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Ai shite iru

Eine Reise, die ihr Leben veränderte
von

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Die Malerin

Die Malerin
 

Sarah starrte den Spalt an, als ob er ein Weltwunder sei. Schmal war er, pechschwarz und er schien direkt ins Nichts zu führen. Ein leichter Lufthauch drang durch ihn herein, und in ihrem Zimmer machte sich Frühlingsluft breit. Und da draußen herrschte die Freiheit, hinter Riegeln und Ketten, Gittern und Schlössern.
 

So lange war sie nun schon gefangen in diesem Zimmer. Es war nicht mehr kahl wie am Anfang. Viele Bilder zierten nun die Wände, selbst gemalte und gezeichnete, mit Aquarellfarben, Acryl oder sogar Öl. Malen durfte sie, so viel sie wollte, und sie tat es ausgiebig, Ihre Motive wechselten, wie ihre Stimmungen. Grauenhafte Fratzen mit aufgerissenen Mündern, schneebedeckte Berge, liebliche Frühlingswiesen. Sie malte, was sie sah. Der Herbst war gekommen, hatte mit brutaler Gewalt die Blätter von den Bäumen gerissen, Sturm hatte über das Land gefegt, und endloser Regen machet die Landschaft so grau wie ihre Seele. Sie hatten sie aus dem Bett gezwungen, ihr die Decke vom zitternden Körper gerissen und gesagt, sie müsse etwas tun. Und Malen war das einzige, was ihr gefiel. Außerdem konnte sie das machen, ohne dass sie dazu Kontakt mit den anderen Insassen pflegen musste. Die blöde Gruppentherapie war ihr schon lästig genug.

Also malte sie, die verschneiten Gipfel in der Ferne, die dunklen Spuren im Matsch, die nervigen Mitbewohner. Weihnachten war vergangen, und sie hatte den Abend immerhin mit ihren Eltern verbringen dürfen. Wärter hatten sie gebracht, und die Wohnungstüre war sorgsam verschlossen worden. Aber sie hatte ein paar Stunden lang ein normales Leben führen dürfen. Sie machten ihr Hoffnung, im neuen Jahr, wenn sie sich weiter so gut hielte, dann dürfe sie vielleicht in die offene Abteilung, dürfe vormittags wieder arbeiten, die Insassen unterrichten, die vielen jungen Mädchen, die hier waren wegen ihrer Drogensucht, oder weil sie nicht mehr essen wollten. Später, wenn es ihr besser ging, sollte sie sogar wieder an ihrer Schule arbeiten dürfen. Aber das würde noch lange dauern.
 

Und so malte sie. Dabei konnte sie träumen, konnte ihren Gedanken nachhängen. Und auch, wenn sie sich im Tagtraum auf einer weichen Pelzdecke in einer Höhle befand, so malte sie nur die grünen Wiesen, die sie vor dem Gebäude sah, die Schneeglöckchen, die sich frech durch die glitzernde Hülle drängten. Frühlingserwachen, ein heiterer Himmel, langsam wärmende Sonnenstrahlen...nichts auffälliges, nur Hunde, keine Wölfe, nur Menschen, keine Dämonen. Nein, sie würde sich nie mehr verraten!

Sie hatte eisern geschwiegen, bei all den Gesprächen, den Therapien, den Befragungen. Nie mehr hatte sie ihn erwähnt, nie mehr von der seltsamen Welt jenseits des Brunnens erzählt. Es würde ihr eh niemand glauben. Sie galt als verrückt, mit Stempel und Siegel. Amtlich beglaubigt. Was sollte sie dagegen angehen?
 

Nicht einmal einer der Kranken hatte sie etwas erzählt, und die fragten sie ständig, wollten immer Geheimnisse wissen und ihr welche erzählen. Dass sie die Wärter bestachen, dass sie Sex mit ihnen hätten, und das sie fliehen würden, bald, ganz bald. Dafür würden sie ihnen die Türe offen stehen lassen, oder ein Fenster, und sie könnten verschwinden, für immer, in die Freiheit.

Aber sie waren immer noch hier, manche nur körperlich, der Geist war manchmal entschwunden, oder ausgegangen? Sarah kicherte. Einige von ihnen hatten wirklich viele Persönlichkeiten: die eine, die meinte, sie sei eine Skiabfahrtsläuferin, eine erfolgreiche Frau, schnell wie der Wind, die Regale voller Pokale. Vielleicht war sie das wirklich mal gewesen, aber jetzt war sie auch eine Fee, die fliegen konnte, die nachts angeblich als Geist um die Häuser flatterte. Keine üble Vorstellung. Besser als das blasse Ding, das ständig von einer Horde Ratten verfolgt wurde. Oder der dürren Rothaarigen, die sich immer noch für viel zu dick fand und ständig versuchte, ihr Essen wieder loszuwerden. Alle hatten sie mal lichte Momente, wo sie fragten, warum sie hier war, und erzählten, was sie erlebt hatten. Aber Sarah erzählte nichts. Sie wusste, dass die Ärzte die Patienten ausfragten über ihre Mitbewohner. Nein, in diese Falle würde sie nicht tappen. Sie traute niemanden mehr, nicht einmal ihren Eltern. Die hatten sie doch hierher gebracht.
 

Also tat sie, als ob sie sich freute, wenn sie kamen. Sie war gelehrig und folgsam gegenüber der Ärztin und den vielen Pflegern, und sie wartete geduldig darauf, dass sie alle lang genug überzeugt hatte, dass sie die Bedingungen lockerten. Und so lange malte sie.



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