Zum Inhalt der Seite

How can heaven love me

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kindlein, gute Nacht

Sei ganz leise, sei nicht ängstlich.

Schau, er hat dich doch so gerne.

Über deinem kleinen Bettchen

schaukeln Sonne, Mond und Sterne.
 

Damals war sie sechs gewesen.
 

Sie hatte nicht gewusste, weshalb das Gesicht des Mannes im Halbdunkel ihr Angst gemacht hatte, doch sie war aus ihrem Bettchen aufgestanden und hatte diesen ihr fremden Blick in seinen Augen gesehen. Sie war an ihm vorbei gestürzt und sie wusste nicht weshalb sie schneller gewesen war, doch sie hatte es nach draußen auf den Hof geschafft. Die Schritte hinter ihr hallten befremdlich laut in ihren Ohren und sie sah sich nach einem Versteck um.
 

Verängstigt rannte sie zu einem kleinen Holzhäuschen, eine Erinnerung an die Zeit, als es in dem alten Bauernhaus, in das sie gezogen waren, noch kein fließend Wasser und keine spülende Toilette gab.
 

Sie schloss sich dort ein, fühlte sich dort sicher.
 

Bis sie das Ruckeln an der Tür hörte, sah, regelrecht mit jeder Faser ihres Körpers spürte.
 

Die Tür war nur durch einen eisernen, verrosteten Riegel zugesperrt und sie sah sich panisch nach einer Fluchtmöglichkeit um, kletterte auf das Holz, schlug in dem Moment, in dem die Tür von außen mit einem heftigen Ruck aufgerissen wurde, der verrostete Riegel mit dumpfen Klirren zu Boden fiel, die Fensterscheibe mit ihren kleinen Fäusten ein. Sie hangelte sich hoch, ungeachtet der Scheibenreste, die auf ihr Gesicht rieselten, ungeachtet der scharfen Kanten, die noch in der Halterung steckten. Sie spürte nicht, wie sie sich die Arme und Beine aufkratze, wie das Blut sickernd langsam über ihre Wangen lief, spürte wie der Mann nach ihren Füßen griff.
 

Spürte wie alles schwarz wurde.
 

Damals war sie sechs gewesen.
 

Heute war sie vierzehn.
 

Und sie wunderte sich, wie sie die Jahre über verdrängen konnte, was damals passiert war; fragte sich, weshalb es nicht so hätte bleiben können, weshalb sie sich in dunklen Träumen daran erinnern musste, weshalb sie nicht weiter in Vergessenheit hatte leben können.
 

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine flüchtige Bewegung und sie zuckte zusammen, registrierte den verblüfften Blick des Mannes neben ihr, der nach dem Salzstreuer vor ihr greifen wollte aber ob ihrer Reaktion mitten in seiner Bewegung inne gehalten hatte.
 

Wenn ihre Mutter nicht darauf bestehen würde, zumindest eine Mahlzeit am Tag zusammen als Familie einzunehmen, wäre sie schon längst aufgestanden und hätte sich in ihr Zimmer gesperrt.
 

Denn diese Stille war zerschmetternd.
 

Damals hatte sie dieses gemeinsame Abendbrot geliebt - und das darauffolgende Kartenspielen. Bridge. Mau Mau. Skat. Rommé. Sie hatten ihren Spaß und erzählten von ihrem Tag. Was ihnen Gutes oder auch Schlechtes widerfahren war.
 

Ihre Mutter hatte zumeist nur Negatives zu berichten.
 

Sie war Gymnasiallehrerin.
 

Nicht an ihrer Schule. Sie besuchte die Realschule.
 

Ihre Mutter beschwerte sich darüber, wie schwer es war, mit den Jugendlichen dieser Generation zurecht zu kommen und wie frech sie wurden. Heute zum Beispiel hatten sie ein Video von den dicken Herrn Jansen auf einen anonymen Tipp hin auf einem Videoportal gefunden. Er war gerade mitten in einer seiner langen, aufbrausenden Standpauken. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen, während die Schüler lachten und weiter unbekümmert auf den Tischen saßen und sich unterhielten und der Junge oder das Mädchen hinter der Handykamera weiterhin direkt auf den Jansen hielt, aus dessen Mund ein Faden Speichel hing.
 

Ihre Mutter war der Meinung, dass Videoportale mehr Verantwortung übernehmen und die hochgeladenen Videos vor der Veröffentlichung überprüfen sollten.
 

