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Vom Panorama zur Postkarte

Über meine erste Liebe
von

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Toriis Sicht der Dinge

Je öfter ich ihn sehe, desto größer wird die Gewissheit. Die witzige Postkarte ist verzerrt – sie hat sich verändert und zeigt nun ein Trugbild; eine Illusion, die es niemals geben wird: Meine Lippen auf seinen Lippen. Meine Hände auf seinem Körper. Mein vom Orgasmus verzogenes Gesicht sich widerspiegelnd in seinen Augen. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Ich halte es nicht mehr aus. Jedes Mal sehe ich meine gescheiterten Beziehungen in meinem geistigen Auge und erkenne die Fehler, die ich machte. Die Schlechtigkeit, mit der ich jede Einzelne von ihnen behandelte und sie damit in die Flucht trieb.

Ich werde ihm sagen, dass ich an weiterem Kontakt mit ihm nicht interessiert bin. Ich muss es ihm sagen, sonst vernichtet mich seine Gesellschaft. Das Verlangen wird mit jedem Mal größer. Eines Tages werde ich mich nicht mehr zurückhalten können und einfach über ihn herfallen. Das würde ihn vernichten. Freundschaft – ich hatte geglaubt, es sei möglich. Ich könne ihn behandeln, wie in unserer Schulzeit. Ich könne Shibata und ihm meinen Segen geben, aber die Gedanken an ihre Beziehung, ihre traute Zweisamkeit, ausgetauschte Berührungen, Sex… Sie bewirken bei mir Brechreiz.

„Torii! Was ist heute los mit dir? Bist du in Gedanken?“ Er sieht mich besorgt an.

„Tut mir leid, Kamota. Ich… habe zur Zeit Stress ihm Büro.“

„Na, dann trink ordentlich und vergiß es! Alkohol hat da noch immer geholfen... Zumindest für eine Weile kann er das!“ Er lacht und unwillkürlich muss auch ich schmunzeln.

Ich lausche seinen Worten ohne Interesse. Sie plätschern dahin, aber seine Stimme klingt für mich wie knisterndes Feuer. Es entführt mich in die wildesten Phantasien, die ich bei unseren Treffen in die hinterste Region meines Gehirns verbannt zu haben glaube, damit ich sie nicht in die Tat umsetze. Der Klang zerrt sie jedes Mal von Neuem hervor und es kostet mich unglaubliche Kraft, sie wieder zu begraben.

„Hey! Hörst du mir überhaupt zu?“ Seine mahnende Stimme holt mich zurück.

„Heute kann ich mich einfach nicht konzentrieren. Ich sollte jetzt gehen.“

„Schon? Wir wollten uns doch noch diese neu eröffnete Bar ansehen. Du hast es versprochen!“ Er sieht mich vorwurfsvoll an und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Sorry.“, Ich stehe auf und ziehe meinen Mantel an. „Wir sehen uns.“ Ohne ihn noch einmal anzusehen gehe ich. Wieder eine Chance ungenutzt gelassen. Mir ist wirklich nicht zu helfen. Ein Trottel sondergleichen. Ich will ihn nicht wiedersehen. Nie wieder.

Daheim erwartet mich nichts und niemand. „Hallo, Schatz. Ich bin wieder zu Hause. Mist. Ich bin ja gar nicht verheiratet.“
 

Eine Woche Urlaub zu haben kann für jemanden in meiner Situation ziemlich hart sein. Zumal Kamota inzwischen täglich anruft, um mich zu sehen und mit mir eine Kneipentour zu machen. Um mich aufzuheitern, wie er es begründet. Dabei ist es seine Schuld, dass es mir so mies geht, dass ich Urlaub nötig habe. Dass ich Aufmunterung überhaupt nötig habe. Verdammter Kamota!

Seit zwei Tagen sitze ich neben meinem Telefon und erwarte einerseits sehnlichst, dass er anruft, und andererseits, dass ich endlich den Mut aufbringe und ihm sage, er solle zum Teufel gehen. Jedes Mal macht mein Herz einen gigantischen Sprung, wenn er sich meldet und dann erfinde ich eine neue Ausrede, um ihn nicht sehen zu müssen.

