...“

Es war sonst nicht ihre Art jemandem ins Wort zu fallen und Petrus hatte es auch nie zuvor bei ihr erlebt, aber jetzt unterbrach sie ihn. „Petrus“, ihre Stimme war sanft aber bestimmt. „Du weißt dass er, dass wir beide so etwas niemals tun würden. Er hat mich nicht hierher geschickt. Es ist so wie ich es gesagt habe. Ich wollte mich bedanken und mit dir reden. Und selbst wenn er mich darum gebeten hätte, hätte ich es nicht getan. Ich hätte ihm lediglich ans Herz gelegt, die Angelegenheit persönlich zu klären. Ich weiß nicht was vorgefallen ist, aber es ist eine Sache die euch beide betrifft und in deren Klärung sich niemand einmischen kann. Natürlich habe ich dieses Thema nicht zufällig angesprochen, aber es stehen ganz und gar egoistische Motive dahinter. Ich bin nicht blind, Petrus. Irgendetwas ist passiert und seither ist die Stimmung zwischen euch äußerst kühl. Erst glaubte ich, dass es nur Amor beträfe, aber dieses Gespräch hat mir gezeigt, dass es dich ebenso aufwühlt wie ihn. Nicht in gleicher Weise und womöglich auch nicht aus den gleichen Gründen, aber es beschäftigt euch beide. Ihr beide seid für mich gute Freunde und ich möchte nicht, dass ihr wegen dieser Angelegenheit leidet.“

Auf seinem Gesicht arbeitete es, aber es war kein Vergleich zu dem, was sich in seinem Inneren abspielte. Als sei ein Wirbelsturm durch seine Seele gefegt und habe den gerade verheilten Boden wieder aufgerissen, umgepflügt – nichts als Verwirrung und Chaos zurücklassend. Er sah sie an. Er glaubte ihr. Natürlich glaubte er ihr und ebenso natürlich war, dass sie Recht hatte. „Du weißt es wirklich nicht, nicht wahr?“

Sie sah ihn ruhig und ernst an. „Wenn du den Grund für eure Auseinandersetzung meinst, ja.“

Er nickte stumm. „Danke“, sagte er leise. „Gern geschehen.“

Es war nicht nötig, dass sie es aussprachen. Wofür er ihr dankte. Sie hatte ein unvergleichliches Gespür dafür. Sie fragte nicht. Sie wusste es, spürte es, fühlte instinktiv, wenn jemand einen bestimmten Punkt nicht berühren wollte und beließ es dabei. Das schätzte er an ihr. Das liebte er an ihr. Jetzt lächelte sie ein wenig traurig und erhob sich. „Es ist gut für heute, nicht wahr?“

Ja, es war gut für heute. Genug. Genau in diesem Augenblick war es genug. An der Grenze zu dem Punkt, an dem er es nicht nur leid war, sondern es ihm zu viel wurde. Und deshalb ließ sie ihn jetzt allein. Woher nur wusste sie es? Woher konnte sie es wissen? Und warum war sie die Einzige, die diese Grenze niemals überschritt? Allein wenn es zu seinem Besten gewesen wäre hätte sie es getan – das wusste er. Doch niemals aus Ignoranz oder gar simpler Freude an seiner Reaktion. Sie war wahrlich eine Heilige. Er hätte sich in sie verlieben können – gewiss hätte er das und vielleicht war er es auch ein wenig, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Irgendetwas ließ es nicht zu, dass der Gedanke daran sich in seinem Geist manifestierte. Vielleicht war es sein Minderwertigkeitskomplex, vielleicht seine schlechte Erfahrung mit Göttern – oder die Tatsache, dass er, wann immer ihm eine sanfte Schönheit wie Venus begegnete, doch immer nur an IHN dachte. Welche Eigenschaft auch immer er an jemandem schätzen mochte, erinnerte sie ihn doch immer nur an den jungen Liebesgott und war er stets das Maß aller Dinge. Er hasste das. Nicht, dass er es bedauerte sich deshalb nicht einfach auf jemanden einlassen zu können – er war nicht gerade ein Don Juan. Was ihn störte, ihn wirklich und in der jetzigen Situation über alle Maßen störte, war, dass er es einfach nicht loswurde. Das Bild des Knaben, das sich unauslöschlich in seine Seele, seinen Geist und – wie er fürchtete – auch in sein Herz eingebrannt hatte. Er WAR etwas besonderes. Unnötig und ebenso hoffnungslos es zu leugnen. Aber DAS war zu viel. Er hatte einen Platz eingenommen, sich hineingeschlichen, an dem er nichts zu suchen hatte. Noch hatte er ihn nicht verdient und gerade jetzt, da er ihm zürnte, war seine Anwesenheit – seine immer währende Anwesenheit – ihm schier unerträglich. Fort. Nur fort mit ihm. Hinaus. Zurück woher er gekommen war. Er war es leid. Seine Brust schmerzte. Er hörte kaum, wie Venus sich verabschiedete, spürte kaum den Kuss, den sie ihm auf die Stirn hauchte. Fort. Nur fort. Er sollte mit ihm reden? Wozu? Trug er nicht schon schwer genug am Bild dieses lästigen kleinen Quälgeistes? Musste er ihn da auch noch sehen? Ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen? Was sollte dabei herauskommen? Er musste an Allah denken und hätte beinahe aufgelacht. Nein. So wie es sich jetzt anfühlte, würde es nicht bei Nasenbluten bleiben. Er hatte nicht schlecht Lust dazu, den Knaben übers Knie zu legen und ihm gründlich den Hintern zu versohlen. Einfach so. Um diesem verwöhnten Fratz einmal zu zeigen, was Schmerz bedeutete. Es war so erbärmlich. Und wenn er ehrlich war, nur ein wenig unter die Oberfläche dieser niederen Empfindung blickte, lag dort etwas – kaum mehr verborgen wie es schien –, dessen Hässlichkeit ihn schaudern ließ. Er brauchte sie nicht – diese Liebe, die Amors Pfeile versprachen. Er brauchte sie nicht – und er wollte sie nicht. Ausdruckslos starrte er auf die Erde hinab. Innerhalb weniger Stunden würde die Temperatur um beinahe sieben Grad fallen. Mitten am Tag. Sie würden jammern – sollten sie nur. Sie würden klagen – was auch immer ihnen beliebte. Er hatte es satt. Von tiefem Groll erfüllt erhob er sich und verließ seinen angestammten Platz, ohne sich noch einmal umzusehen.

Amor trat von der mit Wasser gefüllten Schale zurück und sofort verschwamm das Bild des Wetterpatrons. Er hätte es wissen müssen. Natürlich hatte Gabriel nur die besten Absichten gehabt, ihm nur dieses seltene und kostbare Schmuckstück zeigen wollen. Und das nicht einmal aus Eitelkeit – der Gott der Christenheit hätte ihn gelyncht –, sondern weil er, berechtigter Weise, angenommen hatte, dass es ihn interessieren würde. Und natürlich – selbst wenn er es anders erhofft oder zu leugnen versucht hätte – stand bereits fest, was ihm der Weltenspiegel, der doch nur zeigte was man zu sehen wünschte, zeigen würde. Und wie so oft hatte ihm die Dreistigkeit den Wetterpatron zu beobachten nichts als Demütigung und Schmerz beschert. Natürlich hatte er gewusst, dass Petrus auch anderen Göttern ein Geschenk mitgebracht hatte und schließlich war seines – daran hatte er sich geklammert und es hatte ihn unsagbar glücklich gemacht – das einzig wirklich persönliche, weil selbst geschaffene. Deshalb war es auch nicht der Grund, zumindest nicht der eigentliche Grund, für den Schmerz in seiner Brust. Es war die Art wie sie miteinander umgingen. Wie sanft er war, wie er auf ihre Nähe, ihre Berührungen reagierte. Er hatte geglaubt dieses Gefühl zu kennen. Spätestens seit er Petrus aus den Fängen des Dionysos befreit hatte. Jetzt wusste er es besser. Wusste, fühlte, dass es kaum mehr als eine Ahnung, ein Vorbote dessen gewesen war, was er jetzt empfand. Kaum Wut, dafür Hilflosigkeit, Verzweiflung. Er konnte ihr nicht böse sein. Sie war eine Freundin und eine wunderbare Frau. Sie hatte sich – auch wenn sie das Gegenteil behauptete – ganz uneigennützig für ihn, für sie beide eingesetzt. Und das war, wie er aus eigener Erfahrung wusste, alles andere als selbstverständlich. Er konnte ihr nicht böse sein! Und doch war es gerade dieses Verständnis, diese sanfte Art, diese unaufgeforderte Einmischung, die sein Herz quälte, ihm Gewalt antat. Aber das wusste sie nicht – konnte sie gar nicht wissen. Sonst hätte sie es niemals getan. Und er? Er hätte sich lieber die Zunge abgebissen als es ihm zu sagen. Sie war seine Mutter und er mochte sie. Das machte es schlimmer, komplizierter. Ihre sanften Worte, die Art wie sie mit ihm umgegangen war. Wie hatte sie es wissen, ja auch nur ahnen können? Wie hatte sie ihn einfach, so ohne weiteres finden können? Den Weg zu seinem Herzen, das er schützte wie eine Auster ihre Perle. Sein Herz, das er nie verriet und doch so oft missachtete, dass man zuweilen das Gefühl hatte, er besäße die Fähigkeit es außerhalb seines Körpers zu drapieren und nach Belieben wieder einzusetzen. Er erweckte nur selten den Eindruck, als berührte ihn irgendetwas. Und schon gar nicht so tief, dass es bis in sein Innerstes vordrang. Wie also hatte sie ihn finden können? Wie lange hatte er gebraucht um ihn zu finden. Um zu erkennen, was für ihn besonders war, ihm nahe ging, ihn bis in die Grundfesten seiner Seele zu erschüttern, sie zu durchdringen vermochte. Seit er ihn kannte hatte er sich Stück für Stück vorgetastet, vortasten müssen, immer mit der Gefahr lebend, dass, was immer er tat, wenn er, über alle Maßen vorsichtig, die Grenzen ausfindig machte, ihn verletzen würde. Es war nicht ausgeblieben. Er hatte ihn verletzt. Nie absichtlich und – wie er glaubte – auch stets nur oberflächlich. Er hoffte es. Und sie? Wann hatte sie geforscht? Woher kannte SIE die Grenzen, wusste wann es genug war, man sich nicht mehr weiter vorwagen durfte? Woher?! Er bedankte sich höflich bei Gabriel und verließ dann das beliebte Einzugs- und Aufenthaltsgebiet der christlichen Götter. Woher wusste sie das? Woher wusste sie nur immer alles? Eine einzelne Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und glitt über seine Wange. Das war ungerecht. So viel Mühe hatte er aufwenden müssen, so viel Feingefühl war vonnöten gewesen um wenigstens auf den Stand zu kommen, den sie vor der Sache mit Dionysos gehabt hatten. Sie hatten nicht gestritten. Ach hätten sie es nur! Hätten sie doch ein Mal, nur ein einziges Mal miteinander gestritten! Dann hätten sie wenigstens überhaupt miteinander gesprochen! Sie hätten die Angelegenheit, wenn auch nicht im wörtlichen Sinne, aus der Welt schaffen können. Aber sie hatten nicht gestritten. Sie hatten nicht einmal geredet. Und mit jedem Tag, so schien es, wurde die Distanz zwischen ihnen größer – und mit ihr die Sehnsucht. Sehnsucht nach der verlorenen und mit den Jahren allzu vertraut gewordenen Nähe. Und sie sollte ihn nur sehen und wusste was in ihm vorging? Warum war er nicht so? War er denn so blind? Er sah sie doch auch, fühlte sie doch. Warum nur überschritt er sie dann, diese Grenze? Er wollte es doch gar nicht. Ihn kränken, ihn verletzen, all das wollte er doch gar nicht! Alles was er wollte... Er kappte den Gedanken sofort. Er wollte nicht darüber nachdenken. Vielleicht hatte es ihm früher einmal Stärke verliehen, aber in einer Situation wie dieser, da sie einander ferner schienen als je zuvor, tat es einfach nur weh. Aber er konnte einfach nicht damit aufhören. Er konnte nicht aufhören zu hoffen, konnte nicht aufhören sich nach ihm zu sehnen. Dieses Gefühl war unauslöschlich. Traurig und mutlos schüttelte er den Kopf. Es wäre wieder einmal an der Zeit gewesen, auf die Erde hinabzusteigen und die Menschen mit seiner Anwesenheit zu beehren. Doch Amor verspürte nicht die geringste Lust dazu. Sollten sie doch von allein zueinander finden. Auf seine Unterstützung jedenfalls, würden sie wohl eine Weile verzichten müssen.

