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Code Geass: Fügung

Von missglückten Plänen und zweiten Chancen
von

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Fügung

„Du wirst diese Sache niemandem gegenüber erwähnen“, sagte Clovis zu dem hageren jungen Mann vor ihm, den er eigens zu diesem Zweck noch einmal zu sich bestellt hatte und der ihn nun aus großen Augen anstarrte. „Niemandem. Hast du das verstanden?“

Der bemitleidenswerte Soldat nickte eifrig, und als ihm klar wurde, dass das nicht genügen würde, presste er hervor: „Ja, Euer Hoheit.“

Clovis betrachtete ihn noch einen Moment länger mit eisigem Blick, dann nickte er. „Du kannst gehen“

Das ließ sich der Betroffene nicht zwei Mal sagen. Hastig salutierte er und verließ den Raum in einer Geschwindigkeit, die seinem Vorgesetzten Grund dazu gegeben hätte, ihn aufgrund himmelschreiender Respektlosigkeit bestrafen zu lassen, wären die Umstände andere gewesen. So jedoch konnte der junge Soldat sich glücklich schätzen, dass derlei Trivialitäten im Augenblick das Letzte waren, was Clovis la Britannia beschäftigte.

Der Dritte Prinz des Heiligen Britischen Reiches wartete, bis sein Untergebener die Tür hinter sich geschlossen hatte; dann wandte er sich wieder der Person zu, die in der Mitte des spärlich beleuchteten Raumes an einen Stuhl gefesselt war.

Sein kleiner Bruder hob den Kopf und bedachte ihn mit einem Blick, als wäre er ein verabscheuungswürdiges, wenngleich giftiges Insekt, und Clovis fragte sich, wie er diese Sache jemals wieder in Ordnung bringen sollte.
 

~
 

Lelouch hatte es schon lange aufgegeben, gegen seine Fesseln anzukämpfen, aber das hinderte ihn nicht daran, seinen Halbbruder hasserfüllt anzustarren.

Nachdem sein Vorhaben, die Welt zu verändern, auf unspektakuläre und erniedrigende Art und Weise gescheitert war, als ein übereifriger Soldat sich ohne ausdrückliche Erlaubnis in Clovis’ Kommandozentrale gewagt und die Geistesgegenwart besessen hatte, ohne zu zögern auf den bewaffneten Eindringling zu schießen, den er dort vorgefunden hatte, waren beinahe zwei Tage vergangen, in denen Lelouch nichts weiter getan hatte, als alleine in einer dunklen Zelle zu sitzen, Kerben in tristen Betonwänden zu zählen und darauf zu warten, dass sich irgendetwas tat.

Die Verletzung, die er bei seiner Gefangennahme erlitten hatte, war wie durch eine Fügung des Schicksals nichts weiter gewesen als ein Streifschuss, und so wunderte es ihn nicht, dass sein Halbbruder sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihm professionelle medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Dennoch fragte er sich, was Clovis damit bezweckte, ihn hier festzuhalten.

Er hatte erwartet, dass sein unliebsamer Verwandter ihn entweder still und heimlich beseitigen lassen oder versuchen würde, die Gunst des Kaisers zu gewinnen, indem er ihm kurzerhand ein politisches Werkzeug mehr zur Verfügung stellte, aber stattdessen hatte es für mehr als vierundzwanzig Stunden so ausgesehen, als hätte Clovis ihn ganz einfach vergessen – keine Nahrung, kein Wasser, nicht einmal Wachen vor seiner Zelle, und Lelouch hatte bereits zu glauben begonnen, sein Bruder hätte beschlossen, sich seiner auf diese Weise zu entledigen, ohne sich dabei selbst die Hände schmutzig machen zu müssen.

Aber dann war plötzlich derselbe dunkelhaarige Mann erschienen, der ihn zuvor auch angeschossen hatte, und hatte Lelouch in diesen Raum gebracht, der beinahe ebenso karg eingerichtet war wie seine Zelle, aber ganz offensichtlich für Befragungen gedacht war. Lelouch hätte sein Geass an dem Soldaten einsetzen können, aber zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht gewusst, dass es kein zweites Mal Wirkung an Clovis zeigen würde, und in seiner Ignoranz hatte er sich in sein mögliches Verderben führen lassen wie ein Lamm zur Schlachtbank; nur, weil er die Sache mit seinem Bruder so subtil wie möglich hatte zu Ende bringen wollen.