„Hey!“ Da ist sie wieder, diese unvergleichliche Stimme, die in meinen Vorstellungen erregt stöhnt und auf dem Höhepunkt meinen Namen keucht.

„Selber hey.“

„Ich habe beschlossen, dich notfalls mit Gewalt aus deiner Wohnung zu zerren, wenn du heute wieder absagst.“

„Kamota, ich habe dir doch erklärt...“

„Das ist mir vollkommen egal. Ich wette, du siehst schon wieder ganz ungesund aus, wie damals zu Beginn der High-School-Zeit! Ganz käsig und mit Augenringen von den Nächten, die du durchgearbeitet hast!“

Sie entstellen mein Gesicht tatsächlich, aber ich verschweige, dass meine Schlaflosigkeit bedingt ist durch die nicht zu verdrängende Vorstellung seines erregten Gliedes.

„Jedenfalls kommst du mit! Bevorzugst du Gewalt oder können wir das regeln wie zivilisierte Menschen?“

Ich pruste laut und erkläre: „Wann hast du dich je zivilisiert benommen?“

„Danke auch, alter Freund. Ich bin übrigens ganz in der Nähe deiner Wohnung.“

„Rein zufällig, nehme ich an? Und wo bist du?“

Plötzlich klingelt es. Ich stehe auf und öffne die Tür und komme mir sehr blöd vor. Kamota steht da und grinst sein übliches Grinsen. In Gedanken fluche ich lauthals. Ich sehe ihn tadelnd an und lasse ihn herein.

„Ich hatte also Recht! Du siehst wirklich beschissen aus!“

„Na und? Ich habe Urlaub, also kann ich auch ungesund aussehen!“

„Du hast Urlaub? Das trifft sich gut: Ich nämlich auch.“

Ich weiß nicht, ob ich meine Faust in seinen Magen rammen oder ihn küssen soll.

„Warum unternimmst du nicht zur Abwechslung mal etwas mit Shibata! Sie muss ja schon ganz eifersüchtig sein.“

„Wieso sollte sie?“

„So oft, wie wir in der letzten Zeit etwas unternommen haben...“

„Das interessiert mich nicht.“ Kamota wirkt mit einem Mal verstimmt. Dann fährt er fort: „Wir sind immerhin Freunde! Wenn sie eine Problem damit hat, dann soll sie es mir sagen. Bisher hat sie aber nichts dergleichen geäußert. Nun mach schon! Zieh dir etwas Anständiges an und dann ziehen wir los! Vielleicht finden wir ja auch endlich eine vernünftige Freundin für dich.“ Er grinst.

Ich sehe keine Chance, mich ihm dieses Mal zu verweigern und ziehe mich um. Dann streifen wir durch die Stadt. Wir trinken und reden und ich schlage geistig mit dem Kopf gegen eine Wand. Erneut lasse ich mich auf diese überaus grausame Art und Weise quälen und kann einfach nichts dagegen machen.

„Hey, Sanada!“ Kamota ruft einer kleinen zierlichen Person zu und winkt. Sie löst sich von zwei anderen Leuten und geht ihm entgegen.

„Hallo, Kamota!“, Sie redet kurz mit ihm und erblickt dann mich. Ich glaube ein Aufflackern in ihren Augen zu erkennen. „Hallo, Torii!“

„Guten Abend. Schön, dich mal wieder zu sehen. Bist du mit Freunden unterwegs?“ Ich deute mit dem Kopf auf die zwei Personen, die etwa zehn Meter von uns entfernt warten.

„Ja, wir ziehen ein bisschen durch die Gegend. Oh, wollt ihr mit zum Karaoke? Zu dritt schien uns das zu langweilig, aber wenn ihr euch uns anschließt...“ Bevor ich Widerspruch einlegen kann, sagt Kamota auch schon zu.

Wir sitzen in diesem kleinen Raum und ich finde, dass Sanada zu nah neben mir sitzt. Um etwas Abstand zu gewinnen, lange ich auf einen Teller und rutsche dabei unauffällig einige Zentimeter weg. Während Kamota und einer der anderen sich die Seele aus dem Leib „kreischen“, überkommt mich das Gefühl, dass ich ein wenig mit Sanada reden sollte. Smalltalk hat noch niemandem geschadet.