Amor und Petrus

-Teil I: Searching-
 

„Amor!“

Der Gott der Liebe blickte auf. Die Stimme desjenigen, der da gerufen hatte, sagte ihm nichts und das Gesicht half ihm auch nicht wesentlich weiter. Eine blasse Erinnerung keimte in ihm auf. Aber es dauerte eine Weile bis er tatsächlich zu wissen glaubte, wen er da vor sich hatte. Die griechischen Götter hatten einfach zu viele ihrer Helden in den Götterstand erhoben. Wenn er sich nicht irrte musste der, der da auf ihn zugelaufen kam, Theseus sein. Das war ungewöhnlich. Soweit Amor sich erinnerte waren sie einander nur höchst selten begegnet und miteinander gesprochen hatten sie – abgesehen von gelegentlichem respektvollen Grüßen – eigentlich auch nicht. Was also mochte er, was also konnte er jetzt von ihm wollen? Als er schließlich vor ihm stand, holte er erst ein paar Mal tief Luft – er war ganz offensichtlich außer Atem. „Endlich habe ich dich gefunden!“

Es schien wichtig zu sein. „Sag, hast du Petrus irgendwo gesehen?“

Tiefschlag. Glücklicher Weise hatte er lange genug Zeit gehabt, um mit sich und der Situation zumindest einigermaßen ins Reine zu kommen. Es störte ihn nicht, oder vielmehr nicht mehr, darauf angesprochen zu werden. Allerdings verstand er mit jedem Mal besser, weshalb der Wetterpatron die anderen Götter mied. Ihre Unsensibilität konnte einen wirklich in den Wahnsinn treiben. In jedem Fall aber verursachte sie unnötiges Leid. „Nein, tut mir leid“, antwortete er ehrlich und schien den Anderen damit ebenso ehrlich zu entmutigen. Und offenbar noch mehr als das zu schockieren. „Warum fragst du?“, erkundigte sich der junge Gott und beinahe augenblicklich fand der Held seine Sprache wieder. „Petrus ist fort. Wir haben ihn schon überall gesucht, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt.“

Amor war ehrlich verblüfft. Er und der Wetterpatron hatten schon seit Wochen nicht mehr miteinander gesprochen, aber von seinem Verschwinden hatte er nichts gewusst. „Wie lange ist er denn schon fort?“

„Etwa eine Woche. Zumindest hat ihn seitdem niemand mehr gesehen. Du bist sonst immer mit ihm zusammen, daher hatten wir gehofft...“

Wir. Damit war dann wohl die ganze Sippschaft der Götter gemeint. Dass sie sich an ihn gewandt hatten, machte ihn ein klein wenig glücklich. Ließ Wärme in ihm aufsteigen, wie sie es immer tat, wenn das Gespräch auf die Beziehung zwischen Petrus und ihm kam. Doch zugleich drohte es ihn in einen schier bodenlosen Abgrund zu stürzen. Denn nichts hätte ihre Distanz deutlicher machen, sie trefflicher anzeigen können als die Tatsache, dass er nicht wusste, wo sich der Wetterpatron aufhielt. Hilflosigkeit und Trauer drohten erneut seine Seele zu überwältigen und mit ihnen kamen Trotz und Wut. Was wollten diese Egomanen denn nun schon wieder von dem Witterungsbeauftragten? „Gibt es denn irgendein Problem?“, erkundigte er sich höflich, während er den Zorn in seinem Inneren zu besänftigen suchte. Theseus zögerte, als müsse er über die Antwort erst nachdenken, dann schüttelte er den Kopf. „Soweit ich weiß nicht.“

Amor lächelte und zog mit einem Ausdruck zwischen Mitleid und Zweifel eine Braue hoch. „Dann wollen sie ihn also wiederhaben, weil sie sich langweilen?“

Der Held wusste offensichtlich worauf er hinauswollte, war aber viel zu sehr damit beschäftigt rot zu werden. Innerlich seufzte der Liebesgott. Es war ja durchaus schmeichelhaft, eine solche Wirkung auf andere ausüben zu können und er war froh diese Fähigkeit noch immer zu besitzen. Nur hätte er sich gewünscht, dass sie, vor allen anderen, auch bei Petrus eine ähnliche Reaktion ausgelöst hätte. So schön es war, dass sie – zumindest verhältnismäßig – unbefangen miteinander umgehen konnten, so war es doch kein Ersatz für das, was der junge Gott sich wirklich wünschte. „Nun ja“, Theseus war offensichtlich bemüht die Sache aufzuklären beziehungsweise richtig zu stellen. „Es gibt zwar noch eine ganze Reihe anderer Geister und Götter der Naturgewalten, aber wie du weißt sind sie nicht gerade...zuverlässig.“

Amor schwankte zwischen einem Kichern und einem wissenden Seufzen. In jedem Falle musste er den Anderen beglückwünschen. Er hatte das noch sehr freundlich ausgedrückt. Im Gegensatz zu den meisten Himmelsbewohnern schien er tatsächlich zumindest einen Anflug dessen zu besitzen, was man als diplomatisches Geschick hätte beschreiben können. Allerdings schien er ihn damit in Erklärungsnöte, zumindest aber in Verlegenheit gebracht zu haben. Und das hatte er wirklich nicht gewollt. „Noch verhalten sie sich ruhig und solange Hermes andere Interessen verfolgt und sich die nordischen Götter gegen ein Kräftemessen entscheiden, besteht auch keine unmittelbare Gefahr, aber...“

„Aber sie wollen ihn trotzdem zurückhaben.“

Der Held nickte. Amor seufzte. Sie wussten es also. Wussten, dass die anderen Götter Petrus nicht zu ersetzen vermochten, genauso wie sie wussten, dass sie ihn andauernd bei seiner Arbeit störten. Und trotz alledem lag ihnen nichts ferner als ihm zu helfen. Wirklich, in solchen Momenten schämte er sich direkt einer von ihnen zu sein. Sie waren wirklich ein ganz reizendes Völkchen! Wenn er sich richtig erinnerte nannten die Menschen so etwas Kotzbrocken. Ein wirklich faszinierender Zweig der Evolution. Ein bisschen vulgär vielleicht, in manchen Dingen einfach unbelehrbar und mit eindeutig zerstörerischen, auch selbstzerstörerischen Tendenzen, aber im Allgemeinen ganz hübsch anzusehen. Er konnte nicht leugnen, dass er eine gewisse Schwäche für die Sterblichen hatte. Aber darum ging es jetzt nicht. „Ich weiß wirklich nicht wo er ist, aber wenn ihr den Himmel bereits abgesucht habt, dann gibt es nicht mehr so viele Möglichkeiten wo er sich aufhalten kann und ich bezweifle, dass es ihn in die Unterwelt verschlagen hat. Er ist kein Gott wie du weißt und davon einmal abgesehen, schien er mir nie übermäßiges Interesse an ihren Bewohnern gehabt zu haben.“

Wie auch an mir, dachte er niedergeschlagen, vermied jedoch es auszusprechen. Tatsächlich konnte man nicht wirklich sicher sein. Anders als den meisten der Himmelsbewohner fehlte Petrus das, was man – Amor war der Begriff stets aufs neue peinlich – eine göttliche Aura nannte. Sie ermöglichte es, sofern sie nicht absichtlich unterdrückt wurde, jeden einzelnen Gott, wo auch immer er sich gerade aufhalten mochte, ausfindig zu machen. Da dies bei Petrus nicht der Fall war, fiel es bei ihm deutlich schwerer. Das war auch einer der Gründe dafür, warum er des Öfteren übersehen wurde. Sie diente für gewöhnlich als Orientierung und da er sie nicht besaß, ging diese Funktion bei ihm unweigerlich verloren. Übersetzt hieß das: Um ihn zu finden, musste man ihn schon finden wollen. Ein halbherziger Versuch brachte einen nur unwesentlich weiter. „Du meinst also, er ist auf der Erde?“

Amor schenkte ihm, fast gewohnheitsmäßig, ein umwerfendes Lächeln. „Ich kann mir nicht vorstellen wo er sonst sein könnte.“

Trotz dieser eigentlich positiven Nachricht schien Theseus nicht wirklich glücklich zu sein. Irgendetwas beschäftigte ihn. „Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?“, fragte der Liebesgott freundlich, ahnte er doch schon, was nun folgen würde. Doch der Held tat sich schwer damit es auszusprechen. Er zögerte und es kostete ihn sichtlich Überwindung ihm die Sache näher zu erläutern. „Sag, Amor, könntest du nicht... würdest du vielleicht...“

Er war der Gott der Liebe. Wie hätte er also die Qualen eines Anderen übersehen können? „Ich soll auf der Erde nach ihm suchen, nicht wahr?, fragte er sanft und nach einem kurzen Moment der Überraschung nickte Theseus. Amor seufzte. Sie hätten es genauso gut selbst tun können. Aber wozu, wenn man seine Leute, wenn man Laufburschen zu seiner Verfügung hatte. „Ist in Ordnung. Ich werde mich darum kümmern.“
 

Während er durch die menschenüberfüllten Straßen ging, erinnerte er sich an das Gespräch mit Theseus. Das war jetzt eine knappe Woche her und in dieser Zeit hatte er feststellen müssen, dass es reine Glückssache war, ob er Petrus nun fand oder nicht. Europa. Das war sein Anhaltspunkt. In Relation zu Himmels-, Erden- und Totenreich war das durchaus nicht schlecht, aber genau betrachtet war Europa eben doch recht umfangreich. Besonders wenn man jemanden suchte, der offensichtlich nicht gefunden werden wollte. Ein paar Mal hatte er seine Präsenz gespürt, war das, woran er ihn erkannte, wie ein Nebelhauch an ihm vorübergezogen und in der Menge verschwunden. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen wo er sich befand. Und wenn er es schon von sich selbst nicht sagen konnte, wie wollte er dann einen Verschollenen finden? Aber so war es nun einmal. Mochten die Menschen auch noch so stolz auf ihre Ländervereinigungspolitik sein, genauer betrachtet war es eine Katastrophe. Von oben, von sehr weit oben betrachtet, waren die Kontinente noch immer hoffnungslos zerstückelt. Es war direkt brutal. Und schrecklich unübersichtlich. Denn leider waren, anders als auf den modellhaften Globen, eben keine Namen aufgedruckt und wenn man in Eile darüber hinweg flog und Kollisionen mit Flugzeugen und zudem das ständige mit sich Tragen einer Karte vermeiden wollte, dann konnte es schon mal vorkommen, dass man das eine oder andere Ortsschild übersah. Wenn er raten sollte: Er befand sich wohl irgendwo zwischen Deutschland und Russland. Jedenfalls war es kalt und regnerisch. Als Gott spürte er die Kälte kaum, zog aber instinktiv den schwarzen Mantel mit dem weichen Fellbesatz enger um sich. Er fiel unweigerlich auf. Aber anders als Zeus konnte er nicht beliebig die Gestalt wechseln. Eine Friedenstaube wäre wohl, zumindest theoretisch möglich gewesen, aber das wäre wohl nur eine unwesentliche Verbesserung gewesen. Es war Ende November, nein eher schon Dezember, doch die Weihnachtsstimmung der Menschen wurde durch den düsteren, wolkenverhangenen Himmel ganz unverkennbar getrübt. So wie das Grollen des Himmels war auch das Sprechen der Menschen nur als unterschwelliges Gemurmel zu vernehmen. Viele waren in Cafés und Kaufhäuser ausgewichen, dennoch waren die Gehwege reich bevölkert. Man sah einander kaum an. Die Köpfe gesenkt, die Schultern hochgezogen, eilten, drängelten und schubsten sie die Straße entlang, verschwanden in Häusereingängen und traten wenig später wieder hervor. Er fiel auf und nicht alle Blicke waren freundlicher Natur. Er kannte sie gut, diese Blicke. Er verabscheute sie nicht, wie hätte er, aber sie schmerzten ihn. Blicke die nur das sahen, was sie sehen wollten. Einen, ihren eigenen Gedanken, wenigstens aber denen ihrer Vorfahren entsprungenen, vollendeten Körper. Ein Blick der so oberflächlich war, dass er auch einer Hure hätte gewidmet sein können. Und so fühlte er sich auch, wenn sie ihn so ansahen. Ein anderes Gefühl schlich sich ganz plötzlich in sein Bewusstsein. Seine Füße stellten das Laufen ein, noch bevor sein Geist begriff weshalb das so war und noch bevor seine Augen ihm sagten, was sie da sahen. Petrus. Kaum fünf Meter von ihm entfernt, die gebeugte Menge in seiner aufrechten Haltung um fast einen Kopf überragend. Es schien, als teile sich die Menge vor ihm und gab so den Blick auf ihn frei. Und jetzt, inmitten dieser Menschen, Menschen, die ihm so ähnlich waren, denen er so ähnlich war, wurde sie unweigerlich sichtbar. Gerade weil er sich in nichts von ihnen zu unterscheiden schien, wurde sie nur umso deutlicher. Seine Aura. Keiner der lächerlichen Menschen die ihn umgaben besaß auch nur annähernd etwas Vergleichbares. Ein sanftes Leuchten, das unweigerlich das Herz desjenigen rührte, der seiner gewahr wurde. Amor spürte ein unglaubliches Glücksgefühl in sich aufsteigen. Doch sein Lächeln blieb unerwidert. Der Wetterpatron lächelte nicht. Noch bevor er ausdruckslos wirkte war sein Blick von Unwillen, möglicher Weise sogar Wut gezeichnet. Ein Blick der nicht nur sein Äußeres, die Oberfläche seiner selbst bedachte. Ein Blick, als wolle er seine Seele erdolchen. Kaum, dass der Glanz des Wiedererkennens in seine Augen trat. Er wusste es wohl, doch schien es ihn nicht zu berühren. Genausogut hätte er ein lästiges Insekt vor sich haben können. Doch noch setzten Schmerz und Trauer ob dieser Degradierung nicht ein. Noch war es nicht wichtig, war nur eine Sache entscheidend: Er hatte Petrus gefunden.
 

- Teil II: Streit -
 

Er hätte ihn wiedererkannt. Ganz gleich was er trug, ganz gleich wie er sein Äußeres verändert hatte. Das Schwarz seiner Haare war feurigem Rot gewichen, das ursprüngliche Blau seiner Augen hatte sich in sprühendes Gold verwandelt. Und ganz gleich wie er sich fühlte, welcher Stimmung er war und wie sehr er ihm auch zürnen mochte. Sein Verstand mochte es leugnen, sein Körper konnte und wollte es nicht tun. Er war unüberhörbar, der Takt seines Herzens, sein kräftiger Klang, als es ihm, dem jungen Gott, entgegen schlug. Er hätte es sich herausreißen mögen, doch fürchtete er er täte es nur, um es ihm ganz und gar zu überlassen. Er mochte sich dagegen wehren so viel er wollte, es gehörte nicht mehr nur ihm selbst. Es lag nicht länger in seiner Macht es zu verschenken. Denn längst schon war es ihm gestohlen worden. Doch blieb die Frage, was der unwissende kleine Götterknabe damit anzufangen gedachte.