Widerstandslos hatte er sich an den sichtlich betagten, aber soliden Stuhl aus dunklem Holz fesseln lassen und anschließend ungerührt dabei zugesehen, wie der Soldat, der ihn die ganze Zeit über nicht einmal eines Blickes gewürdigt hatte, den Raum wieder verlassen und die Tür hinter sich verriegelt hatte. Dann, wenig Stunden später, war Clovis eingetreten und hatte ihn mit nichtssagender Miene betrachtet, und Lelouch hatte den Blick erwidert und ihm befohlen, seine Fesseln zu lösen.

Als sein Bruder die Anweisung nicht sofort befolgt und ihn lediglich überrascht angestarrt hatte, war Lelouch für einen langen Moment perplex gewesen; aber dann hatte er begriffen, und als sein Bruder auf ihn zugekommen war, die Hand unter sein Kinn gelegt und ihm direkt in das rotglühende Auge gesehen hatte, hatte Lelouch nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

„Geass…“, hatte Clovis gesagt, in kaum mehr als einem tonlosen Flüstern, und Lelouch hatte sich gefragt, woher sein Bruder diese Bezeichnung kannte.

Für die Dauer mehrerer Atemzüge hatte Clovis ihn einfach nur angestarrt, ungläubig, beinahe furchtsam, und doch wie gebannt von der übernatürlichen Macht, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Dann hatte er sich von einer Sekunde auf die nächste wieder gefangen, war von ihm zurückgetreten und hatte seinen Untergebenen zurückgerufen, um diesem in einem merklich unterkühlten Tonfall Instruktionen zu geben, die Lelouch in seinem Verdacht bestätigt hatten: Clovis hatte nicht vor, irgendjemanden von seiner Existenz wissen zu lassen.

Und nun, da die einzige Ausnahme zu dieser Regel den Raum zum zweiten Mal wieder verlassen hatte, würde Lelouch vielleicht auch endlich erfahren, was der Gouverneur von Gebiet Elf stattdessen mit ihm zu tun gedachte.
 

Zu seiner großen Frustration jedoch schien Clovis es nicht sehr eilig mit Erklärungen zu haben, und kaum, dass er sich zu Lelouch umgewandt hatte, betrachtete er ihn auch schon wieder schweigend und mit einem Gesichtsausdruck, den Lelouch nicht zu deuten vermochte.

Also beschränkte der Junge sich darauf, ebenso wortlos zurückzublicken, wobei er keinen Hehl aus der Abscheu machte, die er für seinen Halbbruder empfand.

Auf diese Weise vergingen mehrere Minuten, bevor Clovis endlich sprach.

„Ich tue das hier wirklich nicht gerne“, behauptete der blonde Prinz dann und machte ein paar Schritte auf ihn zu. „Aber in Anbetracht der Umstände hatte ich nicht sonderlich viele Optionen.“

Etwa einen Meter vor ihm blieb Clovis stehen und sah abwartend auf ihn herab, und Lelouch stieß einen kurzen, höhnischen Laut aus. „O ja. Ich bin sicher, es bricht dir das Herz.“

„Lelouch…“

Die Stimme seines Bruders war weich, beinahe flehend, aber Lelouch achtete nicht darauf. Er schnaubte verächtlich. „Was kommt als nächstes, Bruder? Hast du vor, mich hier unten verrotten zu lassen, oder ist dir inzwischen etwas Besseres eingefallen?“

Clovis zuckte zusammen. „Lelouch…“

„Du bist erbärmlich, Clovis.“

Sein Bruder sah aus, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige verpasst, und für einen kurzen Moment empfand Lelouch Genugtuung, die größer war als seine Verachtung.

