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Going Under

von

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Sie schloss die Augen und beugte sich über ihren Schreibtisch. Er war übersät mit Briefbögen voller Zeichen und verlaufener Tinte, weißen, unschuldigen Blättern, Stiften, die in dem Chaos fast untergingen... Langsam ließ sie ihren Blick über das Durcheinander wandern und versuchte zwischen all den blauen und schwarzen Flecken der Tinte, die roten Kleckse nicht zu sehen. Eine letzte Träne tropfte aus ihrem Augenwinkel auf das Blatt, auf dem gerade erst ein Satz stand. Die junge Frau stieß ein Lachen aus, das vom vielen Weinen ganz heiser klang. Sie würde nicht mehr weinen, ihre Trauer erlosch wie eine Kerze, die vollkommen herunter gebrannt war und übrig blieb eine kalte, nackte Wut. Wut auf sich selbst, auf denjenigen, an den sie jetzt seit Stunden versuchte, diesen Brief zu schreiben, Wut auf das Leben selbst. Seit die Flamme ihrer Trauer erloschen war, saß sie in vollkommener Dunkelheit, das Einzige, was ihr geblieben war.

Sie warf das zerknüllte Papier hinter sich.

Ihre Hand tastete über den Schreibtisch. Irgendwo musste sie doch liegen... sie war da, das Mädchen wusste es... Immer schneller fuhr ihre Hand über die mit Papier bedeckte Fläche des Tisches. Sie konnte so nicht weiter schreiben, so gefangen in ihrer blinden Wut.

Endlich stießen ihre unruhigen Finger auf den kalten Metallgegenstand, den sie gesucht hatte. Schwach blitzte die Klinge im dämmrigen Licht, das von draußen hereinfiel. Bald würde es nicht mehr reichen, um irgendetwas zu erkennen, bald würde sie die Lampe anmachen müssen, wenn sie heute noch fertig werden wollte. Und das wollte sie, deshalb musste sie jetzt auch etwas gegen ihren ohnmächtigen Zorn tun...

Sie zögerte und stellte sich die Frage, sie sich in solchen Momenten stellen sollte: „Muss es sein?“ „Ja“, flüsterte eine Stimmer in ihren Gedanken. „Und muss es jetzt sein?“, hatte er immer gewollt, dass sie weiter fragte. Sie hörte seine Stimme, wie sie sagte: „Jetzt?“, sah seine Augen, die sie mal traurig, mal verzweifelt, mal hilflos und zum Ende hin immer öfter wütend angeschaut hatten. Sie hatte meistens genickt, den Kopf von ihm abgewandt. Nur manchmal war es ihr gelungen, ihn direkt anzusehen, „Nein“, zu sagen und ihm zu danken. Doch in diesem Augenblick schienen all ihre Gedanken zu schreien: „Ja, ja verdammt, es muss sein! Und zwar JETZT!“

Langsam schob sie den Ärmel ihrer engen Jacke nach oben. Ihre Hand zitterte, als sie die Klinge auf ihren Unterarm setzte und darüber hinweg zog. Ihre Augen folgten der Spur, die die Klinge auf ihrer Haut hinterlassen hatte, erst kaum sichtbar, dann leuchtend Rot. Blutstropfen bildeten sich und hinterließen Spuren auf der weißen Haut, als sie sie anpustete. Ein Netz aus roten Fäden zog sich über ihren Arm und ließ die Wut erlöschen, wie Wasser eine Flamme löscht. Immer schneller zog sie die Klinge über ihren Arm und aus dem Netz von Blutspuren wurde ein Netz aus Schnitten.

Wieder schloss sie die Augen und die Klinge entglitt ihren Finger. Wo war die Hand geblieben, die Stimme, die sonst „Nein“ gesagt hatte, die das hatte verhindern können? Gegangen... einfach weg... verschwunden. Für immer. Warum, verdammt nochmal, warum waren sie nicht mehr da? Warum war er nicht mehr da?

„Es ist egal, egal, egal...“, versuchte sie sich einzureden, bevor sie erneut in ihrem Zorn versinken konnte.