Sie erzählte von einem Lateinlehrer, der mit schwachen Würgemalen aus seinem Unterricht gekommen war, aber niemand auch nur annähernd daran gedacht hatte, ihn zu fragen, was passiert war. Der Lateinlehrer war das Lieblingsopfer der Schüler. Es war allgemein bekannt. Dass die Schüler seinen Unterricht nicht ernst nahmen, Pornos in seiner Stunde auf dem Fernseher abspielten, ihn mit Fruchtsaft übergossen und aus dem zweiten Stock auf seinen Kopf spuckten.
 

Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ging, denn die Hänseleien schienen immer weiter auszuarten. Ihre Mutter gab dem Mann nur noch ein paar Monate, spätestens bis zum Ende des Schuljahres.
 

Manchmal, eher selten, hatte sie auch etwas Gutes zu berichten. Das eine ihrer Schülerinnen sich für den Jugendschreibwettbewerb qualifiziert hätte. Ein anderer Schüler die internationale Französischsprachprüfung bestanden hatte. Dann gab es eine Schülerin, die bei einer bekannten Gerichtssendung mitgespielt hatte und das Video mit in den Unterricht brachte, um es jedem zu zeigen.
 

Doch diese Ereignisse waren rar.
 

Meistens hieß es nur Unterricht mit gelangweilten, verwöhnten Bälgern, die kein Interesse an Schule und Lernen hatten. Die den Tag über nur am Computer oder vor dem Fernseher hocken wollten, im Unterricht mit ihren Handys herumspielten. Tage, in den die Lustlosigkeit ihrer Schüler sie selbst mit herunter zogen, Tage, an denen sie weinend nach Hause kam, Tage, die vergingen ohne enden zu wollen.
 

Sie fragte sich, weshalb ihre Mutter sich dennoch jeden Tag zur Schule schleppte, weshalb sie nicht schon längst gekündigt und Floristin geworden war, wie sie es schon seit langer Zeit geträumt hatte.
 

Der Mann dagegen erzählte zumeist von positiven Erlebnissen seines Arbeitstages.

Er war Kindergärtner.
 

Er erzählte davon, wie viel Freude es machte, zu sehen, wenn Kinder ihre ersten unsicheren Schritte taten oder ihr erstes Wort lernten. Manchmal auch zum ersten Mal von allein ein Lied sangen. Er schimpfte über seine neue unfähige Kollegin, die nur eingestellt wurde, weil seine ehemalige Partnerin im Schwangerschaftsurlaub und danach zwei Jahre im Mutterschaftsurlaub sein würde, schimpfte über einen Neuzugang, ein einjähriges Mädchen, das jedes Mal spuckte, wenn es seinen Willen nicht bekam oder nicht essen wollte. Manchmal beschwerte er sich über die Eltern, die sich weigerten, mit den Erziehern im Kindergarten zusammen zu arbeiten, obwohl eine einheitliche Erziehung das Beste für die Kinder war.
 

Er erzählte viel, wenngleich er einer Schweigepflicht unterlag, und sie hatte stets angeregt und interessiert zugehört.
 

Doch nun vermutete sie, dass er etwas von seinem Arbeitsalltag verschwieg, woran sie nicht einmal denken wollte.
 

Sie hatte von ihrem Schultag erzählt. Von ihren Klassenkameraden und den Lehrern.

Heute hätte sie viel erzählen können, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie bekam kein Wort heraus, konnte ihrer Mutter nicht erzählen, dass Michael mittlerweile Chemikalienverbot bekommen hatte, weil er ständig alles verwechselte und sowieso kein Experiment zu Ende bringen könne. Dass Michael im Physikunterricht Dioden durchbrennen ließ und dann noch einen Stromausfall verursacht hatte.
 

Paris hatte mit dem Lehrer argumentiert, dass es nicht Michaels Schuld wäre, dass der Physikraum keine getrennte Stromversorgung besäße. Die Lehrer konnten doch nicht davon ausgehen, dass die Schüler alles korrekt nach Schaltplan einstöpseln konnten.
 

Der Lehrer hatte davon abgesehen, Michael aus dem Physikunterricht zu bannen, doch kaum war der Unterricht vorbei und die Schüler hatten den Raum verlassen, brach eine ungestüme Diskussion darüber aus wie Michael es wohl geschafft hatte, alles kurz zu schließen.
 

