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Ai shite iru

Eine Reise, die ihr Leben veränderte
von

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Geflohen

Geflohen
 

Immer noch durchsuchten sie ihr Zimmer. Die Schlüssel der Wärterin klirrten an ihrem Bund, als sie schnaufend die Wäsche durchwühlte, die Ärztin durchsuchte zum dritten Mal alle Schränke und ein Pfleger musste die Matratze aus dem Bett wuchten. Jeder Millimeter wurde untersucht.

Sie war verschwunden, ohne eine Spur. Einfach weg! Keiner wusste, wie sie das zustande gebracht hatte. Alle Fenster waren verschlossen, alle Türen zugesperrt. Sie hatte doch gar keine Möglichkeit gehabt, nach draußen zu gelangen und doch war sie nicht mehr da. Die Ärztin stöhnte. Man würde sie dafür verantwortlich machen. Natürlich war die Polizei längst verständigt worden, ebenso die Eltern, aber was würde das schon nützen? Die Patientin war klug genug, wenn sie hier entwischen konnte. Dann würde sie bestimmt auch draußen auf der Hut sein. Und die Polizei suchte nur, wenn ein Gewaltverbrecher entflohen war. Denen würde es egal sein, wenn eine harmlose junge Frau auf der Flucht war, die niemanden etwas antun würde… außer vielleicht sich selbst. Ja, sie würde verantwortlich gemacht werden, wenn ihr etwas passiert, sie wieder Hand an sich legen würde.

Sie wühlte weiter in der Kommode, durchsuchte die Sachen, irgendwo musste sie doch einen Anhaltspunkt finden, einen Hinweis, eine Verbindung. Warum war Sarah auf einmal geflohen? Wie hatte sie das angestellt? Hatte sie Hilfe? Eine andere Patientin? Ein Pfleger? Freunde von außerhalb? Und warum wollte sie weg?

Es ging so gut voran mit ihrer Heilung. Sie sprach gut auf die Medikamente an, sprach nie mehr von ihren wahnhaften Schüben, von diesem Mann, den sie sich eingebildet hatte, der seltsamen Märchenwelt, in die sie sich geflüchtet hatte. Kein Wort verlor sie mehr über ihn. Sie nahm an der Maltherapie teil, an den Gruppensitzungen. Sie war still und zurück haltend, ein scheuer Mensch, aber inzwischen frei von irgendwelchen Zwängen, von Fantasien, von Wahnvorstellungen.

Die Ärztin überprüfte nochmals das Bad, ob sie irgendwo Reste von Medikamenten entdecken konnte, leere Hüllen, verschüttetes Pulver. Auch in der Toilette schaute sie nach. Die Wirkstoffe wurden alle in Gelkapseln angeboten. Die schwammen hartnäckig auf dem Wasser und konnten nicht so einfach weggespült werden. Viele der Patientinnen hatten schon versucht, die Medikamente zu verweigern, hatten sie in Ritzen und Löcher getopft, versucht sie in der Toilette wegzuspülen. Aber so gewitzt wie die Kranken waren, waren auch die Schwestern. Sie kontrollierten den Mund, ließen sie die Zunge anheben um zu überprüfen, ob die Medis auch wirklich geschluckt worden waren. Und wenn die Frauen Ausgang hatten, wenn sie ihre Zimmer verließen, dann wurden diese gründlich durchsucht. Dafür gab es einen festen Plan, jedes Zimmer kam einmal in der Woche dran. Und in diesem Zimmer hatten sie rein gar nichts gefunden. Keine Fotos, keine Briefe, keine Post. Nichts! Schon gar keine versteckten Medikamente, keine Rückstände von weißem Pulver zwischen irgendwelchen Leisten.

Die Patientin schien keine Freunde zu haben, die sie mal besuchten. Nur die Eltern kamen regelmäßig vorbei. Ein paar ihrer Bilder hingen an den Wänden, viele mächtige Berge, Blumen, Motive, die aus dem Fenstere heraus zu sehen waren. Denn sie hatte bisher nicht nach draußen gedurft. Sie hatten sicher gehen wollen, dass sie sich nichts antat. Sie war schon mehrfach immer wieder weg gelaufen, immer nach Japan. Und dort hatte sie sich Mal um Mal in ein und denselben tiefen Brunnen gestürzt. Beim letzten Mal war sie um ein Haar dabei gestorben. Natürlich hatten sie längst alle Flughäfen in der Umgebung benachrichtigt, vor allem die Flüge nach Japan genau zu überprüfen. Ob sie es wieder tun würde?
 

Die Ärztin seufzte. Wie war sie nur entkommen? Sie schaute sich in dem kargen Zimmer nochmals um. Es war alles so unpersönlich, es gab keinen einzigen Hinweis. Kein Buch, keine Notizen, nichts. Auch keiner der anderen Ärzte oder Pfleger war irgendetwas Auffälliges aufgefallen. Sie kam regelmäßig und pünktlich zu ihren Sitzungen, sie malte ihre Bilder, sie war still und ruhig und es schien ihr gut zu gehen. Sie hätte ab Ostern in die offene Abteilung wechseln dürfen, und wenn es gut liefe, hätte sie noch vor den Sommerferien wieder ihre Arbeit aufnehmen können. Sie hatte so gute Fortschritte gemacht und nun das!

Niedergeschlagen erhob sie sich von dem Stuhl und forderte die anderen auf, die Suche abzubrechen. Sie hatten nichts gefunden, was auch nur einen Anhaltspunkt für die überrachende Flucht darstellte. Sie warf einen Blick zurück auf das Zimmer, die vielen Bilder, die die heimische Alpenlandschaft darstellten, mit einem schimmernden Pulver als künstlichem Schnee auf den langen Flanken der eisgrauen Berge.



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