Mit einem leisen Klappern fiel die Klinge zu Boden. Sie hob den Kopf und ließ den Blick ihrer nun wieder geöffneten Augen erneut über den Schreibtisch wandern. Plötzlich entschlossen griff sie nach einem unbeschrieben Briefbogen und einem Füller. Sie würde nochmal beginnen, ein letztes Mal noch würde sie versuchen, einen Brief an den zu schreiben, wegen dem sie nun blutete...
 

Now I will tell you what I've done for you

Fifty thousand tears I've cried

Screaming, deceiving and bleeding for you

And you still won't hear me
 

Ihre Hand zitterte, sie ließ den Stift sinken und unterbrach das Schreiben. Jede Träne war verschwendet gewesen, dachte sie in ihrer unermesslichen Wut und doch sollte er es erfahren. Sie wusste nicht, ob er sich schuldig fühlen würde oder nicht und es interessierte sie auch nicht. Er hatte sie belogen. Hatte gesagt, er würde immer für sie da sein, ihr immer zuhören. Und jetzt saß sie alleine in ihrem Zimmer, das immer dunkler wurde. Jetzt hätte sie jemanden gebraucht, der ihr zuhörte. Mehrmals hatte sie in den letzten Tagen versuchte, ihn anzurufen, doch jedes mal hatte sie nur seine Stimme auf dem Anrufbeantworter gehört, höflich und freundlich wie immer. „Ich bin zur Zeit leider nicht in der Lage, an mein Telefon zugehen. Möglicherweise bin ich unterwegs, versuchen Sie es doch einmal auf meinem Handy. Die Nummer ist... Falls ich mich auch dort nicht melde, hinterlassen Sie einfach eine Nachricht nach dem Pfeifton. Sie können natürlich auch gleich eine Nachricht hinterlassen. Sobald ich kann, werde ich zurückrufen. Hinterlassen sie einfach Ihren Namen und – wenn ich Sie nicht kennen sollte – auch Ihre Telefonnummer auf dem Band. Sprechen Sie bitte nach dem Pfeifton...“ Dann der Anfang von „Wind of change“. Er hatte einmal gemeint, er würde die normalen Pfeiftöne grässlich finden und hätte sich deshalb für den Beginn dieses Liedes entschieden.

In den ersten Tagen in denen er nicht mehr mit ihr gesprochen hatte, hatte sie noch aufgeregt am Telefon auf die Stelle gelauscht, an der normalerweise der Gesang einsetzte und sie sprechen konnte. Verzweifelt hatte sie ihn gebeten, doch zurück zurufen, ihr zu erklären, was los war, aber er hatte nicht geantwortet, nicht ein einziges Mal...

Sie setzte den Stift wieder auf das Papier und ihr blutverschmierter Unterarm strich über die weiße Seite, wo er eine rötlich braune Spur hinterließ, die noch feucht im Licht der Straßenlaterne, die schräg gegenüber des Fensters stand, schimmerte. Eigentlich hätte sie wieder von vorne begonnen, im Versuch, ihm zu zeigen, wie gut es ihr ohne ihn ging, doch jetzt war es ihr egal. Sie hatte sich stark geben wollen, auch wenn sie es nicht war und es immer er gewesen war, der ihre Hand genommen und von der Klinge weggezogen hatte. Doch das war jetzt vorbei, ein für alle Mal vorbei.
 

Don't want your hand this time, I'll save myself

Maybe I'll wake up for once
 

Ein Tropfen Blut verdeckte das Wörtchen „save“ und machte es unleserlich. Würde er verstehen, was gemeint war? Würde er überhaupt etwas von den wirren Gedanken verstehen, die sie hatte? Sie verstand es ja selbst alles nicht richtig.

Als sie beschlossen hatte, ihm einen Brief zu schicken, war sie sicher gewesen, was sie wollte – am Rad der Geschehnisse drehen, zu einer Zeit zurückkehren, in der alles noch in Ordnung gewesen war. Sie hatte sich für all ihre Fehler entschuldigen wollen und wieder das Versprechen geben wollen, die Klingen endlich und endgültig wegzuwerfen. „Du brauchst sie doch gar nicht“, hatte er gesagt, „Schau, du hast meine Hand. Halt dich einfach an ihr fest, dann brauchst du sie nicht...“ Und immer wieder hatte sie nach seinen schlanken, kräftigen Finger gegriffen und sich fest geklammert. War dahin getrieben in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen.

