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24 Tage - 24 Befehle (Oder: Der etwas andere Adventskalender)
von

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6.Dezember

6. Dezember
 

"I'm dreaming of a white Christmas

Just like the ones I used to know..."
 

"Let it snow, let it snow, let it snow..."
 

Farin müsste es eigentlich wissen. Aber er ist ja schon immer mehr der Kopfmensch gewesen. Jegliche Spiritualität verbannend, wie der Papst den Abort, die Rationalität auf ein Podest stellend, höher noch als das, was irgendwo dort oben an der Decke als sein Ego rumschwirrt.
 

Dieses eine Mal wäre es wirklich besser, würde er auf sein Unterbewusstsein hören. Aber nein. Der werte Herr Urlaub muss ja der Logik in seinem Kopf folgen, die Traumfetzen, die gespickt sind mit runden, stets unterschiedlichen Schneeflocken und untermalt von den schönsten Weihnachtsliedern, wegscheuchen wie lästige Fliegen. Ja, würde er es lieber besser lassen. Denn als Farin die Augen öffnet, meint er zuerst, blind geworden zu sein.
 

Weiß.
 

Weiß.
 

Weiß.
 

Erst als er seinen Blick vom Fenster nimmt, zu Wischmopp schaut, dessen Platz inzwischen wieder an seinem Fußende ist, weiß er, dass er durchaus noch in der Lage ist, seine Welt optisch wahrzunehmen. Und dass der schlimmste von allen Fällen eingetreten ist.
 

Schnee. Und das zuhauf.
 

Bibbernd, obwohl ihm noch gar nicht kalt ist, dreht der Gitarrist sich auf die andere Seite, nicht gewillt, auch nur einen Fuß heute vor die Tür zu setzen. Natürlich klingelt es ausgerechnet in diesem Moment an der Tür, wie sollte es auch anders sein? Sich die Decke über den Kopf ziehend, lässt Farin Bela Bela sein, übt sich in jahrzehntelang antrainierter Ignoranz gegenüber dem Drummer. Der würde schon aufgeben. Bei diesem Wetter sogar eher früher als später.
 

Die ersten fünf Minuten klappt das auch hervorragend. Die weichen Daunen des Kissens dämpfen das schrille Läuten der Türklingel wunderbar. Irgendwann aber scheint sich dieses durchdringende Geräusch durch den Stoff zu arbeiten, wie ein abgerichteter Schwarm Killerbienen Farins Ohren anzuvisieren. Den Schlagzeuger und seine ungewohnte Ausdauer (aber das passiert vielleicht, wenn man weiter keine Hobbys hat oder mit diesen nicht erfolgreich ist) verfluchend, richtet sich der Blonde dann doch schließlich auf, schlurft über seinen Flur, in den Ohren das Klingeln und von irgendwoher auch den Todesmarsch. Das Türgeläute stoppt genau in dem Augenblick, in dem Farin die Klinke herunterdrückt und entweder er wird wirklich alt und braucht für die kleinsten motorischen Aufgaben schon Stunden oder Bela hat sich Flügel implantieren lassen (der alte Angeber, der), denn als er die Tür öffnet, ist vom Drummer nichts zu sehen.
 

Dafür blendet ihn erst einmal das strahlende Weiß dieses ach so schönen Wintermorgens und er muss beinah die Augen zusammenkneifen, um über all diesem wunderehrlichen Schneetreiben sein Türchen auf der Fußmatte auszumachen. Dieses Mal ist es ein Korb. Bei näherer Betrachtung, die Farin natürlich im Inneren des Hauses durchführt, schön warm und trocken, kommt eine kleine Thermoskanne, eine warme Decke, in deren Innenseite eine Isofolie eingenäht ist, ein Buch und eine Nikolausmütze zum Vorschein. Als Farin diese auf den Kopf dreht, fällt ein klein zusammengefalteter Stadtplan, ein Ticket sowie der Zettel heraus.
 