Mit jeder Sekunde die sie einander ansahen, sich länger gegenüber standen, sank Amors Mut und wich das Lächeln von seinem Gesicht. Nicht ein Anflug von Freude fand sich auf den Zügen des Wetterpatrons – im Gegenteil. Es hatte zu regnen begonnen. Langsam ließ der junge Gott zuerst den Blick und schließlich den Kopf sinken. Er hatte sie durchaus bemerkt, die Frau an seiner Seite. Blicke wie den ihren kannte er gut – nur allzu gut. Das Herz wurde ihm schwer. War Petrus deshalb fortgegangen? Ein Mann mittleren Alters prallte gegen ihn und Amor strauchelte. Plötzlich stand ein Mensch vor ihm, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Als Gott besaß er sowohl die Fähigkeit alle Sprachen zu verstehen, wie auch sie zu sprechen. Dennoch war nicht ganz eindeutig, was der Unbekannte von ihm wollte. Modell, Schauspieler, Karriere. Ein Filmemacher? Ein Produzent? Der Blick des Liebesgottes huschte auf der Suche nach dem Wetterpatron über die Menge. Offenbar hatte er den eifrig auf ihn einredenden Mann damit verletzt, denn dieser packte ihn plötzlich grob bei den Schultern und versuchte seine Blicke durch den seinen zu fesseln. Für einen Moment hob der Fremde den Kopf – und erstarrte. Gerade wollte er sich nach dem Anlass dafür umsehen, als er grob am Arm gepackt und zurückgezogen wurde. Als er aufblickte, sah er in die flammenden Augen des Witterungsbeauftragten. Der seltsame Mann nahm, sobald er wieder bewegungsfähig war, schleunigst reißaus. Doch Amor hatte keine Zeit sich über die Hilfe des Anderen zu wundern oder gar dafür zu bedanken. Ganz offensichtlich wütend zerrte er ihn hinter sich her. „Was zum Teufel tust du hier?“, herrschte er ihn an, jedoch ohne sich die Mühe zu machen sich ihm zuzuwenden. Er musste die Tränen zurückhalten. Es tat ihm weh, ER tat ihm weh. Was hatte er denn getan? Was glaubte er denn wer er war? Er legte ja sonst keinen Wert darauf, aber immerhin war er ein Gott! Und das war etwas, was Petrus beim besten Willen nicht von sich behaupten konnte. Er war so wütend. „Du tust mir weh!“, schrie er ihn an und riss sich im selben Moment los. Zornig blitzte er ihn an und für einen Moment schien der Wetterpatron tatsächlich überrascht. Doch sein Temperament ließ eine solche Niederlage nicht zu. Sein Gesicht verdüsterte sich zusehends und ein fast schon höhnischer Ausdruck legte sich auf seine Züge. „Die Götter haben dich hierher geschickt, was? Das ist so typisch für euch. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass sie so schnell Sehnsucht nach mir haben würden.“
 

Amor erkannte ihn nicht wieder. Was war nur los mit ihm? Was war mit ihm geschehen? Es konnte hier doch unmöglich noch um die Sache mit Dionysos gehen! Nicht in diesem Ausmaße! Er wusste es nicht, aber eines stand fest. Friedfertig oder nicht, Gott der Liebe oder nicht, DAS musste er sich von einem einfachen Naturgeist nicht bieten lassen. Das musste er sich von niemandem bieten lassen. Weder wollte er auf diese Weise mit den anderen Göttern verglichen werden, noch dass Petrus sich, ob nun absichtlich oder nicht, über die tiefe Sehnsucht in seinem Herzen lustig machte. Er hatte nicht schlecht Lust dazu, diesem nimmermüden Eisklotz einmal ein wenig Feuer unterm Hintern zu machen und ihn ein wenig des Schmerzes fühlen zu lassen, den er zu ertragen hatte. Wütend funkelte er ihn an. „Ja, das haben sie. Oder glaubst du im Ernst, ich würde mich freiwillig auf die Suche nach jemandem begeben, der mich immerzu ignoriert? Mach dich nicht lächerlich!“
 

Er hatte ihn verärgert. Jetzt war er wütend. Natürlich war er das und selbst ein Blinder hätte das nicht übersehen können. Seine Worte schmerzten, aber er selbst war wunderschön. Ganz gleich wem er begegnet war und wem er noch begegnen würde, er war das schönste Wesen, das er jemals erblickt hatte. Er würde auf ewig das Maß aller Dinge bleiben. Woran dachte er jetzt? Dionysos? Ach ja, die Sache mit Dionysos. Ein kindischer kleiner Streit, den er weitergeführt und aus einer Laune heraus bis zur Unerträglichkeit ausgeweitet hatte. Warum eigentlich? Er mochte ihn und er hatte gewusst, dass es ihn verletzen würde. Und er hatte es in Kauf genommen. Sich sogar, wenn er ehrlich war, in gewisser Weise daran erfreut. An der Art wie er ihm nachlief. An der Art wie er unermüdlich versuchte ihm nahe zu kommen. Er, der von jedem geliebt wurde, der sein strahlendes Antlitz erblickte. Er, der jeden hätte haben können. Er, der sich für ein einfaches, gewöhnliches, profanes Wesen entschieden zu haben meinte. Sich für IHN entschieden hatte. Denn so war es doch. So blind, so ignorant war selbst er nicht, dass er es nicht bemerkte. Dass er es schwerlich glauben konnte stand auf einem anderen Blatt. Er wusste es. Also warum tat er das? Warum quälte er ihn auf diese Weise? Denn eine Qual war es – ohne Zweifel. Also warum? Warum diese vehemente Zurückweisung, die er, in umgekehrter Weise durch ihn erfahren, wohl niemals ertragen hätte. War es, weil er sie nicht wollte? Diese Gefühle nicht wollte, die immerzu in ihm aufkamen, wenn der Andere nur irgendwo in seiner Nähe auftauchte? Es stimmte, er wollte sie nicht, aber mit welchem Recht, welchem himmlischen, irdischen oder dämonischen Recht ließ er den jungen Gott dafür büßen? Gerade jetzt wurde es wieder stärker. Das Gefühl, das Verlangen. Seine Skrupel mochten andere sein als die der Menschen, aber er hatte sie. Und er hatte geglaubt, dass sie ewig bleiben würden, um ihn vor unbedachtem Handeln zu bewahren. Aber so war es nicht. Sie wurden schwächer, mit jeder Sekunde die sie miteinander verbrachten, mit jedem Moment den sie miteinander teilten, schwanden sie mehr und mehr dahin. Und davor fürchtete er sich. Davor, die Kontrolle zu verlieren und Dinge zu tun, die er nie zuvor getan hatte und die er im Nachhinein sicher bereuen würde. Denn er würde sie doch bereuen? Er war nicht sicher – und das machte es nur noch schlimmer. Dionysos war doch bloß ein Vorwand. Er wusste es selbst. Ein unvorhergesehenes Ereignis, das er für seine Zwecke hatte nutzen können. Aber das konnte Amor natürlich nicht wissen und deshalb auch nicht verstehen. Natürlich war seine Reaktion übertrieben, natürlich war sie ganz und gar unangemessen, aber genau darum ging es ja! Hätte er es erkannt, es wäre vollkommen nutzlos gewesen. All die schmerzhaften Augenblicke hätten ihr Ziel verfehlt, ihren Sinn verloren. Amor war ein kluges Kerlchen, aber auch er konnte unmöglich alles durchschauen. Weil er so gemacht worden war. Die meisten Götter hatten beinahe so viele Intrigen und Affären wie Jahre auf dem Buckel und sahen keinerlei Veranlassung dazu, sich deshalb in irgendeiner Weise schlecht zu fühlen. Im Gegenteil. Der Liebesgott war ganz anders geartet. Nicht, dass er nicht grundsätzlich dazu in der Lage gewesen wäre intrigant und verführend tätig zu werden, aber es entsprach einfach nicht seinem Naturell. So gesehen war er – um die Bezeichnung in den Gesetzbüchern der Menschen zu bemühen – kein eigen- sondern ein fremdnütziger Gott. Natürlich bedeutete Fremdnutzen immer auch Eigennutz, war er doch mit ihm verbunden, doch war der junge Mann zu rein, zu unschuldig in seiner Art, als dass man das hätte glauben können. Rein, unschuldig und von großer Sanftheit. Aber jetzt war er wütend. Jetzt funkelten seine sonst so freundlichen Augen ihn zornig an. Er hätte nicht herkommen sollen. Er hätte es einfach dabei belassen, es auf sich beruhen lassen sollen. Es wäre wieder besser geworden, er hätte sich wieder unter Kontrolle bekommen und alles wäre gut geworden Aber nun war er hier. Stand hier vor ihm und funkelte ihn zornig an. Theoretisch hätte er alles tun, auf vielerlei Arten reagieren können. In Wahrheit vermochte er sich kaum zwischen den zwei einfachsten Optionen zu entscheiden: Fight or Flight. Und obwohl der Gedanke schmerzte, schon allein die Tatsache, dass er ihn überhaupt erst traurig gemacht hatte, wünschte er sich, sie wären sich gar nicht begegnet. Nicht hier, nicht jetzt. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, sie wären sich nie begegnet. Aber das wollte er nicht glauben. Und es war, schon angesichts ihrer gemeinsamen Lebenswelt, auch völlig undenkbar. Aber das war nicht der Punkt, der jetzt von Belang war. Jetzt ging es um sehr viel weltlichere Aspekte.
 

Sein Gesicht blieb vollkommen unbewegt. Unmöglich zu sagen was er dachte. Aber als er wieder sprach war seine Stimme genauso ausdruckslos wie zuvor. „Steig ein.“

Er deutete auf den schwarzen Mittelklassewagen neben ihnen. Ein schönes Auto und sicherlich weitaus angenehmer als hier im Regen zu stehen, doch Amor war nicht in der Stimmung für derlei Dinge. „Nein“, erwiderte er klar und deutlich und alles andere als sanft oder gar freundlich. Er sah tatsächlich nicht den geringsten Anlass, der Aufforderung des Andere Folge zu leisten. Wieder zeichnete sich auf dem Gesicht des Wetterpatrons eine milde Überraschung ab, diesmal jedoch weitaus schwächer als das erste Mal. Willkommen in Krabbenhausen. Bitte ziehen sie sich jetzt in Schale, ihren Panzer oder was sie sonst so mit sich tragen zurück. Herzlichen Dank. Wir freuen uns darauf, sie im nächsten Frühjahr wieder begrüßen zu dürfen. Er brach den Gedanken ab bevor er gänzlich idiotisch wurde und begnügte sich damit, sein Gegenüber feindselig anzufunkeln. Er hatte es so satt. Petrus erweckte auch nicht gerade den Eindruck, als fände er das Ganze amüsant, aber Amor sah nicht ein, weshalb immer er derjenige sein sollte, der die Harmonie zwischen ihnen wieder herstellte. Jetzt nicht mehr. Wenn der Andere diesen idiotischen Zickenterror haben wollte, dann sollte er ihn haben. Amor, Gott der Liebe, stets zu Diensten. Auch wenn man es ihm nicht ansah und er es für gewöhnlich nach Kräften vermied – er beherrschte dieses Spiel genauso gut. Hätte man nach einem Vergleich für die Veränderung auf dem Gesicht des Wetterpatrons gesucht – und für solch einen Vergleich lag angesichts seiner Aufgabe immer der Himmel nahe – so hätte man sagen können, es zogen dunkle Wolken auf. Interessanter Weise taten sie das in der Realität auch. Der Regen wurde stärker. „Weißt du, was das gerade war?“

Er vermutete es. Was genau meinst du, lag ihm auf der Zunge, doch er schluckte es hinunter. Die Wassertropfen verfingen sich in den Strähnen seines roten Haares und allmählich drang die Feuchtigkeit durch seine Kleider. Unbedeutend. Von so etwas wurden Götter nicht krank und es brauchte nicht mehr als einen Gedanken um sie, falls der ungewöhnliche Fall wider Erwarten und wider besseren Wissens doch einmal eintrat, wieder davon zu befreien. Was das anging, waren er und Petrus gleichberechtigt. Zwar bestand bei ihm als Nicht-Gott zumindest theoretisch die Möglichkeit dazu, aber wenn, dann lag es ganz sicher nicht am Wetter. Er beherrschte es, nicht umgekehrt. Götter wurden nicht krank. Sie zogen es vor einander zu vergiften. ...Im günstigsten Fall. „Ein Produzent?“, fragte er und zuckte die Schultern. Er glaubte es selbst nicht, aber der Andere würde es ihm ohnehin gleich sagen. „Das war ein Zuhälter.“

Das überraschte Amor nun doch ein wenig. Äußerlich dokumentierte er es durch erstauntes Heben der Augenbrauen. Petrus dagegen sah aus, als würde er gleich explodieren. Interessanter Anblick. „Hast du eine Ahnung, was das hier für eine Gegend ist? Was zum Teufel tust du hier?!“

Der Götterknabe zeigte sich unbeeindruckt – eher verärgert. „Und selbst? Was genau, mein lieber Petrus, verschlägt DICH denn in eine solche Gegend?“

Einen Moment lang starrte er ihn an, begriff dann offensichtlich und das Zucken seiner Finger zeigte überdeutlich an, dass er tatsächlich mit dem Gedanken spielte Hand an ihn zu legen. Er rang sichtlich mit sich. Menschenmassen strömten an ihnen vorbei. Man schenkte ihnen bereits eine gewisse Aufmerksamkeit, was dem Wetterpatron offenbar missfiel. Amor war es gleichgültig. Was kümmerten ihn die Blicke anderer, wenn ER vor ihm stand. Das unterschied sie. Ganz gleich wie sehr er auch das Gegenteil beteuern mochte, zog es der Wetterpatron doch vor, die Dinge im Verborgenen zu klären. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit sozusagen. Jetzt zeigte er wieder diesen herablassenden Blick, der so verletzend wirkte. Wie konnte er es wagen, wie konnte er es wagen eine Gott so anzusehen?! „Nachdem das geklärt wäre, würdest du jetzt die Freundlichkeit besitzen einzusteigen?“

Geklärt? Geklärt?! Was hatten sie denn geklärt? Nichts! Rein gar nichts! Außer vielleicht, dass sie einander gerade am liebsten gelyncht hätten. Und auf die Herausstellung dieses Aspekts hätte er wahrlich mit Freude verzichtet.
 

Er rührte sich nicht. Sein Gesicht, seine Körperhaltung, einfach alles an ihm drückte Ablehnung aus. Das war es nicht, was er gewollt hatte. Wirklich nicht. All die Jahre, all die Jahrhunderte die sie sich kannten, hatten sie nie eine Auseinandersetzung gehabt, waren nie von Wut oder Enttäuschung geleitete klärende Gespräche vonnöten gewesen. Warum jetzt? Warum entwickelte sich eine unangenehme, weil peinliche Kleinigkeit, auf eine solche Weise zu einem Streit? Es war so lächerlich, so kindisch! Amor mochte der Ursprung, der Auslöser des Ganzen gewesen sein, aber das Problem, der eigentlich Schuldige war er selbst. Er hatte damit begonnen. Er hatte dieses traurige Spiel inszeniert – ob nun willentlich oder nicht – und er hatte es übertrieben, war schon jetzt viel zu weit gegangen. Und wie sollte Amor, der junge, strahlend schöne Gott, verstehen, wovon er selbst sich einen Begriff zu machen nicht in der Lage war. Warum er so wütend war? Die Götter hatten ihn geschickt! Ach wäre er doch um seiner selbst willen hierher gekommen! Von ihnen wollte er nichts wissen! Sie sollten ihn einfach zufrieden lassen. Aber er... Und dann hierher zu kommen. Es war keine gefährliche Gegend. Tendenzen zu Merkwürdigkeiten und Perversion gab es überall auf der Welt, aber er war einfach zu schön. Eine Augenweide, ein Antlitz, dessen strahlender Glanz vom menschlichen Verstand kaum erfasst zu werden vermochte. Wahrlich, ein Gott unter den Göttern, hätten sie gesagt. Doch wenn sie ihm auch ähnlicher waren als die Götter, wenn sie ihn auch amüsierten, ärgerten und er sie mochte und schätzte, IHN würde er nicht mit ihnen teilen. Deshalb sollte er fort von hier. Nur deshalb sollte er in den Wagen steigen. Er wollte ihn wegbringen. Fort von hier. Fort von den gierigen Blicken der Menschen. Besonders jenen, in denen schon jetzt das Verlangen glomm, das er selbst so sehr zu verbergen, so sehr zu unterdrücken suchte. Er liebte ihn. Er wollte ihn nicht teilen. Er wollte ihn schützen. Vor allem was ihn beflecken, ihm gefährlich werden konnte. Und das bedeutete auch, ihn vor ihm, Petrus, zu schützen. Wie aber sollte, wie konnte er es ihm begreiflich machen? Welche Sprache musste er sprechen, damit er es verstand?
 