Doch nie war es ihr gelungen, an die Oberfläche dieses Dahindämmerns zu gelangen. Immer wieder war seine Hand der ihren entglitten und in den letzten Wochen hatte er seine Hand auch immer öfter weggezogen. Sie hatte nicht verstanden warum... „Weil er bösartig ist!“, zuckte ein Gedanke durch ihren Kopf, „Weil er mit einem durchgeknallten Pyscho wie dir nichts zu tun haben will! Wundert dich das etwa? Jemand, der sich selbst die Arme aufschlitzt... Warum sollte so jemand Freunde haben?“

„Seid still!“, schrie sie und war überrascht, wie laut ihre Stimme geklungen hatte, „Ich hatte es doch geschafft... ich hatte es doch fast geschafft...“
 

Not tormented daily, defeated by you

Just when I thought, I reached the bottom

I'm dying again, I'm going under

Drowning in you, I'm falling forever

I've got to break through, I'm going under
 

Sie war sich nicht sicher, ob er das letzte Wort würde lesen können, so wütend und rasch hatte sie es aufs Papier gebracht. Es war ihr auch egal.

Ihr Blick fiel auf den Arm, auf dem das Blut inzwischen geronnen war. Die alten Narben stachen aus dem rostroten Geflecht heraus. Dick und wulstig, wenn sie zu tief geschnitten hatte und die Wunden sich entzündetet hatten, dünn und silbrig schimmernd einige andere, ältere Narben, die irgendwann verschwunden sein würden.

Doch selbst wenn nichts mehr zu sehen sein würde, wusste sie, dass es nie enden würde. Hatte er es auch gewusst? Hatte er sie deshalb aufgegeben?
 

Blurring and stirring the truth and the lies

So I don't know what's real and what's not

So I don't know what's real and what's not

Always confusing the thoughts in my head
 

Er hatte immer ganz sicher gewusst, dass sie aufhören musste. Alleine, mit seiner Hilfe, einer Therapie, wie auch immer. Sie hatte ihm meistens zugestimmt, jedoch nur selten den Grund verstanden - es war leichter gewesen, ihm zu zustimmen. Wenn sie über Dinge wie eine Therapie oder das Fortwerfen ihrer Klingen nachgedacht hatte und dabei nicht die Wärme seiner Hand in ihrer hatte spüren können, konnte sie nicht mehr erkennen, was richtig und falsch war. Alle Gedanken hatten sich vermischt und sie hatte nicht mehr klar denken können und nach einem Messer gegriffen.

Erst danach hatte sie erkannt, dass es das gewesen war, was er nicht wollte. Dass sie einmal mehr so gehandelt hatte, wie es falsch war. Und immer wieder hatte sie dann angefangen zu weinen, nicht wegen den Schmerzen, die sie kaum spürte, sondern weil sie etwas getan hatte, das er falsch fand. Sie hatte nach dem Telefon gegriffen, ihn angerufen und mit tränenerstickter Stimme um Verzeihung gebeten. Er hatte behauptet, sie verstehen zu können, dass es in Ordnung war und sie am Ende immer gefragt, ob er zu ihr fahren sollte. Mit dünner Stimme hatte sie ein ums andere Mal verneint und war am Ende doch froh und erleichtert gewesen, wenn er vor ihrer Tür stand und sie einfach nur in die Arme schloss, als wäre nichts gewesen...

Sie hatten nebeneinander auf dem Sofa gesessen, sie an seine Schulter gelehnt, meistens mit einem Verband um den Arm, und zugesehen, wie das Licht immer schwächer wurde. Oft hatten sie die ganze Nacht so verbracht.

Sie erinnerte sich noch ganz genau an den Klang seiner Stimme, als er einmal gefragt hatte: „Na, wie siehts jetzt aus? Kann ich dich alleine lassen? Kann ich dir vertrauen?“
 

Der Blick der jungen Frau wanderte zum Fenster, durch das sie die Straße nicht mehr erkennen konnte. Die Buchstaben auf dem Briefbogen vor ihr waren kaum noch zu erkennen und so machte sie ihre Schreibtischlampe an, die ein unangenehm kaltes und grelles Licht auf das Stillleben auf dem Tisch warf. Erst jetzt erkannte sie das Ausmaß von dem, was sie getan hatte. Was vorher nur undeutliche Schatten gewesen waren, stach jetzt schonungslos hervor.