Dann wurden Clovis’ Züge wieder ausdruckslos, und er trat zurück. „Es tut mir leid, dass dir meine Gesellschaft so sehr zuwider ist“, sagte er tonlos. „Ich werde den Kaiser noch heute benachrichtigen. Spätestens übermorgen solltest du wieder in Britannien sein.“

Alles, was auf das Wort „Kaiser“ folgte, hörte Lelouch kaum noch. Bei der Erwähnung des Mannes, den er mehr hasste als alles andere, erstarrte er, und als ihm der Zusammenhang klar wurde, zog sein Magen sich schmerzhaft zusammen. Er hatte damit gerechnet, dass die Reaktion seines Bruders auf seine geringschätzigen Bemerkungen keine besonders angenehme sein würde – er hatte sich auf ein Spiel mit dem Feuer eingelassen und ganz bewusst die Hand zu weit in die Flammen gehalten. Aber im Nachhinein doch noch seinem schlimmsten Feind ausgeliefert zu werden, war die eine Sache, die ihm dabei nicht in den Sinn gekommen war, und ihm wurde schlecht, wenn er daran dachte, was das bedeuten würde.

„Ich werde die Umstände unseres Wiedersehens für mich behalten“, fuhr Clovis fort. Es war ein unnötiger Hinweis - Lelouch mochte Hochverrat begangen haben, aber sein Bruder hatte sich erstaunlich inkompetent gezeigt. Es war nur in seinem Interesse, die Ereignisse der letzten paar Tage niemals an die Öffentlichkeit dringen zu lasse - was auch der Grund dafür war, weshalb es Lelouch nicht gewundert hätte, wäre er einfach in den geheimen Kerkern unterhalb des Regierungsgebäudes vergessen worden.

Clovis' unbewegter Blick ruhte noch einen Moment länger auf ihm; dann straffte der blonde Gouverneur die Schultern und sagte ohne jegliche Betonung: „Bis irgendwann.“

Sein Bruder machte Anstalten, sich von ihm abzuwenden, und kalte Panik schlug ihre Klauen in Lelouchs Eingeweide.

„Warte“, befahl er hastig, und Clovis wartete tatsächlich. Lelouch erlaubte sich den Bruchteil einer Sekunde, um wieder Herr seiner Emotionen zu werden, und spürte, wie seine Furcht sich in etwas anderes verwandelte. „Es ist mir egal, was du mit mir machst“, sagte er, die Stimme eisig. „Aber ich schwöre dir, Clovis… wenn du diesen Mann über mein Überleben in Kenntnis setzt, wirst du es bereuen.“ Es war eine Drohung, die nicht weniger subtil hätte sein können. Ein riskanter Schachzug - hätte Lelouch noch irgendetwas zu verlieren gehabt.

Clovis, offenbar verdutzt, wandte den Kopf wieder in seine Richtung und starrte ihn an, und Lelouch hielt seinen Blick. Er würde nicht zulassen, dass Charles di Britannia noch einmal Macht über ihn erhielt, und noch weniger würde er ihm Gelegenheit geben, Eins und Eins zusammenzuzählen und auch Nanali ausfindig zu machen.

Und es gab nichts, was er nicht tun würde, um die Sicherheit seiner kleinen Schwester zu gewährleisten oder auch nur dafür zu sorgen, dass der Mann, der sich als ihr Vater bezeichnete, nicht noch mehr Grund zur Selbstgefälligkeit erhielt als ohnehin schon.

Er lächelte kühl. „Sie interessiert dich, nicht wahr? Diese Macht…“ Lelouch aktivierte sein Geass und sah unverwandt sein Gegenüber an. „Du hast das Mädchen verloren, das in der Kapsel war. Aber du hast immer noch denjenigen, dem sie diese Fähigkeit verliehen hat.“

Nun drehte Clovis sich wieder vollständig zu ihm um. „Was willst du mir damit sagen, Lelouch?“, fragte er, die Augen geweitet. „Dass ich meine Forschungen weiterführen soll? An dir?“

Lelouch lächelte noch immer. „Weshalb nicht? Du könntest sogar meine Kooperation haben… wenn du den Kaiser weiterhin im Dunkeln lässt.“

Clovis brauchte eine Weile, um seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen - dann wurde der Unglauben in seinem Blick von einem anderen Ausdruck abgelöst, den Lelouch unmöglich hätte näher definieren können.