Amor erschrak über die plötzliche Änderung im Verhalten des Wetterpatrons, deren Heftigkeit ihm jegliche Möglichkeit zur Gegenwehr nahm. Eben noch kalt und wütend, zeigten seine Gesichtszüge mit einem Mal eine solche Verzweiflung und solchen Schmerz, dass sich dieser Eindruck wie ein Dolch in sein Herz bohrte. Flüchtig, nur einen Moment, dann tat Petrus etwas, das er in all der Zeit die sie einander kannten nie getan hatte. Er umarmte ihn. Nie. Niemals zuvor hatte er etwas derartiges getan. Und Amor? Er fühlte ein solches vermeintlich trügerisches Glücksgefühl in sich aufsteigen, dass es ihm Angst machte. Die Stimme, mit der er ihn noch einmal um diese simple Sache, das bloße Einsteigen in den Wagen, bat, klang so verzweifelt, als hinge ihr beider Leben davon ab. Wie hätte er ablehnen können? Wie hätte er die flehentliche Bitte des Geliebten zurückweisen können? Hätte der Jüngere seine Arme nicht mitsamt seinem Leib umfangen, er hätte ihm geantwortet – ihn ebenso umarmt. Doch ob nun absichtlich herbeigeführt oder nicht, ließ es die Situation, ließ die Haltung des Anderen eine solche zärtliche Erwiderung nicht zu. Wäre er konsequent gewesen, er hätte ihn zurückweisen müssen. Ihm ganz deutlich sagen müssen, dass er derlei Aufdringlichkeit nicht wünsche und dass es doch ganz offensichtlich andere Dinge gab, die zu bereden weitaus höhere Priorität hatte. Aber wie hätte er das tun können? Seinen innersten Wunsch, sein ganzes übermächtiges Gefühl für ihn verleugnen? Das hatte er nie getan, auch nie gewollt und nun, da sich ihm die Möglichkeit bot diesen dummen Streit zu beenden, sollte er die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen?
 

- Teil III: Gedanken -
 

Petrus hatte ihm galant die Autotür geöffnet, es jedoch vermieden ihm beim Einsteigen behilflich zu sein. Er hatte seinen durchnässten Mantel auf den Rücksitz geworfen und dann ebenfalls in dem Wagen Platz genommen. Er war angespannt, das war nicht zu übersehen. Doch obwohl er sich so abweisend verhielt und seine eigene Wut keineswegs verflogen war, konnte Amor nicht umhin festzustellen, dass dem Wetterpatron das Jackett unglaublich gut stand. Seriös und attraktiv. Das Herz des jungen Gottes schlug ein wenig schneller, doch als ihm der Gedanke kam, dass andere, vor allem die Menschen, auch so empfinden könnten, war es der Schmerz, der ihm die Brust zusammenschnürte. Sie sollten ihn nicht so ansehen. Niemals. Nicht sie. Nicht jene, die ihn immerzu verfluchten, nicht mehr als ungehaltene Beschwerden für ihn übrig hatten. Nicht sie. Und wenn er ehrlich war auch niemand anderes. Er wusste, dass das dumm war. Dumm und egoistisch. Natürlich wusste er es, aber er konnte einfach nicht anders. Und er wollte es auch nicht. So vielen Menschen hatte er über die Jahrhunderte hinweg die Liebe geschenkt, ihre Herzen geöffnet, sie die Freuden der Zweisamkeit und so vieles mehr gelehrt und erfahren lassen. Durfte er da nicht, dieses eine Mal nur, ein klein wenig egoistisch sein? Er liebte ihn. So sehr, dass es über seinen Verstand ging, er sich töricht und kindisch benahm. Nie zuvor hatte er so empfunden. Eine kleine, gelegentlich auch mittelschwere Verliebtheit vielleicht – Psyche war das beste Beispiel dafür –, aber niemals so intensiv. Es war so furchtbar, so unsagbar quälend von ihm getrennt zu sein. Das allein vermochte er schon kaum zu ertragen. Wie sollte er es also aushalten können, dass er ihn mied, ihn tadelte, ihn gar hasste?! Natürlich, alles war besser als von jenem, dem er mit Leib und Seele und von ganzem Herzen zugetan war, vollkommen ignoriert zu werden. Aber Hass? Betrog er sich nicht selbst, wenn er vorgab es sei ihm gleichgültig, solange er ihm nur das Gefühl gab wahrgenommen zu werden? Langsam quälte sich der Wagen durch die Straßen der Innenstadt. Gott hin oder her, aus dem Würgegriff des Feierabendverkehrs gab es kein Entkommen. Unablässig klopfte der Regen an die Fensterscheiben, während das Gefährt im Schneckentempo dahinkroch. Tief in Gedanken versunken betrachtete Amor die verschwommenen Silhouetten der Passanten. Von Nahem wirkten sie ganz und gar nicht wie Ameisen. Eher wie eine Ansammlung lebendiger, Fleisch gewordener Einbahnstraßen. Jeder für sich, jeder allein. Keine Geste, nicht einmal ein Blick den sie füreinander übrig hatten. Ob er sie zu lange vernachlässigt hatte? Weihnachten stand vor der Tür und gerade jetzt wäre es vielmehr Zeit für ein paar Überstunden im Bogenschießen gewesen. Aber ihm war nicht danach. Ganz und gar nicht. Warum? Warum war es nur so schwierig? Warum musste er sich so abmühen, während die Menschen, wenn auch durch seine tatkräftige Unterstützung, mit Leichtigkeit zueinander fanden? Fast beneidete er sie. Für sie wurde es, vorausgesetzt sie wehrten sich nicht im Vorfeld schon heftig dagegen, erst nach Ablauf der Lebenszeit der Liebespfeile schwierig. Ihre Wirkung ließ im Laufe der Zeit nach und verschwand, je nach Person und Qualität, meist nach drei oder sieben Jahren. Danach entschieden sie tatsächlich selbst. Offenbar brauchten die Menschen diese Anlaufphase. In Anbetracht ihrer Lebenszeit ziemlich lange, überlegte er und die Tendenz sie zu beneiden schwand merklich. Aber letztlich hatten sie das Glück doch auf ihrer Seite. Denn sie hatten jemanden, der das unabdingbare Moment des sich Verliebens für sie übernahm. Verliebtheit, Höhenflüge, Glücksgefühle. All das gab er ihnen mit, setzte ihnen die rosarote Brille auf und ließ sie oft die glücklichste Zeit ihres Lebens genießen. Selbstverständlich war ihre Reaktion nicht immer eine Dankeshymne, schon gar nicht, wenn die Wirkung der Pfeile allmählich nachließ, aber... Für einen Moment schloss der junge Gott die Augen, dann richtete er seinen Blick auf Petrus. Nein es hatte keinen Zweck. Er hätte tausende Pfeile in sein Herz jagen können, es hätte doch nichts genutzt. Zu wissen, dass es nur ein Trugbild, nicht mehr als ein Zauber war, das allein hätte genügt denselben zunichte zu machen. Es wäre nichts anderes gewesen, hätte er ihm ein Messer an die Kehle gehalten und ihm befohlen ihn zu lieben. Nein, er konnte ihn nicht zwingen. Unmöglich. Entweder er liebte ihn von sich aus oder er tat es nicht. Er konnte sich nicht erinnern wann er es zuletzt gehabt hatte, das Gefühl weinen zu müssen. Niemand, der sich seinem Zauber zu widersetzen, sich der Kraft seiner Pfeile zu entziehen vermochte. Nicht ein einziger Mensch, ja nicht einmal ein Gott. Und ausgerechnet er, den er am meisten liebte, der ihm alles bedeutete, dessen Anwesenheit mehr und mehr zum Mittelpunkt seines Lebens geworden war, entzog sich ihm. Und ausgerechnet bei ihm, nur bei ihm, half ihm seine Fähigkeit, halfen ihm seine Kräfte nicht weiter, verlor die Macht seiner Pfeile jegliche Bedeutung. Wie traurig. Und wie erbärmlich, dass ein Gott sich gezwungen sah, von der Ironie des Schicksals zu sprechen. Nie zuvor hatte er sein Talent so sehr gebraucht und nie zuvor war es ihm derart nutzlos erschienen. Was aber sollte er, was konnte er denn tun, um das Herz des Naturgeistes zu erreichen? Ja, es war eine Lüge, nichts als Selbsttäuschung wenn er vorgab, dass alles besser sei, als von dem Witterungsbeauftragten ignoriert zu werden. Objektiv betrachtet mochte das vielleicht zutreffen, emotional jedoch war ihm das eine wie das andere unerträglich. Er liebte ihn. Nie war er sich dessen so sicher gewesen, doch je mehr sich diese Erkenntnis in seinem Bewusstsein festsetzte, umso mehr brannte sie sich in sein Herz und seine Seele. Und genauso fühlte es sich an. Er wollte ihn. Mehr als alles andere auf der Welt. Und er wollte von ihm geliebt werden. Und das machte es ihm schier unerträglich mit anzusehen, dass er ihn so gar nicht brauchte. „Wer war die Frau?“

Er musste an etwas anderes denken, sich ablenken. Irgendwie von diesen mehr und mehr in eine Teufelsspirale mündenden Gedanken loskommen. Dass er es tat indem er ausgerechnet diese Frage stellte, überraschte ihn selbst. Eigentlich hatte er gar nicht mehr an sie gedacht. Wie einfältig. Natürlich hatte er es nicht vergessen. Das Bild, die Szene die sich ihm bot und die seinen Liebsten mit einer Frau zeigte. Wie hätte es ihn unberührt lassen können? Wie sehr es ihn allerdings beschäftigt hatte, wurde ihm erst jetzt, da er die Frage tatsächlich gestellt hatte, wirklich bewusst. Petrus hatte es offenbar nicht eilig mit der Antwort. „Meine Sekretärin“, sagte er schließlich und schaltete bedächtig in den dritten Gang. Es ging jetzt schneller voran. Amor sah ihn einen Moment lang an – er saß da als habe er einen Besen verschluckt – dann wandte er den Blick und starrte zur Frontscheibe hinaus. Nicht, dass es dort etwas Besonderes gegeben hätte, aber er musste es einfach tun – irgendwohin starren. Eine Sekretärin. Nun gut, das musste nicht heißen, dass Petrus ihretwegen auf die Erde gekommen war, aber es bedeutete zumindest, dass er hier eine Stellung innehatte, die es ihm gestattete eine Sekretärin zu haben. Das wiederum bedeutete, dass er nicht ganz unbedeutend sein konnte, was gezwungener Maßen eine gewisse Auseinandersetzung mit der Materie nötig machte. Er hatte sich hier also eine Existenz aufgebaut, die gänzlich unabhängig von der Götterwelt war und zu der er nur deshalb Zutritt erhalten hatte, weil er sich ihm aufgedrängt hatte. Eine ganze Flut solcher und ähnlicher Gedanken überspülte sein Bewusstsein und schien jede andere geistige Regung lähmen zu wollen. Eine Sekretärin. SEINE Sekretärin. Er senkte den Blick, wodurch sein Starren, nun auf einen sehr viel näheren Punkt gerichtet, nur noch intensiver wurde. Ein Mensch hätte diesem Blick nicht lange stand gehalten. Vielleicht hätte er all seine Schandtaten gestanden, vielleicht wäre er gleich weinend zusammengebrochen. Aber da war kein Mensch. Nur ein Handschuhfach. Und es lag in der Natur der Sache, dass es nicht geständig war und keine emotionalen Ausbrüche hatte. Erst als der Wetterpatron neben ihm seufzte, kam Amor wieder zu sich. „Ich habe keine Ahnung wer sie war. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen. Sie hat sich nach dem Weg erkundigt.“

Der Liebesgott brauchte einen Moment bis er begriff und als er es tat, wusste er nicht ob er lachen oder weinen sollten. Er vermochte die Erleichterung die er empfand kaum in Worte zu fassen. Und gleichzeitig wurde ihm bewusst wie erbärmlich er war. Wenn es ihn so sehr traf, warum sagte er es ihm dann nicht einfach? Warum brachte er es nicht über sich es auszusprechen? Die Angst vor Zurückweisung. Ausgerechnet er, dem es nie an Selbstvertrauen gemangelt hatte, fürchtete sich. Ausgerechnet er, der Liebesgott höchstpersönlich, vermochte es nicht seine Gefühle auszudrücken. Über die Ironie des Ganzen hätte er lachen mögen, aber ihm war nicht danach. Viel eher war ihm nach Weinen zumute und sei es nur aus Erleichterung. Aber das verbot sich natürlich von selbst. Nicht vor Petrus. Vor jedem anderen, aber ganz sicher nicht vor ihm. Mittlerweile war der Verkehr vollständig zum Erliegen gekommen. Lange, quälende Minuten des Schweigens vergingen, dann sprach der Ältere das aus, was ihm schon von Beginn dieser Fahrt an auf der Seele gebrannt hatte. „Es tut mir leid.“

Er sagte es leise, aber klar und deutlich. Und zum ersten Mal seit er in dieses Auto gestiegen war, schenkte ihm Petrus wenigstens einen flüchtigen Seitenblick. „Was tut dir leid?“

Es klang nicht wirklich abweisend, aber es lag eine Kälte darin, die Amor schaudern ließ. „Das...was ich da vorhin gesagt habe.“

Für einen Moment schien es, als wolle sich der Witterungsbeauftragte danach erkundigen was er meinte, tat es dann aber doch nicht. Allmählich setzte sich die Autokolonne wieder in Bewegung. „Du musst dich nicht entschuldigen. Vielmehr wäre es an mir, dich um Verzeihung zu bitten.“