Michael wusste es selbst nicht.
 

Später am Tag stellte sich heraus, dass es einen Stromausfall in der gesamten Stadt gegeben hatte.
 

Das war auch Michaels Schuld, hatte Lars daraufhin lachend gemeint.
 

Michael, den die Nachricht über dem Stromfall im gesamten Stadtteil hatte aufatmen lassen, schien aufgrund der albernen Anschuldigung tatsächlich darüber nachzudenken, ob es wirklich seine Schuld hätte sein können.
 

Sie hätte erzählen können, dass Viagra sich über ein Buch ausgelassen hatte, das sie niemals lesen würde. Machte Anspielungen über einzelne Passagen, erzählte, dass die Frau im Buch es erregend fand, sich die Schamhaare von einem Mann abrasieren zu lassen. Das Buch war angeblich ein Bestseller. Seit Viagras Erzählung wusste niemand so recht weshalb. Nicht, dass die Klasse besonders belesen war.
 

Michael hätte es vielleicht gekannt. Viagra hatte ihn gefragt. Tatsächlich hatte er verächtlich zugegeben, schon davon gehört zu haben.
 

Die Klasse wollte nicht einmal mehr etwas davon hören.
 

Dafür wollten sie von Cindy hören, wie sie Leon und Markus knutschend am Hinterausgang unter der Steintreppe gesehen hatte. Aber in diesem Moment betrat Markus den Klassenraum und sie verschoben es auf später.
 

Andreas beschwerte sich bei Fab, dass eine Zwanzigjährige ihn auf der Straße blöd angemacht hätte, weil er sein Papier auf den Boden hatte fallen lassen. Falko hatte es auch gesehen und sich neben die Frau gestellt, enttäuscht den Kopf geschüttelt.
 

Andreas hätte danach ein schlechtes Gewissen gehabt und sich vorgenommen, jeden Müll, an dem er vorbei kam aufzuheben. Nach dem zehnten Tetrapack hatte er, fluchend auf die Verschmutzer aufgegeben, und sich gefragt, wo Falko die Geduld her nahm, alles aufzuheben, was ihm unter die Augen kam und danach eine alte Frau angemotzt, weshalb sie ihre Zigarette nicht im Aschenbecher neben sich ausdrücken konnte, sondern auf dem Boden austreten musste.
 

Die Frau hatte ihn beleidigt taxiert, bis sie die Blicke der Umstehenden bemerkt hatte. Sie hätte wohl ganz schnell die Zigarette aufgehoben und weggeworfen.

Andreas hatte sich danach gut gefühlt.
 

Falko war stolz auf ihn.
 

Andreas würde dieses Verhalten trotzdem nicht wiederholen.
 

Sie hätte erzählen können, dass Michael und Paris eine Eins in ihrem Deutschaufsatz bekommen hatten. Sie hatte nur eine drei. Aber sie war zufrieden. Sie hätte Michael gratulieren können, aber als sie ihn ansah, hatte er sich abgewandt.
 

Dann hatten sie ein Schuh am Hinterkopf getroffen.
 

Zuerst hatte sie nicht einmal realisiert, was passiert war, bis sie den Schuh auf den Boden hatte prallen hören, den flüchtigen Schmerz gespürt hatte. Sie hatte sich daran erinnerte, dass es die Woche davor ein Fußball in der großen Pause gewesen war und in der selben Woche ein Volleyball im Sportunterricht.

Sie hatte die Hände über ihren Hinterkopf zusammen geschlagen, als versuchte sie den dumpfen Schmerz zu mildern, hatte die Augen geschlossen und sich auf die Unterlippe gebissen, versucht verräterische Laute zu unterdrücken. Es gäbe keinen Grund zum Weinen, redete sie sich ein, es wäre ein Unfall, genauso wie der Fußball letzte Woche, genauso wie der Volleyball im Sportunterricht. Lars hatte sich entschuldigt, sie hatte es hören können. Paris hatte mit ihm geschimpft und ihre Klassenkameraden gefragt, ob alles in Ordnung wäre, ob sie sich weh getan hätte.
 

Es waren ungünstige Zufälle, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten.
 

Das war alles.
 