"Sechster Befehl: Statte deinem Baumhaus mal wieder einen Besuch ab!"
 

Zuerst hebt sich nur eine Augenbraue Farins. Dann verzieht sich sein rechter Mundwinkel nach unten, dem nur allzubald der linke folgt. Er würde nie, nie, niemals diesem Schwachsinn Folge leisten. Nicht nur, dass draußen der schlimmste Wintereinbrauch seit Jahren tobt, er hat auch nicht wirklich Lust auf seine alte Heimat. Nicht umsonst wohnt er ganz weit am Rand von Berlin, fast außerhalb, fernab von jeglichem Trubel der Großstadt.
 

Bela soll sich gefälligst, wenn er schon an diesem idiotischen Adventskalender festhält, halbwegs vernünftige Aufgaben ausdenken. Da würde Farin ja wirklich lieber von oben bis unten Belas Haus schrubben.
 

Ohne dass Farin es selbst merkt, führt ihn sein Weg zum Schlafzimmer wo er sich gedankenverloren umzieht, schwarze Socken, schwarze Hose, schwarzer Pulli. Ja selbst die Unterwäsche in der gleichen Farbe. Perfekt für jede Beerdigung. Selbst als er sich auf dem Flur die dicke Daunenjacke (na, na, welche Farbe wohl?!) anzieht, denkt er sich nichts dabei. Viel zu sehr ist er mit seinem mentalen Boykott beschäftigt und damit, Verwünschungen der übelsten Sorte gegen Bela zu schicken.
 

Erst als der Gitarrist mit dem Korb in der Hand vor der Eingangstür steht, sich schon die ersten Schneeflocken in seinen Haaren einnisten und der Atem weiß vor seinem Gesicht tanzt, blinzelt er ein zwei Mal, als würde er aus einem langen Traum erwachen.
 

Kurz schüttelt er kurz den Kopf und zuckt dabei mit den Schultern, was dann doch ziemlich dämlich aussieht. Wenn er schon draußen war, konnte er ja dann doch diesen dämlichen Befehl befolgen und Bela beweisen, dass er nicht kleinbeigeben wird. Mit klammen Fingern zieht er die Wegbeschreibung aus dem Korb, die lachende Stimme des Drummers in seinem Kopf ignorierend.
 

*
 

Frustriert starrt Farin auf den Fahrplan vor sich, ein wenig wie ein zu groß geratenes, düsteres Rotkäppchen, so mit dem Korb in der Armbeuge. Hinter ihm liegt schon eine halbe Odyssee durch Berlin und nun ist er endlich an der Osloerstraße, seinem letzten Umsteigepunkt angekommen. Und auch wenn Farin es vor der Fahrt nach Frohnau graust, die noch mal über eineinhalb Stunden in Anspruch nehmen wird, irgendwie kann er sich des Gefühls der Nostalgie nicht erwehren. Und dem, dass genau das Belas Absicht war.
 

Grummelnd lässt der Gitarrist einer viel zu aufgetakelten Dame Platz, die mit wichtigtuerischer Miene immer wieder auf ihre Uhr guckt, verfolgt das sanfte Wiegen der Schneeflocken, die unschuldig weiß vom Himmel fallen, um dann ihr Ende als grauen Matsch auf Großstadtbeton zu finden. Irgendwie auch kein schönes Schicksal. Eben jener graue Matsch wird von quietschenden großen Reifen gegen Farins Hose gespritzt. Einmal mehr an diesem Tag fluchend, sieht er auf und entdeckt einen Bus der Linie TXL. Zwar nicht die Linie die er eigentlich nehmen muss, trotzdem kribbelt es in seinen Füßen. Er könnte diesen dummen Korb einfach stehen lassen, in den Bus steigen und nach Tegel fahren. Mit seiner Kreditkarte, die er genau wie seinen Reisepass immer dabei hat, wäre es so einfach sich in den nächsten Flieger Richtung Sonne zu setzen. Aber dann ist da wieder diese kleine Stimme in ihm, irgendwo in Herznähe, die ungewöhnlich tief für Farin ist und eher nach Bela klingt und als er es dann endlich geschafft hat, diese mundtot zu machen, ist der Bus auch schon abgefahren.
 