Ein wenig überrascht sah der Ältere auf, doch der Wetterpatron hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder der Straße zugewandt. Es war ein Anfang. Sie sprachen miteinander. Endlich sprachen sie wieder miteinander. Und es war kein Streitgespräch. Doch Amor wagte es nicht, sich an die leise Hoffnung, die sich vor ihm auftat, zu klammern. Allzu sachlich war die Art wie er gesprochen hatte. Als würde von ihm erwartet, dass er es sagte, als habe er es auswendig gelernt. Er hatte im Konjunktiv gesprochen. Oder vielleicht war es auch nicht der Konjunktiv sondern irgendetwas anderes, jedenfalls hatte er lediglich gesagt, dass es an ihm wäre sich zu entschuldigen. Aber das war nichts als eine Feststellung. Selbst wenn er es tatsächlich so meinte, hatte es keinerlei Bedeutung. Denn es war nur eine Feststellung. Eine ganz gewöhnliche Aussage. Es war alles – nur keine Entschuldigung. Die nächste Ampel zeigte Rot und Petrus stoppte den Wagen. Sein Blick blieb stur geradeaus gerichtet. „Und du kannst wirklich...richtig Auto fahren?“

Als Amor bemerkte, dass die Worte die er gewählt hatte weder sein Erstaunen noch seine Bewunderung ausdrückten, war es schon zu spät. Betont langsam legte Petrus den ersten Gang ein, setzte den Blinker und bog, unter aufmerksamer Beobachtung des Gegenverkehrs nach links ab. Der Gott der Liebe schrumpfte in seinem Sitz zusammen. Wirklich, er hätte es kaum schlimmer machen können indem er gesagt hätte er wolle aussteigen. Dabei war das ganz und gar nicht seine Absicht gewesen. Eher war das Gegenteil der Fall. Er hatte schon den Mund geöffnet um das Missverständnis aufzuklären, als der Jüngere sich vorbeugte und das Radio einschaltete. Ein gänzlich unbegabter Sänger jodelte etwas ins Mikrophon. Der nächste Sender. Irgendein Moderator berichtete theatralisch über die Schwangerschaft irgendeiner Popikone. Beinahe fühlte Amor sich angesprochen. Bei Schwangerschaften trug er schließlich immer eine gewisse Mitschuld. Ein weiterer Senderwechsel. Irgendein belangloses Gedudel. Nichtssagend, aber durchaus annehmbar. Dabei blieb es dann. Niedergeschlagen schloss der Rothaarige den Mund und wandte seine Aufmerksamkeit dem Seitenfenster zu. Deutlicher hätte er es kaum zeigen können. Welchen Sinn hatte es, wenn nicht den ihm zu zeigen, dass der Wetterpatron im Augenblick nicht das geringste Interesse an einer Unterhaltung mit ihm hatte. Wenn man es freundlich ausdrückte. Auch wenn er sich dagegen sträubte, es verletzte ihn. Dass dem Naturgeist der leidlich gute Gesang eines Menschen lieber war, als eine Unterredung mit dem Gott der Liebe verletzte ihn tief. Eine einzelne Träne glitt über seine Wange und verschmolz wenig später mit seiner Kleidung. Was hatte er getan? Was hatte er denn nur getan, dass er mit solch brutaler Abweisung gestraft wurde.
 

Petrus hielt den Schalthebel umklammert, als hinge ihr beider Überleben davon ab. Stur blickte er geradeaus, obwohl er nur zu gut wusste, dass die Straße die sie befuhren selbst unter diesen Bedingungen nur eines Bruchteils der Aufmerksamkeit bedurft hätte, die er ihr tatsächlich zuteil werden ließ. Am liebsten hätte er ins Lenkrad gebissen, nur um sich ein wenig abzureagieren. Als ob es nicht Folter genug gewesen wäre, dass dieses Wesen, dieser junge Gott, dessen Schönheit und Anmut alles andere in den Schatten stellte, ja jeglicher Beschreibung sich entzog, neben ihm saß, den Blick wieder und wieder auf ihn gerichtet. Das allein war im Grunde schon mehr als er ertragen konnte und jetzt saß er neben ihm und weinte stumm – tränenlos. Herrgott noch mal, was wollte er als nächstes tun? Sich nackt auf dem Rücksitz räkeln?! Tat er das absichtlich?! Nein, sicher nicht. Er konnte einfach nicht anders und wollte es wohl auch nicht. Es lag einfach in seiner Natur. Er dachte sich nichts dabei, er war einfach nur ehrlich. Auf regennasser Fahrbahn erhöhte er die Geschwindigkeit kurzzeitig um 10 km/h, nur um dem Drang zu widerstehen den Älteren an sich zu ziehen und ihn zu küssen. Gott bewahre, das konnte und das würde er nicht tun. Denn er wusste, er wäre dann nicht mehr in der Lage von ihm abzulassen. Undenkbar. Blieb die Frage, weshalb er ihn dann überhaupt mitnahm. Sicher, er hätte ihn unter keinen Umständen dort lassen wollen, aber jetzt, da sie sich auf dem Weg zu jenem Ort befanden, was wollte er da mit ihm anstellen? Was hatte er denn geglaubt mit ihm vorzuhaben? Er schob den Gedanken beiseite. Er hätte ihn gleich rausschmeißen sollen. Das hätte Amor eine Menge des Leides, das er nun in sich trug, erspart. Aber es war ihm nicht gelungen. Er hatte ihn nicht gehen lassen können. Er hatte GEWOLLT, dass er bei ihm war, bei ihm blieb. Ja, er selbst hatte sich diese Misere eingebrockt, dieses Unglück heraufbeschworen und den jungen Gott dabei auf eine Art und Weise gekränkt und verletzt, für die er in seinen Augen mehr als nur den Tod verdient hätte. Und Götter waren bei so etwas nicht zimperlich – im Gegenteil. Meist genügten schon weitaus geringere Vergehen – die ob ihrer Bedeutungslosigkeit häufig nicht einmal die Bezeichnung verdienten – um Strafen zu bewirken, die nicht selten jenseits aller vorstellbaren Grausamkeit lagen. Amor jedoch tat gar nichts. Es wäre sein gutes Recht gewesen, ihn für seine Dreistigkeit zu bestrafen und niemand, nicht einmal er selbst hätte daran Anstoß genommen. Nicht den Geringsten. Aber er tat es nicht. Er bestrafte ihn nicht, entschuldigte sich gar für die Worte, die, im Zorn gesprochen, seinem Verhalten doch mehr als angemessen gewesen waren. Was ging nur in ihm vor? Woran dachte er jetzt? Daran was er falsch gemacht, welchen Fehler er begangen hatte? Wie süß, aber das sah ihm ähnlich. Und obwohl er es natürlich nicht wissen konnte, war er sich fast sicher, dass ihn in diesem Moment genau das beschäftigte. Und er selbst? Wie hatte er, ein einfacher Naturgeist und alles andere als ein Gott, es nur geschafft, das wohl sanfteste und fröhlichste Wesen aller drei Welten so zuzurichten? Wie hatte er sich erdreisten können so etwas zu tun, eine solches Chaos, solche Zerstörung anzurichten? Ja, es war seine Schuld. Er richtete den jungen Gott zugrunde. Es hatte längst aufgehört ein Spiel zu sein. Jetzt, da der Schmerz den sie empfanden bis in die Tiefen ihrer Seelen vordrang, war es längst kein Spiel mehr. Ob er sich schämte? Nicht wirklich, er hätte wohl lügen müssen, hätte er es behaupten wollen. Ob es ihm Freude bereitete? Nicht im Geringsten. Auch dieser Punkt war längst überschritten. Er konnte nur einfach nicht aufhören. Das war das Problem. Er hatte das Gefühl, dass es zu spät war, dass er nicht mehr zurückkonnte. Zu tief waren ihrer beider Wunden, zu viel Kraft und Tränen hatte dieser kindische Wettstreit schon gekostet. Aber sollte es denn so weiter gehen? Sollte dieser dumme Streit denn bis in alle Ewigkeit andauern? War es nicht besser es ihm zu sagen? Ihm zu sagen, was wirklich hinter all dem steckte? Dass die vermeintlich ausschlaggebende Sache mit Dionysos nicht mehr als ein willkommener Vorwand gewesen war? Dass allein das Gefühl bei ihm zu erwachen, den Kopf auf seinen Schoß gebettet, die niemals existente Schuld bereits hundertfach getilgt hatte? Aber er brachte es nicht über sich. Er hatte Angst. Mehr als alles andere hatte er Angst vor der Reaktion des Liebesgottes – und dem, was er selbst dann womöglich tun würde. Das machte ihm Angst. Lähmte ihn, sobald nur der Name des Älteren fiel. Aber war es denn so besser? War er denn wirklich glücklich, so wie es jetzt war? Nein, er war nicht glücklich. Und Amor auch nicht. Aber es musste besser sein. Es musste einfach, für sie beide! Wie sonst sollte er es ertragen, dieses wunderbare Wesen, dieses strahlend schöne Geschöpf, das er so sehr liebte, verletzt zu haben?
 

Mit Einsetzen der Dämmerung färbte sich der wolkenverhangene Himmel mit beängstigender Schnelligkeit schwarz. Mittlerweile war der Regen von Schneeflocken durchsetzt. Der Wind war stärker geworden, die Scheibenwischer arbeiteten unermüdlich, ohne jedoch viel ausrichten zu können. Längst schon hatten sie die Stadt und wie es schien auch jede andere nennenswerte menschliche Siedlung hinter sich gelassen. Die Straße war gesäumt von Bäumen, die, wann immer sie der Lichtkegel der Scheinwerfer streifte, gespenstisch aufleuchteten. Jeglicher Farbe beraubt wirkten sie weiß, nur noch Schatten ihrer selbst. Wie Geister. Wesen die man vergessen hatte und die, anders als bei Tag, einer anderen Welt anzugehören schienen. Unbehaglich, ja furchtsam sank Amor tiefer in seinen Sitz. Die Musik war längst verstummt und langsam begann er es zu bedauern. Im Wagen herrschte Totenstille. In jedem Fall aber bedrückendes Schweigen. Ein kurzer Blick auf das Armaturenbrett sagte ihm, dass sie bereits seit über zwei Stunden unterwegs waren und allmählich mehrten sich in ihm die Zweifel, dass diese Fahrt sie überhaupt irgendwo hinführen würde. Der Rothaarige blickte durch das Seitenfenster in die Dunkelheit hinaus und schauderte. Hilfesuchend wandte er sich an Petrus. „Könntest du das Wetter nicht ein wenig ändern?“
 

Wie schüchtern er klang, wie verunsichert. Und dann dieser Blick. Er musste ihn nicht sehen, es genügte dass er ihn fühlte. Am liebsten hätte er ihn umarmt. Ihn an sich gezogen und nicht eher wieder fortgelassen, als bis alle Furcht von ihm abgefallen war. Dass es tatsächlich etwas gab, wovor ein Gott sich fürchtete... Aber vermutlich lag es vielmehr an der besonderen Situation. Nicht die Dunkelheit war es, die ihn ängstigte, sondern die Kälte die von ihm ausging. Gemeinsam mit einem Mann, dessen Ziele er nicht kannte, in einem Auto, das er nicht zu verlassen wagte, in einer Umgebung die ihm fremd war. Es war nur allzu verständlich, dass es ihm Angst machte. Denn ganz gleich wie viele Jahrhunderte er auch durchlebt haben mochte, blieb er doch ein Kind. Nun ja, ein Jugendlicher vielleicht, aber in seinem innersten Wesen und seiner emotionalen Art doch immer ein Kind. Man sah es ihm nicht an, aber der Ältere war jemand, der gern die Fäden in der Hand behielt. Sein ach so berühmtes Selbstvertrauen, mit dem er alles und jeden zu verführen vermochte, beruhte einzig und allein darauf, dass stets er es war, der die Sache begann. Er war es, der führte. Und nicht selten jemanden an der Nase herum. Jetzt aber war er ganz und gar machtlos. Das war selbstverständlich nicht mehr als eine Illusion, aber vermutlich empfand er es so. Er wartete. Wartete auf etwas völlig Unbekanntes und harrte der Dinge die da kamen. So etwas rief immer Angst hervor. Unweigerlich. Für Menschen war es ein unglaublich zermürbendes Gefühl, das nur schwer zu ertragen war. Und für Götter? Sie schienen sich von Erdenbewohnern lediglich darin zu unterscheiden, dass sie länger damit zu leben vermochten. Angst... Petrus drosselte die Geschwindigkeit, obwohl dazu eigentlich keine Notwendigkeit bestand. Selbst wenn sich die regennasse Fahrbahn als tückisch erweisen sollte. Götter starben typischer Weise nicht durch einen Autounfall. Ob er das Wetter ändern konnte? Selbstverständlich, nichts leichter als das. Dafür war er geschaffen worden, es war seine Aufgabe. Er konnte es sogar punktuell verändern, sodass beispielsweise eine einzelne Person von einem Regenschauer verschont blieb. Ein einfacher Trick, der einen Schirm entbehrlich machte. Aber er tat es nicht gern und Amor wusste das. Er hatte ihm davon erzählt. Nicht umsonst hatten die Menschen aus dem Wetter eine Wissenschaft gemacht. Es gab zwar weitaus weniger Zufälle als sie gemeinhin glaubten, aber etwas anderes spielte eine recht bedeutende Rolle. Nebenwirkungen. Da verhielt es sich mit dem Wetter so ähnlich wie mit der Medizin. Man konnte nicht erwarten eine ganz bestimmte Änderung an einem ganz bestimmten Punkt zu erreichen, ohne dabei zu bedenken, dass auch andere Regionen, in schlichter Weise den Naturgesetzen folgend, davon beeinflusst wurden. Ein Gott hätte es vielleicht gekonnt, nicht aber ein profanes Wesen wie er. Petrus korrigierte ihre Fahrlinie ein wenig, er mochte es nicht auf der Mitte der Straße zu fahren, und starrte unverwandt in den Schneeregen hinaus. Er hätte es problemlos tun können. Das Unwetter war großflächig, die besagten Nebenwirkungen also ohne Weiteres abschätzbar. Die Gefahr der Unkontrollierbarkeit war schlicht nicht vorhanden. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, ihnen die Sicht auf einen herrlich klaren Sternenhimmel zu ermöglichen und damit auch ihre Fahrbedingungen erheblich zu verbessern. Aber er tat es nicht. Nicht, dass er es nicht gekonnt hätte, er hatte nur keine Lust dazu. Das Wetter entsprach seiner Stimmung geradezu aufs Vortrefflichste und ließ ganz nebenbei das warme Innere des Autos sehr viel gemütlicher erscheinen. Er mochte das, aber ein kurzer Seitenblick auf Amor genügte um zu wissen, dass der junge Gott sich im Moment alles andere als wohl fühlte. Der Wetterpatron richtete den Blick wieder nach vorn. „Wir sind bald da“, sagte er in die bedrückende Stille des Wageninneren hinein und spürte, wie der Andere sich ein wenig entspannte. Eine halbe Stunde später erreichten sie das Haus.
 