Die Tränen hatten sich still gesammelt, tropften auf ihren aufgeschlagenen Hefter, sodass die Tinte der geschrieben Buchstaben aufquoll, sie unleserlich machten. Sie war aufgestanden und hatte sich auf der Mädchentoilette versteckt, hatte nicht gewollt, dass die anderen sie weinend sahen, hatte nicht erklären wollen, weshalb sie geweint hatte, denn der Ball hatte nicht wehgetan.
 

Sie hätte erzählen können, wie niemand sie angesehen hatte, als sie danach zu spät zum Englischunterricht kam, verängstigt leise die Tür geöffnet hatte, weil die Finke für ihre Strenge bekannt war.
 

Doch die hatte nichts gesagt, schien nicht zu bemerken, dass sie den Raum betrat – vermutlich hatte sie nicht einmal bemerkt, dass sie nicht im Unterricht gesessen hatte.
 

Sie hätte ihrer Mutter sagen können, wie weh es getan hatte, als niemand in der Pause später mit ihr hatte reden wollen, dass sie nichts von dem nicht ganz so heimlichen Treffen zwischen Markus und Leon mitbekommen hatte.
 

Sie hatte nie im Mittelpunkt gestanden, doch sie hatte dazu gehört.
 

Nun gehörte sie nicht mehr dazu, und das Kichern der Mädchen, die an ihr vorbeigegangen waren, ließ es sie nur noch deutlicher spüren.
 

Sie hätte all das sagen können, doch stattdessen hatte sie das fade Abendessen in drückender Stille über sich ergehen lassen.
 

Sie hätte all das sagen können, doch stattdessen war sie nach dem Abendbrot wortlos aufgestanden, hatte den Tisch abgedeckt und sich in ihrem Zimmer eingesperrt. Hatte eine Schnur von ihrem Türgriff bis zum gegenüberliegenden Fenster gespannt, damit niemand die Tür aufbekam, hatte die Kommode vor ihren Kleiderschrank geschoben und die Griffe mit einem Strick umschlossen.
 

Sie hatte sich auf ihr Bett gesetzt, ihren großen Teddybären, den sie letzten Monat zum Geburtstag von Cindy geschenkt bekommen hatte, fest an ihren Körper gedrückt und wachsam den Stimmen außerhalb ihres Zimmers gelauscht, bis sie irgendwann in einen unruhigen Schlaf gefallen war.
 

Geweckt von einem heißen Atem in ihrem Nacken.
 

Kindlein, lass dich küssen, Kindlein, gute Nacht...

Ob am Morgen, ob am Abend, sei es spät auch, sei es früh ... seine Liebe schlummert nie.



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Chokoteru
2009-10-11T18:15:30+00:00 11.10.2009 20:15
ich weiß gerade nicht ob ich weiterlesen will oder nicht ... nicht weil die geschichte schlecht geschrieben ist, das auf keinen fall!
Es ist nur so.. deprimierend, irgendwie. ich kann es gar nicht definieren wie ich mich gerade fühle, ich freue mich auf das nächste kapitel hab aber auch angst was mich erwartet XD
Ich hoffe die ganze Zeit dass mit Markus und der Protagonistin (wurde ihr name eigentlich genannt? ich weiß es gerade gar nicht >.<) was ich denke, aber.. mmh.
Mach auf jeden fall weiter! bitte! XD
Von:  Jitzu
2009-09-03T18:09:01+00:00 03.09.2009 20:09
Also langsam fügt sich einiges zusammen aber der Großteil des Puzzles fehlt noch. Spann uns doch nicht so auf die Folter! *wedel*

Ich bin insgesamt sehr beeindruckt bis jetzt. Originale sind immer ein schwieriger Fall, weil man als Leser nicht weiß was ungefähr auf einen zukommt, ob überhaupt etwas dabei ist was interessiert. Da muss gleich das erste Kapitel reinhaun sonst wird nicht weitergelesen. Du hast definitiv schon im ersten Kapitel beeindruckt. Und ich bin wirklich, WIRKLICH sehr auf die Fortsetzung gespannt.

Ach und ich liebe diese kleinen Leon-Markus-Einwürfe zwischendurch xD
Von: abgemeldet
2009-09-03T17:33:49+00:00 03.09.2009 19:33
...
Darf ich sagen, dass ich grad verwirrt bin?
Oo
War die Aufteilung nicht gestern noch anders, als ich es gelesen habe? XD
Nicht, dass es schlecht wäre, aber... *wimmer*


Zurück