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Schlaflos

Eintagsfliegen
von

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rote Hände

Minuit passé.

Aber das war zu erwarten.

Trotzdem ist jeder Muskel bis aufs Äusserste gespannt. Die Nerven kurz vorm zerreissen. Schlafen – nichts läge mir ferner, obwohl ich in meinem Bett liege.

Wie sind wir bloss hierher geraten? Warum kann ich nicht beruhigt schlafen? Warum muss ich mich fragen, ob er in diesem Moment stirbt?

Ich weiss es nicht.
 

Sekunde um Sekunde, jede einzeln gezählt. Wie eine lange Perlenschnur reihen sie sich auf einen hauchdünnen Faden. Da! Ein Geräusch! Ist er das? Leise geht die Tür auf und der Faden reisst. Alle Anspannung fällt von mir ab, Sekundenperlen wirbeln durcheinander, sind bereits vergessen. Er ist es.

Das spüre ich mit jeder Faser meines müden Körpers. Unglaubliche Erleichterung. Jetzt bin ich todmüde.
 

Eine gebrochene, raue Stimme durchbricht die Stille. Sie klingt rostig, wie zu lange nicht gebraucht – oder doch zu viel benutzt?

„Du bist ja noch wach…?“

Er hat es bemerkt, obwohl ich ihm den Rücken zudrehe und kein Geräusch gemacht habe.

„Natürlich“, müde lächelnd richte ich mich auf und drehe mich zu ihm. Ich erschrecke. Sein Hemd ist zerrissen. Seine Hände zittern wie verrückt. Sie glänzen in der hellen Dunkelheit. Schnell schalte ich die kleine Nachttischlampe an. Glänzen vor Blut. Das Hemd ist auch nicht mehr weiss. Langsam hebe ich den Kopf. Traue mich kaum, ihm in die Augen zu sehen. Meine Augen wandern langsam von den ausgestreckten Händen über das blutverschmierte Hemd zu seinem Hals, als nächstes kommt sein erstarrtes Gesicht und endlich die Augen. Ich kenne sie. Lachend, offen, ironisch, verschlossen, wütend, turbulent und absolut ruhig. So und anders habe ich sie bereits gesehen. Und jetzt?
 

Zersprungene Seelenspiegel. Sein Innerstes liegt offen. Verwirrt. Panisch. Sie wollen mich mit in die Tiefe ziehen, mich nie wieder ans Tageslicht lassen.

„Ist… ist das dein Blut?“ kratzig stelle ich die einzig wichtige Frage.

„Nein.“

Obwohl er es kaum flüstert widerhallt seine Antwort in meinem Kopf.
 

Nicht jetzt! Er braucht dich! Sei stark!

Kinn gehoben, Zähne zusammengebissen, Kopfhaut gespannt.

„Komm“, flüstere ich und berühre ihn vorsichtig, ganz behutsam an der Schulter. Ich habe Angst er könnte in tausend Splitter zerspringen. Ich führe ihn zur kleinen Dusche. Langsam, um ihn nicht zu erschrecken, lasse ich mich auf die Fersen sinken. Ich will ihn an den blutigen Händen zu mir herunter ziehen, doch er schreckt zurück. Ängstlichfragend blicke ich zu ihm auf. Er krächzt:

„Du wirst doch dreckig…“

Entschlossen greifen meine warmen Finger nach seinen eiskalten Händen.

„Das kann man doch abwaschen.“

Nur ein Murmeln, aber er setzt sich. Lässt zu, dass ich seine roten Hände kurz in meine nehme. Meine sind so winzig und weiss neben seinen. Schnell wende ich den Blick ab. Dann beginne ich, sein Hemd aufzuknöpfen. Er hat kaum Wunden. Einige Kratzer und bestimmt ein paar blaue Flecken. Wirklich verletzt ist nur sein Herz. Oder sein Hirn, wasweissich. Ist nicht wichtig jetzt!
 

„Mach die Augen zu.“

Ohne Widerspruch schliesst er sie. Seine Lider flattern. Ich will nicht, dass er sieht, wie das Blut in den Abfluss rinnt. Wieder berühre ich beruhigend seine Hände. Wasser anstellen, auf Körpertemperatur regulieren. Ich wasche seine Hände, seine Unterarme, seinen Oberkörper. Zuerst wird das Wasser ganz rot. Läuft zwischen die weissen Fliessen und färbt auch sie ein. Befleckt die unschuldigste aller Farben mit rot. Blutrot. Wird immer heller. Bis das rot ganz weg ist, bis die Fliessen wieder reinweiss sind.
 

Die ganze Zeit über sind seine Augen geschlossen. Er wird ruhiger, ich spüre es. Und dann, irgendwann, der Wunsch nach einem tiefen, traumlosen Schlaf. Also drehe ich den Wasserhahn zu. Keine Spur mehr. Alles wieder sauber. Einfach mit lauwarmem Wasser weggewaschen.

„Du kannst die Augen wieder öffnen.“

Schweigend blicken mich seine Augen an. Leere Fenster. Durchzogen von hauchfeinen Bruchlinien. Wie die Fäden eines Spinnennetzes.

„Komm“, sage ich weich, „wir gehen schlafen.“

Er nickt. Plötzlich sieht er uralt aus. Und unglaublich müde. Zwei Minuten später ist er in der Traumwelt. Ich hoffe für ihn, dass sie Gutes bereithält. Ich selbst warte. Warte, bis er ganz tief schläft. Warte auf den Moment, wo ich Schwäche zeigen darf.



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