Aber er rührte sich nicht, als sein Bruder wieder zu ihm herübertrat und ihm zögerlich die Hand auf die Wange legte. „Ich werde Vater nichts sagen. Nicht, wenn es dir so wichtig ist. Du musst nicht…“ Er hielt inne, holte tief Luft. „Du bist mein Bruder, Lelouch. Dich als Versuchskaninchen zu benutzen, ist das Letzte, was mir in den Sinn käme.“
 

~
 

Für einen Moment glaubte Clovis, so etwas wie Überraschung in den Augen seines Bruders aufflackern zu sehen, aber schon gleich darauf spiegelte Lelouchs Miene nichts mehr weiter als unverhohlene Verachtung wider, und Clovis zweifelte an seiner Beobachtung.

Bevor er die Hand jedoch wieder zurückzog, nahm er sich noch die Zeit zu registrieren, wie kühl Leouchs Wange war.

„Ist dir kalt?“, fragte er und schaffte es nicht ganz, sein schlechtes Gewissen zu verbergen. Er hatte sich nicht gerade verausgabt, um sicherzustellen, dass sein Bruder nicht mehr Unannehmlichkeiten über sich ergehen lassen musste als unbedingt nötig.
 

Lelouch sah ihn an und lachte, und Clovis lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ehe er sich versah, war er von seinem Bruder zurückgewichen.

„Lelouch?“, fragte er vorsichtig.

Aber Lelouchs Lachen verstummte nicht. Beinahe eine volle Minute lang hallte es an den Wänden der Kerkerzelle wider – ein verzerrter, grotesker Laut, der Clovis das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Erst eine ganze Weile später verebbte Lelouchs unerklärliche Erheiterung allmählich wieder und er setzte dazu an, etwas zu sagen; doch kaum, dass er den Mund geöffnet hatte, zuckte er plötzlich zusammen und schnappte nach Luft.

Im ersten Moment starrte Clovis seinen Bruder einfach nur an, ohne zu begreifen, was geschehen war; aber schon bald wurde es offensichtlich, dass Lelouch Schmerzen hatte. Die Gesichtszüge des Jungen hätten genauso gut in Stein gemeißelt sein können, aber der Ausdruck in den violetten Augen war der sturer Verbissenheit, und ein Schneidezahn presste sich so fest auf bereits blutende Lippen, dass schon das bloße Hinsehen wehtat.

Clovis’ Blick glitt vom Gesicht seines Bruders zu einer Stelle nahe seiner Rippen, von der er vermutete, dass die Kugel Lelouch irgendwo dort getroffen hatte. Laut des Verantwortlichen war es nur ein Streifschuss gewesen, aber selbst ein solcher dürfte ausgesprochen unangenehm sein, und Clovis musste zugeben, dass er sich nicht darum gekümmert hatte, dass sein Bruder die angemessene ärztliche Versorgung erhielt. Zu seiner Verteidigung ließ sich sagen, dass er die letzten zweiunddreißig Stunden damit verbracht hatte, den Schock zu verarbeiten, der nun einmal damit verbunden ist, von seinem totgeglaubten jüngeren Halbbruder um ein Haar eine Kugel in den Schädel gejagt zu bekommen, und dass es die Sache zusätzlich erschwerte, dass er den Vorfall selbst vor seinen engstem Beratern geheimhalten musste. Der Einzige seiner Untergebenen, der irgendetwas wusste, war der Soldat, der für Lelouchs Verletzung verantwortlich war, und selbst der wäre vermutlich längst auf mysteriöse Art und Weise verschwunden, hätte Clovis nicht jemanden gebraucht, der nicht vollkommen ahnungslos war, und hätte der Mann ihm nicht zufälligerweise das Leben gerettet.

So oder so aber war ein durchschnittlicher Soldat kein Mediziner, und Clovis fragte sich, was er sich dabei gedacht hatte, sich unter diesen Umständen so lange in seinen Gemächern zu verkriechen – lebenslanges Trauma hin oder her.

Nach kurzem Zaudern machte er wieder einen Schritt nach vorne und kniete sich neben seinen Bruder auf den Boden. „Lass mich sehen“, sagte er milde und schob vorsichtig den grauen Stoff der Militärsuniform zur Seite, die Lelouch noch immer trug. Dieser wirkte alles andere als begeistert, und es verriet etwas darüber, wie groß seine Schmerzen sein mussten, dass er nichts weiter tat, als ein leises Zischen von sich zu geben, als Clovis bei seinem Tun versehentlich mit der Wunde in Berührung kam.