- Teil IV: Gefühle -
 

Selbstverständlich wäre Amor, hätte er ihn nicht aufgehalten, sofort heldenhaft und – angesichts der inzwischen herrschenden Witterungsbedingungen – todesmutig in den Regen hinausgestürzt. Vielleicht hätte er es netter formulieren sollen, aber gewirkt hatte es. Bleib wo du bist. Nein, er war nicht nett gewesen. Selbst seinem eigenen Empfinden nach hatte es schroff und aggressiv geklungen. Wie musste es dann erst auf das arme, mittlerweile völlig verschüchterte Götterkind gewirkt haben? Der Ältere wagte es nicht einmal mehr ihn anzusehen, geschweige denn zu berühren. Weder beim Aussteigen, noch auf dem gemeinsamen Weg ins Haus. Ein Schirm schützte sie notdürftig vor dem heftige Gewitter, während sie dem Eingang des kleinen Holzhäuschens zustrebten. Seite an Seite gingen sie den aufgeweichten Pfad entlang. Seite an Seite und doch waren sie einander so fern wie nie zuvor. Petrus hatte erwartet, dass das Schloss klemmen würde – aus reiner Boshaftigkeit sozusagen. Das tat es manchmal und mit Vorliebe in Situationen, in denen es absolut unpassend war. Tatsächlich geschah nichts dergleichen. Mühelos glitt der Schlüssel hinein und nur einen Moment später öffnete sich die Tür mit einer Leichtigkeit, als habe sie nie etwas anderes getan. Petrus indes war dankbar für die Dunkelheit die sie umgab. Amor mochte keine Gedanken lesen können, aber die Szenen, die dem Witterungsbeauftragten in diesem Augenblick in den Sinn kamen, waren, zumindest seinem Empfinden nach, derart obszön, dass er fürchten musste, dass man sie ihm, und sei es wegen der Röte auf seinen Wangen, schon an der Nasenspitze ansah. Und als Gott der Liebe war der hübsche, kleine Amor für so etwas natürlich prädestiniert. Wenn er es nicht konnte, wer dann? Und nichts wäre dem Witterungsbeauftragten peinlicher gewesen, als ausgerechnet von ihm dabei ertappt zu werden...wie er sich gewisse Dinge vorstellte. Dabei hatte er das gar nicht vor! ...Glaubte oder vielmehr hoffte er zumindest. Der Ältere zog beim Eintreten die Schultern hoch und Petrus musste zugeben, dass er allen Grund dazu hatte – es war wirklich kalt. Noch bevor er die Tür hinter ihnen schloss, schaltete er das Licht ein, damit der Kleinere in der Dunkelheit nicht über den erstbesten Gegenstand stolperte. „Entschuldige, ich hatte keine Zeit aufzuräumen“, bemerkte er überflüssiger Weise und hing ihre Mäntel zum Trocknen auf. Während Petrus damit beschäftigt war im Kamin ein Feuer zu entfachen, das er viel lieber anderswo entzündet hätte, sah Amor sich aufmerksam um. Ob er noch immer nach der nicht vorhandenen Unordnung suchte wusste der Wetterpatron nicht, jedenfalls musterte er die neue Umgebung sehr aufmerksam. Offenbar interessierte es ihn wirklich. „Hast du es so eingerichtet?“, fragte der Ältere und sah zu ihm herüber. Zwischen den mit Papier dekorierten Holzscheiten züngelten vielversprechend ein paar Flammen empor und wenig später begann ein ansehnliches Feuer den Raum mit wohliger Wärme zu erfüllen. Zufrieden erhob sich der Wetterpatron. Er fing den Blick des Rothaarigen auf, der auf das Bärenfell vor dem Kamin gerichtet war und wandte den Kopf so unauffällig wie eben möglich ab. Er wollte sich gar nicht vorstellen, womit der Andere dieses auf diversen Fotos recht beliebte Utensil in Verbindung brachte, schaffte es aber irgendwie, bei dem Gedanken daran nicht rot zu werden. „Der Besitzer war so freundlich, mir bei der Raumgestaltung weitestgehend freie Hand zu lassen. Darauf“, er deutete mit einer Kopfbewegung wie beiläufig in Richtung des Bärenfells, „hat er allerdings bestanden. Eine Art Jagdtrophäe nehme ich an.“

Amor verzog das Gesicht. Offenbar hatte die Vorstellung, dass dieser etwas unförmige Teppich einmal ein Tier gewesen war, für ihn nicht viel anheimelndes. Verständlich. Eine Zeit lang blieb es still. Einzig das Ticken der großen Standuhr und das Knacken des Feuers erfüllten den Raum. Teilnahmslos und obwohl er wusste, dass der Blick des Älteren auf ihm ruhte, sah er nach draußen. Es war behaglich, hier am Feuer, während der Regen gegen die Fensterscheiben schlug. Schließlich wandte sich der Jüngere vom Fenster ab und widmete seine Aufmerksamkeit stattdessen dem Wasserkocher. Amor rührte sich nicht. Er stand einfach nur da und sah ihn an. „Möchtest du etwas trinken?“, fragte der Wetterpatron und gab den Blick auf zwei mit dampfendem Tee gefüllte Tassen frei. „Nein“, erwiderte der Ältere, ohne dass sich an seiner Haltung auch nur das Geringste geändert hätte. Nun wandte sich Petrus zu ihm um. Ein undeutbarer, keinesfalls aber freundlicher Blick. Abwartend vielleicht, als versuche er die Situation einzuschätzen, zu ergründen, was der junge Gott als nächstes sagen, welche Frage er an ihn richten würde. Wie demonstrativ nahm er eine der Tassen während er den Älteren musterte und hob sie an die Lippen. Einen langen Moment verharrte er so, dann ließ er das Gefäß wieder sinken. Es hatte keinen Zweck. Der Tee war schlichtweg zu heiß. Draußen zuckten Blitze über den Himmel, gefolgt von ohrenbetäubendem Donner. Und bei jedem Grollen zuckte der Ältere kaum merklich zusammen, zitterte er ein wenig mehr. Also gab es noch etwas, wovor er Angst hatte. Aber das war nicht sonderlich überraschend. Die meisten Kreaturen zogen sich bei Gewitter zurück und nicht wenige fürchteten es. Für Amor war es einfach etwas Neues. Die Teile der Götterwelt, in denen er sich für gewöhnlich aufhielt, lagen oberhalb der Wolken und damit jenseits dessen, was die Menschen gemeinhin als Wetter bezeichneten. Sonne und gelegentlich ein lauer Wind waren alles, was es dort an Witterungen gab. Nicht gerade üppig, aber überaus angenehm. Amor war, im Vergleich zu den meisten anderen Himmelsbewohnern, ein äußerst aufgeschlossener Gott und da er auch ein gewisses Interesse für sein Zuständigkeitsgebiet – die Erde und ihre Bewohner – aufbrachte, hatte er gewiss schon weitaus mehr gesehen und dementsprechende Sympathien und – was bei ihm schwer vorstellbar war – Antipathien entwickelt. Und Gewitter waren, wenn nicht schon früher dann spätestens jetzt, in die zweite Kategorie abgeglitten. Der Rothaarige zitterte vor Kälte und jeder Donnerschlag jagte ihm einen neuerlichen Schauer über den Rücken. Petrus umfasste den Henkel seiner Tasse ein wenig kräftiger. Der Drang seinen Gegenüber in die Arme zu schließen wurde schier übermächtig. Aber er beherrschte sich. „Können wir reden?“, fragte der Ältere schließlich und seine kindliche Furcht strafte die Ernsthaftigkeit mit der er ihn ansah lügen. Er war völlig verstört. Der Wetterpatron zeigte sich unbeeindruckt. „Deshalb habe ich dich hergebracht.“

Ach ja? War das so? Das war ihm neu. Nun, es war in jedem Fall interessant zu hören. Er hatte Amor also hierher gebracht, damit sie reden konnten. Reizend. Ihm war nie aufgefallen, was für ein ausgezeichneter und über alle Maßen glaubhafter Lügner er war. Nun, der Ältere mochte es glauben oder nicht, jedenfalls schien er sich diese Chance nicht entgehen lassen zu wollen. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck tiefster Verzweiflung, dem seine Stimme kaum gerecht zu werden vermochte. Dabei hatte er eine so schöne Stimme. „Warum hasst du mich? Warum bist du nur so wütend?“

Petrus spürte wie der Trotz in ihm aufflammte. Einzig übertönt durch den innigen Wunsch dieses strahlend schöne Geschöpf, das in diesem Moment nur ihm gehörte, in die Arme zu schließen und zu küssen. Doch nichts von alledem drang nach außen. Sein Gesicht blieb vollkommen reglos, ja nicht einmal der Klang seiner Stimme veränderte sich. Nicht ausdruckslos, aber von einer Ruhe, die schon an Langeweile, wenn nicht an Gleichgültigkeit grenzte. Welch ein Schauspieler er doch war. „Ich bin nicht wütend auf dich und nichts läge mir ferner als dich zu hassen. Ich will dich nur im Moment nicht in meiner Nähe haben.“