Dann eben weiter dem Schneerauschen zusehen. Ist ja eigentlich auch ganz hübsch.
 

*
 

Eine Station vor der Endhaltestelle ist der Bus wie ausgestorben. Keine Menschenseele befindet sich mehr darin, Farin fühlt sich leicht unwohl. Der Busfahrer beachtet ihn gar nicht, sondern starrt stur auf die Straße. Besser bei diesem Wetter. Farin klammert sich krampfhaft an die Haltestange, unsicher.

"Invalidensiedlung", vertönt eine aufdringliche Stimme die Haltestelle.
 

Eigentlich möchte er die mollige Wärme des Busses gar nicht verlassen. Aber irgendwo in ihm regt sich die Neugierde. Eine wirkliche Wahl hat er eh nicht, da der Fahrer ihn gleich galant aus dem Bus werfen würde. Das haben Endhaltestelle so an sich.
 

Deshalb tritt Farin hinaus in die klirrende Kälte und fragt sich zuerst, ob er tatsächlich noch in Berlin ist. Das Szenario erinnert mehr an einen Märchenwald. Dicht an dicht drängen sich die Bäume gen wolkenverhangenen Himmel. Der Schnee treibt unbeirrt weiter durch die Luft, vor Farin liegt ein kleiner geschlängelter Weg mitten in den Wald hinein.

Seufzend zieht er Belas gewohnt krakelige Wegbeschreibung aus der Tasche. Tatsächlich scheint es nicht mehr weit zu sein. Außerdem bemerkt Farin, dass ihm trotz der dichten Schneedecke alles extrem vertraut ist. Ohne den weißen Mantel hätte er wahrscheinlich jedes Steinchen erkannt und auf jede Wegbeschreibung verzichten können.
 

Farin stapft den kleinen Weg hinein in das dunkle Dickicht. Eine beruhigende Stille liegt über dem Wald, jeder Schritt Farins wird durch den Schnee gedämpft. Nach einiger Zeit verlässt er den kleinen Pfad und versinkt bis zu den Waden in Eiseskälte. Leise fluchend macht er große, schlaksige Bewegungen, um voranzukommen.

Glücklicherweise verirrt sich selbst der hartgesottenste Hundebesitzer seltener hierher und niemand beobachtet die bizarre Vorstellung.
 

Leicht außer Atem steht er schlussendlich vor einer großen Leiter aus Metall. Die ist damals definitiv nicht hier gewesen. Als er den Kopf in den Nacken legt, sieht er die ihm vertraute Gabelung des kahlen Baumes. Dort sind nur ein paar einsame Bretter geblieben, die Natur hatte sich ihr Revier zurückerobert. Farin sieht trotzdem das alte Baumhaus, sekündlich wird die Erinnerung klarer.
 

Mittlerweile nur noch neugierig und nicht mehr durch gewisse Schlagzeuger extrem genervt, klettert Farin rasch die Leiter hinauf und hockt sich zwischen die Astgabeln. Immer noch genauso bequem wie früher, die raue Rinde spürt er selbst unter den behandschuhten Fingern. Leicht bibbernd breitet er die Decke aus seinem heutigen Türchen über sich aus, greift zu der Thermoskanne und gießt sich eine Tasse des noch unbekannten Getränks ein.

Aufgrund des Geruchs stellt sich dies aber schnell heraus, handelt es sich um Pfefferminztee.
 

Moment. Irgendetwas ist da noch gewesen. Einen Blick in den Korb später, weiß Farin es wieder.

Das Buch. Das sicherlich interessanteste in diesem Korb hat er noch keines Blickes gewürdigt. Es überrascht ihn selbst.