Unmerklich zuckte Clovis zusammen, aber er entschuldigte sich nicht, sondern betrachtete abschätzend den behelfsmäßigen, aber fest anliegenden Verband, unter dem sich die Verletzung verbarg. Er war getränkt von Blut, das inzwischen allerdings getrocknet zu sein schien – immerhin etwas.

Doch das allein genügte nicht, um Clovis' Schuldgefühle nennenswert zu dämpfen. Er zögerte noch einen Augenblick, aber schließlich erhob er sich und trat hinter seinen Bruder. Dann ging er erneut in die Hocke und machte sich daran, Lelouchs Fesseln zu lösen.

„Ich würde es zu schätzen wissen, wenn du nicht versuchen würdest, mich zu töten“, sagte er mit einer Leichtherzigkeit, die er nicht empfand. Und dann, bevor er den letzten Knoten öffnete: „Ich werde dir nichts tun.“

Er legte das Seil neben sich auf den Boden und war erleichtert, als Lelouch nicht sofort aufsprang und versuchte, die Situation auszunutzen. Er bezweifelte, dass sein Bruder selbst in all den Jahren bedeutend weniger unsportlich geworden war, und in seiner momentanen Verfassung hätte er vermutlich ohnehin nicht viel ausrichten können; aber Clovis war selbst kein Athlet, und schon in seiner Kindheit hatte Lelouch einen Hang dazu gehabt, stets mehr als nur ein Ass in seinem Ärmel versteckt zu halten. Außerdem war das Letzte, was Clovis wollte, seinem Bruder noch mehr Schmerzen zuzufügen – und das würde er vermutlich unweigerlich tun, falls dieser ihn angriff.

Dennoch stützte er Lelouch nicht, als dieser sich auf die Beine kämpfte; er hatte keinen Zweifel daran, dass seine Hilfe unerwünscht war. Sein kleiner Bruder hatte schon immer einen die Grenzen der Vernunft übersteigenden Stolz besessen, und wenn er die Situation nicht unnötig verschärfen wollte, blieb Clovis nichts anderes übrig, als einen respektvollen Abstand zu wahren.

Zumal er sich eingestehen musste, dass er es ohnehin vorzog, sich einige Schritte hinter Lelouch zu halten... nur, um sicherzugehen.
 

Clovis geleitete seinen Bruder die verlassenen Korridore entlang. Es war bereits spät und da niemand ahnen sollte, was vor sich ging, hatte er die Wachen, die des Nachts normalerweise überall im Gebäude verteilt waren, rechtzeitig in den Eingangsbereich und diverse abgelegene Korridore geschickt, in denen sie nicht viel mitbekommen würden.

Die größte Gefahr für ihn im Augenblick war Lelouch, und hätte sein Bruder es in den Kerkern trotz der Fesseln geschafft, ihn zu attackieren, wären ein paar Wachen irgendwo außerhalb des Raumes vermutlich auch keine große Hilfe mehr gewesen. Nun, da er erfahren hatte, dass Lelouch eine Macht besaß, über die selbst er mit all seinen Nachforschungen so gut wie nichts wusste, erschien ihm seine erste Einschätzung der Lage umso treffender. An ihm selbst wirkte das Geass offenbar nicht – Clovis wusste nicht, warum, und vielleicht war es nur vorübergehend, aber er vermutete, dass es etwas mit seinen verschwommenen Erinnerungen bezüglich des Vorfalls in seiner Kommandozentrale zu tun hatte.

Nach zahlreichen Fluren und vier imposanten Treppen blieb Clovis vor einer aufwendig verzierten weißen Tür stehen. Neben ihm ging Lelouchs Atem keuchend, und er konnte nur ahnen, wie schlecht es seinem Bruder gehen musste, damit dieser so bereitwillig mit ihm kam – vermutlich tat er es nur, um seine Würde zu wahren.

Falls dem so war, machte er sich die Mühe umsonst. Clovis konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, in der er nicht beeindruckt von der stolzen, nervtötenden Art seines jüngeren Bruders gewesen wäre.

Aber er sagte nichts, als er Lelouch in das prunkvoll eingerichtete Gästezimmer führte, das normalerweise unangekündigten politischen Gesandten vorbehalten und in all seiner Zeit als Gouverneur noch nie benutzt worden war.