Verständnislos sah der Andere ihn an und mehr denn je mischte sich Verzweiflung in seinen Blick. Er schüttelte den Kopf, als könne er es nicht glauben. Es war nur natürlich. Bisher hatten sie es nie ausgesprochen, hatte es lediglich wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen gehangen. Sie hatten es beide gewusst. Natürlich hatten sie es, wo bliebe sonst der Sinn? Doch jetzt hatte er den Schritt getan, den keiner von ihnen zu gehen bereit gewesen war. Er hatte es ausgesprochen. Den seidenen Faden gekappt und das Schwert herabstürzen lassen. Doch es hatte dem Älteren nicht das Haupt von den Schultern geschlagen. Nein, es war viel schlimmer. Es war herabgestürzt und hatte sein Herz durchbohrt. Aufgespießt, wie ein Insekt in einer Vitrine. Einfach so. Ohne Mitleid. Als ob man einen Käfer aufspießte. Wie weit, fragte sich Petrus, wie weit wollte er noch gehen? War es nicht seine Schwäche? War es nicht vielmehr so, dass er es war, der diese Worte verdient hatte? Sie an ihn hätten gerichtet sein sollen? Er testete ihn. Testete seine Gefühle für ihn bis zur Unerträglichkeit und schreckte nicht davor zurück, dieselben wieder und wieder zu verletzen. Was dachte er sich dabei? Was wollte er sich und dem Anderen beweisen? Warum forderte er das, was er insgeheim doch fürchtete, auf diese Weise ein ums andere Mal heraus? Was glaubte er wer er war? Einem Wesen wie Amor so etwas anzutun, ihn so zu behandeln, ihn so zu verletzen. Was berechtigte ihn dazu? Jetzt, da er nicht einmal mehr Gefallen daran fand. Jetzt, da es sich jenseits eines Scherzes, eines Spiels bewegte. Jetzt, da er, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, dabei war, einen Gott, den Gott der Liebe, mit allem was er war zu vernichten. Was bildete er sich ein? Was glaubte er wer er war? Ein Gott? „Das ist doch das Gleiche“, gab der Ältere zurück und schüttelte verzweifelt den Kopf, als könne er sich dadurch der Gedanken und vielmehr noch der Gefühle die ihn beherrschen mussten erwehren. Als könne er sich allein dadurch aus diesem Alptraum retten. Als wolle er das absurde dieser Szene nur umso deutlicher hervorheben. Das wenigstens tat er. Petrus sah ihn an. Anders konnte man es nicht nennen. Nichts hätte die Unberührtheit die er nach außen hin zeigte besser beschreiben können. Er setzte die Tasse an die Lippen und probierte einen Schluck Tee. Gut, aber zu heiß. Er hatte sich verbrannt. Er stellte das Gefäß beiseite und sah den jungen Gott an. „Nein, ganz und gar nicht“, erwiderte er ruhig und Amor sah wieder zu ihm auf. Verwirrung spiegelte sich auf seinen Zügen, während er mit tränenverschleierten Augen zu ihm aufsah. Petrus hatte schon davon gehört, Amor selbst hatte ihm davon berichtet. Dass es Momente im Leben der Menschen gab, in denen es in ihrem Kopf einfach ›Klick‹ machte. So, als sei ein unsichtbarer Schalter umgelegt worden, der sie, ganz unerwartet und wie aus dem Nichts, zu Dingen befähigte, die sie andernfalls nie hätten vollbringen können. Doch der Wetterpatron war kein Mensch. Und er empfand sich auch nicht als das klassische Beispiel für ein solches Erlebnis. Er verlor nicht den Kopf, schon gar nicht im wörtlichen Sinne, und geriet auch sonst in keiner Weise außer sich. Es war auch nicht so, dass seine Zweifel weggewischt worden wären. Er büßte auch nicht seine überaus stark ausgeprägte Selbstbeherrschung ein oder veränderte ganz plötzlich seinen Charakter. Nein, so menschlich war er nicht. Er hätte nur zu gern behauptet, dass es der Moment war, in dem ihm die Augen geöffnet wurden. Tatsächlich war es vielmehr so, dass in ihm etwas zerstört wurde. Etwas, das er, als überaus rationaler und pragmatischer Naturgeist, als die moralische Schranke bezeichnete. Ohne ein weiteres Wort ging er auf ihn zu, legte die Arme um den schlanken Körper des Älteren und zog ihn an sich. So fest, dass seinem Gegenüber für einen Moment die Luft wegblieb. Dann sah er ihn wieder an. Verlor sich in den Tiefen der goldenen Augen, schob, obwohl es nicht nötig war, wo doch der Blick des Geliebten allein ihm galt, eine Hand unter sein Kinn. Den anderen Arm an seiner Hüfte, bereit ihn noch näher an sich zu ziehen, als es ohnehin schon der Fall war. Bereits jetzt berührten sich ihre Körper an weit mehr als nur diesen Stellen. Er sah ihn an. Ein absolut makelloses Geschöpf. Sollten die Götter ihn doch geschickt haben. Was konnte ein Naturgeist wie er an einem göttlichen Gesandten schon auszusetzen haben. Er war hier, und jetzt, in diesem Moment, war er nur für ihn da. Und genau das war es, was er gewollt hatte. Ihn, hier und ganz und gar für sich. Er wollte ihn. „Ich hasse dich nicht“, sagte er noch einmal, dann beugte er sich zu dem Älteren herab und versiegelte die Lippen des Geliebten mit den seinen. Ein kurzer Moment des Widerstands, Trotz vielleicht, Verständnislosigkeit, vielleicht der Wunsch nach Antworten auf all die Fragen die er hatte. Erklärungen für all das, was er nicht verstand. Nur einen Moment, dann gab er auf. Nur ein Moment und nichts von alldem war mehr von Belang. Nur ein Moment und es interessierte ihn nicht mehr. Er hob die Hände, legte sie erst scheu auf die Brust des Anderen, dann auf seine Schultern und schließlich auf seine Wangen. Und das war der Moment in dem er sich an ihn schmiegte, die Anspannung – einem Fluch gleich – von ihm genommen wurde und sein Körper unter den fordernden Händen des Wetterpatrons weich wurde. Petrus spürte es und konnte nicht verhindern, dass sein Körper darauf reagierte. Wovor? Wovor hatte er nur solche Angst gehabt? Dass Amor, der größte Verführer seit Anbeginn der Zeit, es nicht ernst mit ihm meinen könnte? Dass er, Petrus, sich die Zuneigung des jungen Gottes nur einbildete? Dass der Ältere nur spielte? Dass er selbst, in solchen Dingen völlig unerfahren, nicht gut genug für ihn sein könnte? Dass der Geliebte, wenn der entscheidende Moment gekommen war, ihn abweisen würde? Dass er, der Naturgeist, ihm in seiner jungfräulichen Art nicht gerecht werden würde? Dass Amor es bald leid sein könnte? Er war der Gott der Liebe! Der wievielte Partner mochte er sein? Der hundertste, der tausendste gar? Amor war nicht unschuldig. Egal von welchem Standpunkt aus man es betrachtete. Einzig vielleicht in der Echtheit seiner Gefühle. Seine Gefühle, die so rein waren, dass sich nichts Vergleichbares in allen drei Welten fand. Seine absolut aufrichtigen Gefühle. Und war sie das nicht, die Antwort? Hatte er sie nicht schon all die Zeit in sich getragen? Hatte sie nicht letztlich schon vor der Frage existiert, die so quälend an ihm genagt hatte? Hatte er es deshalb getan? Weil er eben jene Reinheit auf die Probe stellen, sie mit eigenen Augen hatte sehen wollen? War es nicht die Angst vor dem Irrtum gewesen? Die Angst, dass er selbst es war, der ihnen diese Aufrichtigkeit angedichtet hatte? Weil er fand, dass es zu ihm passte? Was hatte er ihm angetan? Wie schmutzig, wie hässlich waren dagegen seine eigenen Gedanken gewesen. Doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Als ob seine Reinheit all das Schlechte aus ihm heraussöge. Als ob sein heiliges Licht die Schatten aus seinem Herzen vertrieb. Wie kitschig, dachte er. Ein verkappter Romantiker. Dabei war die Antwort so einfach. Er liebte ihn. Er liebte ihn mehr als alles andere, ganz gleich von welcher Welt sie sprachen. Und jetzt, in diesem Moment, wollte er ihn. Nicht nur für sich, nicht nur so oberflächlich. Natürlich für sich und einzig und allein für sich, aber nicht so einfach. Er wollte ihn ganz, mit allem was zu ihm gehörte. Mit Haut und Haar, mit Leib und Seele. Sein großes Herz, in das er jeden gerne schloss, das jedem offen zu stehen schien, sollte nur noch ihn kennen. Ihn allein. Und nie wieder sollte sich sein Körper an einen anderen schmiegen, sich seine Arme einem anderen entgegenstrecken. Er würde sein Partner sein. Der Zeitpunkt ihres Todes war ungewiss. Es lag bei den Menschen, ob sie das was und so blieben wie sie waren und niemand konnte sagen, wer von ihnen den anderen überleben, wie alt sie letztlich werden würden. Sie selbst vermochten darüber weder zu bestimmen noch ernstlich Einfluss darauf zu nehmen. Da ging es ihnen ähnlich wie den Menschen. Sie wussten es nicht, aber es spielte auch keine Rolle. Mochte er es nun ausgesprochen haben oder nicht, er hatte ihn angefleht bei ihm zu bleiben. Wider besseren Wissens war er bei ihm geblieben, hatte ihn beobachtet, sich ihm wieder und wieder genähert – auch gegen seinen Willen. Nun würde er die Verantwortung dafür übernehmen, mit den Konsequenzen leben müssen. Und das hieß, er würde mit ihm leben müssen. Götter mochten flatterhaft sein, Petrus war es nicht. Und er duldete es auch nicht. Natürlich würden sie sich nicht wie ein Ehepaar aufspielen, dafür waren sie schon charakterlich nicht geschaffen – weder Amor noch er selbst. Also würde es das sein, worauf es bei Göttern, schon angesichts ihrer Lebensspanne, immer hinauslief – eine Affäre. Und er würde es Amor nicht leicht machen. Er war ein anspruchsvoller Liebhaber und in hohem Maße besitzergreifend. Keine Eifersuchtsdramen, so einfach war er nicht gestrickt und es fiel ohnehin eher in das Metier des Älteren. Er war der Emotionale von ihnen beiden. Wieder musste er sich bremsen. Ging das nicht etwas zu weit? Worüber wollte er als nächstes philosophieren? Ihre Hochzeit? Der Schöne und das Biest? Die widerspenstige Zähmung? Und da war es passiert. Ein Moment der Unachtsamkeit und schon hatte der Ältere die Führung übernommen. Aber so nicht. Sauerstoff, dachte er plötzlich und ihm wurde schlagartig klar, woher diese unmöglichen Gedanken kamen. Er dirigierte die fremde Zunge dahin wo sie hergekommen war und seiner Meinung nach auch hingehörte. Atemlos trennten sie sich voneinander. „Du trägst das Parfüm gar nicht“, sagte der Jüngere schließlich und nur einen Lidschlag später küsste er ihn ein zweites Mal. Stürmisch, ungeschickt, verlangend. „Ich dachte es macht dich wütend“, gab der Rothaarige zurück und sofort war sein Blick wieder voller Sorge. Er zweifelte noch immer. „Ich bin nicht wütend“, erwiderte er leise und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Er musste sich beherrschen. Nichts übereilen, sie hatten Zeit. Er gewann nichts, wenn er zu stürmisch vorging. Und wenn er ihn verschreckte... Vorsichtig neigte er den Kopf ein wenig tiefer, schob den lästigen Hemdkragen beiseite und begann zärtlich am Hals des Anderen zu knabbern. Er hatte gar nicht gewusst, dass er es konnte – zärtlich sein. Wie sehr man es auch beschönigen mochte, blieb er doch ein rauer Geselle. Unstet und launisch wie das Wetter das er beherrschte. Plötzlich berührte etwas kaltes seine Lippen und der Witterungsbeauftragte öffnete die Augen. In einer langsamen Geste, begleitet von einem geradezu vorwurfsvollen Blick, zog er die Kette mitsamt dem daran befindlichen Anhänger hervor. „Also hatte Venus Recht, du trägst dieses alberne Ding tatsächlich mit dir herum.“

In Wahrheit hätte er vor lauter Glück beinahe etwas sehr Unüberlegtes getan. Amor nahm ihm den kleinen Flacon aus der Hand und drückte ihn an seine Brust. „Es ist nicht albern“, sagte er sanft, doch mit einer Ernsthaftigkeit, über die sich Petrus nur wundern konnte. „Mein Liebster hat es mir geschenkt.“

Das war zu viel. Während der Wetterpatron noch völlig perplex dastand, vollführte sein Herz bereits einen wahren Freudentanz. Zumindest fühlte es sich so an. Und natürlich vorausgesetzt, er litt nicht unter Herzrhythmusstörungen. Aber so etwas taten ja nur Menschen. Und noch immer konnte er sich nicht rühren. Obwohl er es wollte. So sehr wollte. Er konnte es nicht. Er stand einfach nur da und starrte ihn mit offenem Munde an. Und er erinnerte sich schon intelligenter ausgesehen zu haben. Doch der Ältere lächelte nur, öffnete das winzige kristallene Fläschchen und trug ein wenig der fein duftenden Flüssigkeit auf. War das normal? War es normal, dass jemanden eine so kleine, unscheinbare Geste dermaßen, wie sollte er es ausdrücken, anmachte? Wie in Trance sah er zu wie der Rothaarige den Flacon wieder verschloss, er selbst sich aus seiner Starre löste, auf ihn zuging und ihm das kleine Silberkettchen abnahm. „Das wirst du nicht brauchen“, flüsterte er ihm zu und legte seine Hände auf die kindlich weichen Wangen des jungen Gottes. Und jeder hielt den Blick des anderen mit dem seinen gefangen. „Wobei?“, hauchte der Rothaarige, doch der Ausdruck in seinen Augen war unmissverständlich. Ihr Leuchten brannte sich tief in sein Gedächtnis, seinen Geist, seine Seele. Und er wusste, er würde sie nie vergessen. Diese Augen, die voller Verlangen, voller Begehren waren. Augen, die nur ihn sahen. Er hatte nicht gewusst, dass sie einen solchen Ausdruck annehmen konnten und niemals hätte er zu hoffen gewagt, dass er es sein würde, den sie auf diese Weise ansahen. Er zog den Älteren an sich und küsste ihn, als wolle er ihn verschlingen. Amor hatte keine Angst. Er hätte es gespürt wenn es so gewesen wäre, aber da war nichts. Nicht einmal Zweifel. Nur Sehnsucht und tiefes, unerschütterliches Vertrauen. Gemeinsam sanken sie zu Boden, wie Pflanzen ineinander verschlungen. Nicht ein einziges Mal wandte Petrus den Blick von ihm ab. Wie unschuldig er wirkte, jetzt, da er unter ihm lag und liebevoll zu ihm aufsah, während seine schweren roten Locken sich über das dunkle Braun des Bärenfells ergossen. Der Ältere hob die Arme, doch der Wetterpatron war nicht bereit das Entkleiden ihm zu überlassen und so kam er ihm kurzerhand zuvor. Achtlos warf er Hemd und Krawatte beiseite. Und schon war der Blick des Gottes nicht mehr so unschuldig. Es war offensichtlich, dass ihm gefiel was er sah. Er schnurrte wie eine Katze und räkelte sich genießerisch unter ihm. Miststück, lag es Petrus auf der Zunge, aber diese war bereits dabei die andere zu einem Spiel aufzufordern. Und sie hatte Erfolg. „Bett?“, fragte er schließlich, nachdem er sich nur äußerst widerwillig von ihm getrennt hatte und Amor antwortete ihm auf seine unnachahmliche und ebenso unmissverständliche Art. Und es war ein klares Nein. Ihn von seinem rüschenbesetzten Hemd zu befreien, stellte sich allerdings als ein etwas aufwendigeres Unterfangen heraus. Zumal er offensichtlich Spaß daran hatte, es dem Jüngeren nicht leichter zu machen. Und obwohl Petrus nicht gerade dafür bekannt war, bewies er in diesem Fall und angesichts der besonderen Umstände geradezu eine Engelsgeduld. Allerdings nahm er sich diesmal nicht die Zeit den Anderen, nachdem er einmal von dem zwar dekorativen, aber momentan eher störenden Kleidungsstück befreit war, noch länger zu betrachten. Stattdessen ging er noch im selben Atemzug dazu über, jeden Zentimeter des makellosen Körpers zu erkunden. Zunächst mit den Händen, dann folgten ihnen Lippen und Zunge. Und Amor genoss es. Schon jetzt erfüllte sein Seufzen den Raum, auch wenn es gegen den drohenden Klang des Gewitters nicht ankam. „Sag mal“, fragte er plötzlich, „liege ich gerade wirklich auf einem toten Tier?“

Petrus hob den Kopf und sah ihn völlig verblüfft an. Dann verfinsterte sich sein Blick, als habe der Andere seinem Ego gerade einen herben Schlag versetzt. Tatsächlich stand der Wetterpatron über solchen Dingen, aber die Absurdheit dieser Frage, besonders angesichts dessen was sie gerade im Begriff waren zu tun, konnte er schlichtweg nicht fassen. „Du wirst gleich unter einem Tier liegen wenn du so weiter machst. Und zwar einem sehr lebendigen.“

Nun war es an dem jungen Gott verblüfft dreinzuschauen. Dann traf den Witterungsbeauftragten ein über alle Maßen anzügliches Lächeln. „Ich glaube damit kann ich leben“, gab der Ältere zurück, legte die Arme um den Hals des Wetterpatrons, zog ihn zu sich herab und gab ihm einen absolut atemberaubenden Kuss. Und kaum dass sie sich getrennt hatten, neigte er sich zu ihm und flüsterte ihm mit dieser aufreizenden Stimme ins Ohr. „Oh und könntest du bitte aufhören zu denken? Sonst bringst du mich noch endgültig um mein Selbstvertrauen.“