„Ich hörte, du hättest dich verlobt?“

Sanadas Blick wird ärgerlich. „Ich wäre dir dankbar, wenn du dieses Thema in meiner Gegenwart nicht erwähnen würdest.“

„Läuft es denn nicht gut?“ Es interessiert mich nicht wirklich, aber der Anstand gebietet es zu fragen und aufbauende Worte zu finden.

„Ich habe mich von ihm getrennt! Er ist ein Einfallspinsel und ein notorischer Fremdgänger. Und so etwas soll ich heiraten?“

„Nein, du hast wirklich etwas Besseres verdient. Es wird sich schon Mr Right finden.“

„Vielleicht hast du recht.“ Mit diesen Worten rutscht sie wieder näher an mich heran. Wir unterhalten uns weiter über dies und das und schmettern danach gemeinsam ein Lied über eine verlorene Liebe. Als die Gruppe im Begriff ist, sich aufzulösen, bittet Sanada mich, sie nach Hause zu bringen. Ihre Freunde seien alle in der entgegengesetzten Richtung wohnhaft und allein sei es für sie zu gefährlich. Kamota grinst mich an und macht Gesten, ich solle mit ihr gehen.

Ich willige ein. Ich weiß, was sie vorhat, aber es scheint mir eine willkommene Abwechslung von der Qual der letzten Wochen und des heutigen Abends zu sein. Vor ihrer Haustür geschieht genau das, was ich erwartet habe: Sie sieht mich erwartungsvoll an und ich folge ihr in die Wohnung. Eigentlich bin ich nicht der Typ für ein kurzes kleines Abenteuer, aber uns beiden ist wohl klar, dass wir uns danach ohnehin nicht mehr sehen werden und dass hemmungsloser Sex eine nette Ablenkung von unser beider Liebeskummer sein könnte.
 

Noch bevor Sanada am nächsten Morgen erwacht, verlasse ich ihre Wohnung. Es hatte nicht den von mir gewünschten Effekt gehabt. Ich wollte alles für eine kurze Zeit vergessen, einfach genießen und an nichts denken. Ich sah nichts anderes als Kamotas Gesicht und hörte seinen Stimme im Kopf, während Sanada sich auf mir bewegte.

Zu Hause dusche ich. Als ich ins Schlafzimmer gehen und mir etwas anziehen will, klingelt es an der Tür. Ich setze meine Brille auf, schaue durch den Spion und erkenne Kamotas ernstes Gesicht. Ernst? Das passt gar nicht zu ihm. Ich öffne sie ohne lange zu zögern und ohne mir bewusst zu sein, dass ich nur mit einem Handtuch bekleidet bin. Alles, an das ich in dem Augenblick denke, ist Kamota. Mal wieder. Nein. Wie immer. Es ätzt und nervt und ich könnte mich gerade wieder selbst ohrfeigen.

Unter Kamotas Augen sind große Schatten. Scheinbar hat er in der Nacht kein Auge zugetan. Er steht da, mustert kurz meine Erscheinung und seufzt.

„Kann ich hereinkommen?“ Seine Stimme ist leise und zittert.

Verdutzt lasse ich ihn herein und rubbele meine Haare trocken. Er lässt sich auf dem Sessel nieder. Einige Zeit sitzt er nur da und schaut unsicher auf seine Hände. Dann...

„Ich habe mich von ihr getrennt.“

„Von Shibata?“, Für einen kurzen Augenblick habe ich meine Stimme nicht ganz unter Kontrolle. Mein Tonfall klingt einerseits amüsiert und andererseits so, als ob ich mich bemühen müsste, mitfühlend zu wirken. Ich hoffe, er hat nichts bemerkt. „Wolltest du sie nicht heiraten?“

„Ja, schon, aber...“ Er steht auf, geht auf mich zu und küsst mich einfach.