Sie senkte den Blick auf den Brief, dieser Anblick war noch am erträglichsten.

„Ich habe damals gelogen... Er kann mir nicht vertrauen... niemand kann mir vertrauen...“
 

So I can't trust myself anymore

I'm dying again, I'm going under

Drowning in you, I'm falling forever

I've got to break through, I'm
 

Der Füller fiel klappernd auf den Tisch, als sie aufstand, um ins Badezimmer zu gehen und sich das getrocknete Blut abzuwischen. Im Dunkeln tastete sie sich zum Waschbecken und ließ Wasser über ihren Unterarm laufen. Sie wollte nicht sehen, was sie schon wieder angerichtete hatte, wollte es einfach nur vergessen. Sie hatte ihr Leben selbst zerstört und schämte sich dafür, so schwach gewesen zu sein... immer wieder war sie schwach gewesen und hatte gesagt: „Einmal noch.“ Soviel hatte sie verloren, weil es eben nie das letzte Mal gewesen war.

Sie stützte die Hände am Waschenbeckenrand auf und versuchte in der Dunkelheit ihr Gesicht im Spiegel zu sehen, doch da war nur ein dunkler Schatten, mehr nicht.

Ihr Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. Genau das war sie. Ein dunkler Schatten, mehr nicht. Und alle, die versucht hatten, sie aus ihrer Schattenwelt herauszuziehen, hatten aufgegeben. Und sie allein zurückgelassen. Er war eigentlich nur der Letzte gewesen.

Mit ruhigen Atemzügen versuchte sie, sich wieder zu beruhigen. Ganz langsam tauchte ein Gedanke in ihrem wirbelnden Bewusstsein auf: Ich möchte glücklich sein... und glücklich leben... und es ist egal, was er sagt oder tut, denn es geht nur um mich, nicht um ihn... ich brauche ihn nicht mehr...
 

Sie wandte sich vom Spiegel ab und kehrte an ihren Schreibtisch, der immer noch in das kalte Licht getaucht war, zurück. Der Brief lag noch unfertig auf der Tischplatte und wartete auf die letzten Zeilen.
 

So go on and scream

Scream at me, I'm so far away

I won't be broken again

I've got to breathe, I can't keep going under
 

Mit dem tief in ihrem Kopf verankerten Gedanken, ihn nicht mehr zu brauchen, mit dem Wissen, dass er in ihrem Leben keine Rolle mehr spielen würde, schrieb sie die letzten Zeilen nieder. Ihre Hand setzte den Stift ungewöhnlich kräftig auf und die Buchstaben wirkten so spitz und hart, als wollten sie jemanden verletzen.

Die Tinte schimmerte im Licht der Neonlampe – fast wie Blut, fand sie und beeilte sich, den Brief in einen Umschlag zu stopfen. Es kümmerte sie nicht, dass eine Ecke umknickte und die Schrift womöglich verwischte, alles sollte nur so schnell wie möglich vorbei sein...
 

Stunden später lag sie auf dem Rücken in ihrem Bett, den Arm zur Decke ausgestreckt.

„Heute war das letzte Mal!“, sagte sie sich, „Ab morgen wird alles anders...“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  -Yui_Hirasawa-
2009-11-19T22:37:56+00:00 19.11.2009 23:37
An dieser Stelle möchte ich auch dir nochmal Gelegenheit geben, bis spätestens Samstag Abend kleine Fehler die sich eingeschlichen haben zu korrigieren. (sind keine tragischen, aber könnten deine Bewertung am Ende doch leicht runterziehen) :)
Lg nochmal, Meeka
Von:  -Yui_Hirasawa-
2009-11-13T12:45:45+00:00 13.11.2009 13:45
Danke für deine Teilnahme am WB.
Du drückst dich gekonnt und gut aus, hast einen tollen, fesselnden Schreibstil und bringst gekonnt die Emotionen rüber.
Auch das Lied in Form des Briefes einzubinden halte ich für eine durchaus gute Idee, die dir auch gut in der Umsetzung gelungen ist.

Lg, Meeka


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