Denken? Hatte er das nicht schon vor geraumer Zeit eingestellt? Gerade jetzt, da er ihn daran erinnerte, geriet er in Versuchung darüber nachzudenken. Amor und mangelndes Selbstvertrauen? In einer Situation wie dieser? Undenkbar. Mit seinem Blick hätte er ohne weiteres Eis zum schmelzen bringen können. Und überhaupt, woran sollte man nach so einem Kuss schon denken? Woran sollte man denn überhaupt noch denken können?! „Ich sage doch du sollst damit aufhören“, sagte der teuflische kleine Verführer und schob seine Hand mit gewinnender Sicherheit unter den Stoff der Hose, die der Andere noch immer trug. Petrus biss sich auf die Lippe, um einen sehr bezeichnenden Laut des Wohlgefallens zu unterdrücken, doch sein Gesicht sprach Bände. Ein langer, unverhohlen begieriger Kuss, dann setzte er seine Expedition fort. Amor hatte eine wunderschöne Stimme und wo immer die Hände des Jüngeren eine empfindliche Stelle fanden, ließ er sie ihn hören. Und der Wetterpatron genoss es. Der junge Gott war nicht nur emotional sensibel, sein Körper stand dem in nichts nach. Wie gern hätte der Naturgeist sich noch mehr Zeit gelassen, die süße Qual der Erwartung noch länger ausgekostet. Aber es ging nicht. Vielmehr noch als der erfahrene Liebesgott war er es, der nicht länger warten konnte. Doch er wollte sich nicht die Blöße geben, seinen Höhepunkt noch vor dem Anderen zu erreichen. Längst schon war inmitten des leidenschaftlichen Spiels die Kleidung von ihren Körpern verschwunden und so war es ihm ein Leichtes, sich dem wohl empfindlichsten Körperteil seines Geliebten zuzuwenden. Er hatte keine Erfahrung was diese Dinge anbelangte, aber die Art wie er Lippen und Zunge einsetzte, schien dem Rothaarigen zu gefallen. Er mochte gelegentliche Seufzer von ihm kennen, aber das tiefe Stöhnen, das nun aus seiner Kehle drang, war damit nicht zu vergleichen. Das allein schon wäre Grund genug gewesen um zu kommen und Petrus hatte alle Mühe sich zu beherrschen. Obwohl er ihn seines Wissens nach nicht quälte, wand sich der Ältere unter ihm. Die Augen geschlossen, die Hand im Haar des Wetterpatrons vergraben. Man merkte dass er geübt war. Nicht an der Art wie er reagierte, sondern vielmehr an der Zeit, die er die Liebkosungen des Geliebten hinzunehmen vermochte, ohne die Schwelle zu überschreiten. Doch schließlich hielt auch er es nicht mehr aus. Ein unterdrückter Schrei, dann entspannte sich sein Körper. Sein Atem ging rasch und regelmäßig. Ob der ungewohnten Situation ein wenig zögernd schluckte der Jüngere, nur um erleichtert festzustellen, dass er auch diesen neuen Geschmack des Anderen liebte. Wie alles an ihm. Vorsichtig rutschte er nach oben, bis ihre Gesichter wieder auf einer Höhe waren und küsste ihn. Ein sanfter Kuss, der aber, je länger er andauerte, nur umso heftiger nach mehr verlangte. Nur war Petrus nicht sicher, ob er ihm das geben konnte. Nicht, dass er nicht grundsätzlich die Fähigkeit dazu gehabt hätte – wenn auch kein Gott war er doch zumindest ein götterähnliches Wesen –, aber das hier war nicht geplant gewesen und da er zu den wenigen Himmlischen gehörte, die den Voyeurismus nicht zu ihrem Hobby gemacht hatten, hatte er nur eine vage Vorstellung davon, wie es jetzt weitergehen sollte. Im Grunde wusste er es, aber er misstraute diesem Wissen zutiefst und wollte keinen Fehler begehen. Und am allerwenigsten wollte er den Anderen verletzen. „Ich fürchte, jetzt musst du mir helfen“, gestand er und sah den Liebesgott hilfesuchend an. Erst jetzt öffnete der Ältere die Augen und sah ihn mit lustverhangenem Blick an. Sein Atem war jetzt ruhiger, seine Wangen von einer zarten Röte überzogen. Einige quälende Sekunden lang sah er ihn an, dann nahm er die Hand des Wetterpatrons vorsichtig in die seine, hob sie zu seinem Mund und ließ zwei der schlanken Finger darin verschwinden. Das Gesicht des Jüngeren nahm einen deutlichen Rotton an, als er spürte wie die Zunge des Anderen sanft seine Finger umspielte. Er ertrug es kaum, doch wagte er es auch nicht sie ihm zu entziehen. Als der Liebesgott sie schließlich wieder freigab, forderte er sogleich einen Ersatz dafür und so trafen sich ihre Lippen erneut zu einem gefühlvollen Kuss. Behutsam lenkte der junge Gott die unerfahrene Hand, wies ihr den Weg und bedeutete ihr sanft, was ihre Aufgabe sein würde. Der Jüngere begriff – und scheute sich sich davor. Er hatte so etwas noch nie zuvor getan, doch war er sich sicher, dass es ihm wehtun würde, dass er ihm wehtun würde. Was, wenn er sich ungeschickt anstellte? Was, wenn er seine Erwartungen oder viel schlimmer, sein Vertrauen enttäuschte? Das tiefe Vertrauen, das ihm aus diesen wunderschönen goldenen Augen entgegensprach. Gewaltsam schob er die Zweifel beiseite, konzentrierte sich einzig und allein auf seine Finger. Amor bemerkte sein Zögern und rieb zärtlich seine Wange an der seinen. Seine Hand ruhte auf dem Unterarm des Naturgeistes, bereit ihn zu ermutigen, ihn zu führen wenn es nötig war. Als seine Finger in das Innere des jungen Gottes vordrangen, bäumte sich der schlanke Körper auf. Erschrocken hielt Petrus inne und es vergingen bange Sekunden der Angst bis er begriff, dass es nicht Schmerz sondern Lust war, die ihn erfasst hatte. Langsam, vorsichtig wagte er sich weiter, versenkte seine Finger immer tiefer in ihm. Jetzt lag der Rothaarige wieder flach auf dem weichen Untergrund, das Gesicht von Schmerzen gezeichnet. Die Augen hatte er geschlossen. Sorgenvoll beugte sich Petrus über ihn und strich ihm mit der freien Hand über Stirn und Haar. Zögernd begann er die Finger zu bewegen und schnell schwand der leidende Ausdruck vom Gesicht des Geliebten, machte dem höchsten Genusses platz. Und wann immer er von den weichen Lippen des Andere abließ, kündeten sie ihm von der Herrlichkeit dessen, was er empfand. Ein leidenschaftliches, aber nicht weniger sinnliches Wesen. Er konnte einfach nicht genug von ihm bekommen. Längst schon hatte der junge Gott ihn die Schwelle überschreiten lassen, doch war er bereit für ein weiteres Mal. Und der Ältere schien keinerlei Einwände zu haben, dass es sich diesmal in seinem Körper ereignete. Wie sonst sollte er diese bedingungslose Hingabe deuten? Zu den beiden Fingern, die bereits das Innere des Geliebten erkundeten, gesellte sich noch ein dritter. Mehr wagte er nicht, obwohl die Stimme des Gottes durchaus dazu reizte. Aber wenn Petrus auch sonst zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war, besaß er doch noch genug Verstand, um nach Möglichkeit alles zu vermeiden, was dem Anderen unnötige Schmerzen bereitete. Schließlich zog er seine Hand zurück, jedoch nur um ihn ein weiteres Mal zu erobern, wenn auch auf andere Weise. Er wusste, dass er nicht der Erste war. Wahrscheinlich nicht einmal sein erster Mann, aber das war nichts worüber er jetzt nachdenken wollte. Wie gut, dass er ihn vorbereitet hatte. Wie gut, dass Amor, statt seine Unerfahrenheit zu belächeln, ihm geholfen, ihn geführt hatte. Er war nicht der Erste, schoss es ihm wieder durch den Kopf. Er wollte diesen Gedanken nicht haben. Es war so eng in ihm. Er musste sich zusammennehmen, gelangte unversehens an die Grenze seiner Selbstbeherrschung. Für ihn selbst war es schön, ein herrliches, nein im Grunde unbeschreibliches Gefühl. Zaghaft begann er sich zu bewegen. Er wusste, dass er ihm wehtat. Obwohl er es langsam anging, obwohl er so vorsichtig war. Er wusste, dass es ihm wehtat. Er musste sein Gesicht nicht sehen, den nur mühsam unterdrückten Aufschrei nicht hören um es zu wissen. Er spürte es. So deutlich, dass er meinte er müsse ihn ebenso fühlen können. Aber es war nicht sein Schmerz. Er konnte ihn gar nicht fühlen. Nicht so, wie Amor ihn fühlte. Er bewegte sich weiter. Langsam, vorsichtig, einem unbekannten Rhythmus folgend. Der selbe Gesichtsausdruck wie zuvor. Er hätte verzweifeln mögen. Wieder beugte er sich zu ihm, doch die geschlossenen Lider des Älteren versagten ihm jeden Blick in seine Seelenspiegel. „Amor“, flüsterte er leise, flehentlich. „Amor.“

Der Rothaarige öffnete die Augen und Petrus glaubte, sein Herz müsse ihm zerspringen. So viel Liebe lag in seinem Blick und doch glänzten die Tränen in ihnen. Er musste sich zwingen aufzuhören. Es ging nicht. Hier war die Grenze. Er gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn, doch kaum, dass er in der Bewegung innehielt, erschien ein neuer Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Gottes und in einer fast schon verzweifelten Geste legte er die Arme um den Hals des Wetterpatrons und klammerte sich an ihn. „Nein“, keuchte er und zum ersten Mal klang es nicht mehr als habe er Schmerzen. „Hör nicht auf! Bitte! Hör...bitte nicht auf...Bitte.“

Der heiße Atem an seinem Ohr war schlimmste Folter und seine Worte ließen sie nur noch exquisiter erscheinen. „Hör nicht auf, hörst du? Ich bin so glücklich, dass du...Ich will, dass du...“

Mit einem Kuss brachte Petrus ihn zum Schweigen. Er wollte nichts mehr hören. Was sollte ihn jetzt, da er seine Erlaubnis, sein Einverständnis hatte, noch aufhalten? Behutsam begann er sich wieder in ihm zu bewegen und diesmal hörte er nicht auf. Und kaum dass er den Entschluss dazu gefasst, kaum dass er erneut begonnen hatte, schon entspannten sich die Züge des Anderen und schon bald entlockte er ihm Seufzer, die tatsächlich nicht von dieser Welt schienen. Amor war gut, besser wohl als er es je sein würde. Und er war erfahren. Und so hatte er keinerlei Schwierigkeiten damit sich ihm anzupassen. Ihre Stimmen, wenn sie auch nicht miteinander konkurrierten, schienen sich doch immer wieder gegenseitig anstacheln zu wollen. Die Stimme des Engels, des Gottes, die seinen Namen rief, den klanglosen Namen eines einfachen Naturgeistes. Nie hätte er es sich träumen lassen und wäre es so gewesen, er hätte sich seiner geschämt. Nicht seines Geliebten, seiner selbst. Die Welt um sie herum verschwamm, löste sich auf und ließ nur sie beide zurück. Erst einmal begonnen war es einfach. Ganz und gar von der Liebe zueinander erfüllt, bewegten sie sich im gleichen Takt, zur selben lautlosen Melodie. Und sie selbst schufen Rhythmus und Musik. Nicht zügellos, aber voller Leidenschaft. Petrus wusste nicht ob er gut war – er hoffte es und wenn er dem, was Amor ihm zeigte und zurückgab Glauben schenken durfte, dann genoss er es ebenso sehr wie er selbst. Diesmal war es der Wetterpatron, der als erster das Feuerwerk, das Hochgefühl und die Gnade der Erlösung erfahren durfte. Und nur ein paar Sekunden später folgte Amor seinem Beispiel.
 

Sie redeten. Blieben einfach liegen, nackt wie sie waren und redeten. Redeten über alles mögliche. Nicht gerade über Gott, aber über die Welt, über das Wetter und alles, was ihnen sonst noch so in den Sinn kam. Ganz gleich was es war, wie bedeutungslos es auch zu sein schien. Es ging nicht darum was es war, sondern einzig darum dass sie redeten. Dass sie endlich wieder redeten. Und das taten sie. Inzwischen war es aufgeklart, die Wolken hatten sich verzogen und die Sicht auf einen sternenübersäten Himmel freigegeben. Petrus hatte sich nicht wirklich darum gekümmert, aber es spielte auch keine Rolle. Er war glücklich. Als habe seine aufgewühlte Seele endlich Frieden gefunden. Nach so langer Zeit. Er war glücklich. Und endlich, endlich sprachen sie dieselbe Sprache. Amor sah ihn an und lächelte. Dann rollte er sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und seufzte theatralisch. „Mannomann, da haben wir ja eine wirklich erstklassige Seifenoper hingelegt, oder?“

Dem Wetterpatron klappte die Kinnlade herunter und er schnappte nach Luft. Das war doch...! Ja durfte das denn wahr sein?! Er war sichtlich empört. „Und ich dachte immer ich wäre unromantisch“, grummelte er und sah den Älteren schmollend an. Der Rothaarige hatte sich aufgerichtet, sah ihn einen Moment lang perplex an und verfiel in schallendes Gelächter. Ein glockenklarer, absolut reiner Klang. Für jeden Musikfreund ein wahrer Genuss. Und ein gewinnendes, ja ansteckendes Lachen. Petrus stimmte zwar nicht ein, Lachen lag ihm nicht besonders, aber er konnte ihm auch nicht länger böse sein. Keine Chance. Er war wohl wirklich hoffnungslos verliebt. Wann hatte er den Anderen zuletzt so offenherzig, so frei lachen hören? Er konnte sich nicht daran erinnern. Also genoss er das seltene Vergnügen und sah dem Rothaarigen in seiner offensichtlichen Ausgelassenheit zu. Und freute sich mit ihm. Ein gutes Gefühl. Und in den goldenen Augen des jungen Gottes leuchtete die gleiche Verliebtheit, die gleiche sehnsüchtige Zärtlichkeit wie in den seinen. Und von jetzt an würde es immer so sein. Besser, intensiver, lebendiger als jemals zuvor. Nie wieder. Nie wieder wollte er ihn so verletzen. Amor sah ihn an, sein Blick war voller Zärtlichkeit. Seine weichen Lippen formten ein unendlich sanftes, glückliches Lächeln. Petrus erwiderte den Blick, neigte sich zu ihm und küsste den Älteren. Ja, von jetzt an würde es besser sein. Wir werden glücklich sein, dachte er, bevor sie gemeinsam einschliefen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Eispfote
2011-02-06T23:51:01+00:00 07.02.2011 00:51
Oh Gott! Das ist ja SO süß! <33
Hach *seufz*
Ich würde ja sinnvolleres schreiben aber mir fehlen die Worte. Mal davon abgesehen, dass ich müde bin, weil es viel zu spät ist. Aber ich konnte nicht aufhören zu lesen.
Ehrlich ich LIEBE diese Geschichte!
Am Anfang habe ich mich so kaputt gelacht und dann war es so süß und traurig und hach...

liebe verträume Grüße
Kusoka
Von:  kurayamide
2010-01-09T14:00:39+00:00 09.01.2010 15:00
Aww, ich mag deinen Stil so sehr! Es ist immer wieder sehr schön, etwas von dir zu lesen. Auch wenn es für die beiden nicht gerade ideal läuft... (rah, Petrus! Jetzt wissen wir, woher das schlechte Wetter kommt. D:)
WIN: die eingetreuten Kommentare zu gewissen anderen Göttern. Hach, war das gut. *Lachtränen aus den Augen wisch*
Von:  Isfet
2010-01-07T20:23:04+00:00 07.01.2010 21:23
wundervoll geschrieben!
die story gefällt mir auch sehr gut =)
dein stil ist einfach unglaublich !

lg
Von:  kurayamide
2009-06-26T13:29:13+00:00 26.06.2009 15:29
Wundervoll, wundervoll. Wie kommst du auf die Idee, ich würde es nicht mögen? (Mehr davon, bitte.)
Made my day!


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