Ich erkenne in diesem Moment so einiges: Dass ich ein Trottel gewesen bin. Dass ich schon längst hätte auf ihn zugehen müssen. Dass unsere Freundschaft auch auf der High School schon keine mehr gewesen war. Ich taumele und gehe gemeinsam mit ihm zu Boden. Ich schmecke ihn, spüre das starke Bedürfnis, ihn überall zu berühren und seinen warmen Körper auf meinem. Seinen beschleunigten Herzschlag. Seinen Atem. Ich stemme meine Hände gegen seine Schultern und drücke ihn von mir weg. Sicher ist es nur ein Scherz. Eines von seinen Spielen, die ich im Moment gar nicht komisch finden kann.

„Kamota...“

„Ich weiß, was du sagen willst, aber hör mir bitte kurz zu, bevor du mich zum Teufel schickst!“ Er sieht mich flehend an. Ich schweige und beobachte ihn, wie er die Wassertropfen auf meiner Brust betrachtet und dann mit seinen Fingerspitzen darüber fährt.

Da ich schweige, fährt er fort: „Ich wusste es damals schon. In der High School. Ich hatte mich dazu entschlossen, es dir zu sagen...“

„Wieso bist du dann mit Shibata ausgegangen?“

„Weil... Ich dachte, dass sie die perfekte Ablenkung sein könnte. Ich habe gelernt sie zu verliebt, weil wir beide, du und ich, uns ja irgendwie aus den Augen verloren hatten und du weit entfernt schienst. Erinnerst du dich noch an das Sommercamp?“, Ich bejahe. Wie könnte ich es jemals vergessen? „Ich habe das Bier heimlich allein getrunken, um mir Mut anzutrinken, damit ich es dir endlich sagen konnte, aber die Aktion ging ja nach hinten los. Und dann war sie da und ich...“

„Hast du dich meinetwegen von ihr getrennt?“

„Nein. Ja. Ich weiß nicht. Eine Zeit lang wollte ich sie heiraten, aber mit der Zeit habe ich vergessen, wieso ich das eigentlich vorhatte. Wir haben uns schon vor einer ganzen Weile getrennt. Es gab einen ziemlich hässlichen Streit, aber danach war ich erleichtert.“ Kamota seufzt.

„Und wieso gerade heute? Du hast dich die ganze Zeit nicht getraut. Warum ausgerechnet heute?“

„Wegen dir und... Sanada.“

Wütend entgegne ich: „Du hast mich doch ermutigt, mit ihr zu gehen! Wenn es dich störte, wieso...“

„Ich weiß es nicht, verdammt! Ich dachte vielleicht, es sei meine Pflicht als dein Freund oder so. Keine Ahnung. Nachdem ihr weg wart hat es mich plötzlich einfach nur noch angekotzt, dass ihr zusammen wart. Und dann... Ich habe eine sehr ausgeprägte Phantasie. Es kamen Bilder zustande... Du willst es gar nicht wissen. Es sah aus wie in einem schlechtgemachten Porno.“ Er zögert. „Torilein, ich liebe dich.“

Aus heiterem Himmel beginne ich zu lachen. Diese ganze Situation erscheint mir einfach nur absurd. Kamota liebt mich? Liebte mich die ganze Zeit über? Er litt, genauso wie ich die ganze Zeit gelitten hatte? Der oberflächliche, nervige, leichtsinnige Kamota? Lachen ist in manchen Fällen die Reaktion auf eine Situation, die man nicht versteht. Was bleibt mir also anderes übrig, als zu lachen? Alles ist einfach nur grotesk: Kamota, der auf mir sitzt, mich küsst und mir sagt, er liebe mich... Ich kann nicht anders als meine Lippen auf seine zu legen und seinen verwirrten und entgeisterten Gesichtsausdruck zu betrachten. Er scheint den Schock schnell überwunden zu haben.

„Torilein...“

Ich erzähle es ihm. Alles. Alles was ich gedacht habe. Alles, was ich gefühlt habe. Alles, was in meiner Phantasie entstanden war. Und das ich ihn liebe und ich mir dessen seit der Nacht bewusst bin, als das schöne Landschaftbild von Shibata und ihm am Strand entstanden war. Das Panorama hatte sich dann in die lustige Postkarte verwandelt und verliert jetzt gänzlich an Bedeutung. Für Shibata. Für Kamota. Und für mich.



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