Erst, als sie vor dem großen Bett mit den seidenen roten Laken in der Mitte des Raumes ankamen, wies er Lelouch an, sich zu setzen.

Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob sein Bruder der Aufforderung nachkommen würde; aber er tat es, und aus irgendeinem Grund erleichterte Clovis das.

„Brauchst du sofort einen Arzt?“

Lelouch sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. „Es geht mir gut.“

Clovis schüttelte den Kopf. „Selbst, wenn es nicht so offensichtlich wäre, dass das eine Lüge ist, würde ich auf Nummer sicher gehen wollen. Heute oder morgen?“

Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als würde Lelouch ihn gereizt anfahren wollen; aber dann schloss er lediglich die Lider, als müsse er einen unerwarteten Anflug von Erschöpfung bekämpfen. „Morgen.“

Clovis musterte ihn abschätzend. Lelouch machte keinen sehr guten Eindruck, aber er sah auch nicht als, als würde er ihn Lebensgefahr schweben, und wenn er es vermeiden konnte, wollte er sich nicht einfach über die Wünsche seines Bruders hinwegsetzen. „In Ordnung“, sagte er daher schließlich. „Brauchst du noch etwas? Ich werde dir etwas zu essen und frische Kleidung bringen, und das Zimmer hat ein eigenes Bad, aber wenn es sonst noch irgendetwas gibt, was du…“ Er brach ab, als er bemerkte, dass Lelouch die Augen noch immer fest geschlossen hielt. „Ich werde mich auch nach einer Kopfschmerztablette umsehen“, schloss er, nicht ohne Mitgefühl.
 

~
 

„Leg dich hin.“ Clovis achtete sehr genau darauf, die Worte nicht wie einen Befehl klingen zu lassen. Bisher war Lelouch erstaunlich kooperativ gewesen, aber er hatte keine Ahnung über das Ausmaß dieser unerwarteten Willfährigkeit, und etwas sagte ihm, dass ein falsches Wort genügen würde, um Komplikationen heraufzubeschwören, denen er lieber aus dem Weg gehen wollte.

Sein Bruder zögerte einen Moment, aber dann senkte er den Oberkörper vorsichtig auf das große Kissen, das hinter ihm an der Wand lehnte. Dass seine Wunde noch immer schmerzte, war offensichtlich, aber es zeigte sich beinahe ausschließlich in der Art, wie er sich bewegte, und darin, wie er von Zeit zu Zeit nur sehr langsam einatmete oder sich kaum wahrnehmbar auf die Unterlippe biss.

Clovis gab ihm das Glas in die Hand und fragte sich, ob er die Tablette vielleicht noch nicht hätte hineintun sollen. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass sein Bruder glauben könnte, er wollte ihn vergiften, aber nun war er sich da nicht so sicher – ganz ohne jeden Zweifel hatte Lelouch keine sehr hohe Meinung von ihm, und wenn er ihm sogar zugetraut hatte, in das Attentat auf seine Mutter verwickelt gewesen zu sein…

Aber Lelouch setzte das Glas an die Lippen, ohne ihm auch nur einen skeptischen Blick zuzuwerfen, und das beklemmende Gefühl in Clovis’ Magengegend verschwand noch im selben Moment, in dem er es bemerkte.

„Gibt es jemanden, dem ich Bescheid sagen sollte, dass es dir gut geht?“, fragte er. Nanali? Der Name ihrer jüngeren Schwester hing zwischen ihnen in der Luft, aber Clovis sprach ihn nicht aus.

„Nein.“ Lelouch sah nicht von seinem Glas auf. „Niemanden.“

Clovis öffnete den Mund, um diese Aussage zu hinterfragen - aber dann erkannte er, dass es nicht der richtige Zeitpunkt dafür war, und schloss ihn wieder. „Ich lasse dich dann alleine“, sagte er nach kurzem Schweigen.

Sein Bruder sah weiterhin mit nichtssagender Miene auf das Trinkgefäß in seinen Händen hinab, und Clovis warf ihm über die Schulter hinweg noch einen letzten flüchtigen Blick zu, bevor er das Zimmer verließ.



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