Neugierig schnappt Farin sich das Buch und muss unbewusst grinsen.

Alice im Wunderland.
 

Farin kuschelt sich in die warme Decke, nimmt einen Schluck Tee und taucht ein in die Welt von Alice. Um ihn herum wird das Schneetreiben dichter und dichter, doch seit der weiße Hase mit zu wenig Zeit ihn abgeholt hat, nimmt er absolut nichts mehr wahr. Wie ein Verdurstender liest er Seite um Seite, grinst dabei manchmal oder atmet scharf ein. Er liebt dieses Buch. Die Illusion. Seine Umgebung ist nicht mehr wichtig. Erst wenn das letzte Wort gelesen ist, kehrt er zurück. Statt einem Wunderland der weiß-graue Wald mitten in Frohnau. Ein schlechter Tausch. Farin ermahnt sich gedanklich zum langsamen Lesen.
 

*
 

Es dämmert, die Flocken kommen noch schneller vom Himmel. Der Wind pfeift durch die kahlen Baumkronen, heult sein Lied in die bald beginnende Nacht. Als Bela durch die makellose Schneedecke stapft, versinkt er einige Mal tief. In der Hand hält er sicherheitshalber eine Taschenlampe, da bald die Dunkelheit den Wald wie Tinte durchtränkt. Ächzend legt er seinen Kopf in den Nacken und erkennt eine große Gestalt auf dem Baum vor ihm.

Es ist so klar gewesen. Bela weiß, warum er Farin sich nicht selber überlassen hat. Bücher und Farin sind eine gefährliche Kombination, wenn er sich nicht in einem geschützten Umfeld befindet.
 

"FARIN!"

Zuerst keine Reaktion. Gut eine Minute später kommt ein leises: "Bela?" aus der Astgabelung. Der Schlagzeuger hört das deutliche Zähneklappern nur zu gut.

"Ich würde mal sagen, wir gehen mal langsam zu meinem Auto..."

"Schon so spät?"

Als Antwort folgt nur ein Seufzen.
 

Farin erwacht langsam und registriert die bald beginnende Nacht und das dichte Spiel der Schneeflocken.

"Irgendwie ist das doch ganz schön...", Farin wollte den Satz nur denken, spricht ihn aber doch laut aus.

Das strahlende Weiß in Verbindung mit der schwarzen Nacht hat Charme. Auf seine eigene Art und Weise.

"Mhm?", brummelt Bela von unten.

"Der Schnee."

"Du hast doch schon nen Kälteschock."

"Jaja, ich komm schon runter."
 

*
 

Leicht panisch starrt Bela auf Farin.

"Deine Lippen sind blau und du siehst aus wie der Tod höchstpersönlich", sagt er trocken, doch der besorgte Unterton schwingt mit.

Farin winkt mit einer Hand ab und stapft still neben Bela her, der die Richtung vorgibt. Dass ihm in Wirklichkeit mehr als nur eiskalt ist verschweigt Farin einfach.

Plötzlich wird seine eisige Hand genommen und in die Hand des Schlagzeugers gepresst. Die ebenso behandschuhten Handflächen sind viel zu warm, als dass Farin sich dagegen zur Wehr setzen würde.

Hand in Hand, ein ziemlich bizarrer Anblick, stiefeln sie weiter Richtung Zivilisation.
 

*
 

Draußen vor Farins Fenster toben immer noch Schneeflocken. Doch irgendwie scheint sein morgendlicher Hass auf das Weiß zu verfliegen. Viel mehr hypnotisiert ihn das Gewusel vor seinem Schlafzimmerfenster so, dass er ohne Probleme in einen tiefen, traumlosen Schlaf fällt. Vielleicht ist Winter doch gar nicht so übel, wie Farin immer dachte.

Wenn auch kalt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Zofenluder
2009-12-06T17:53:00+00:00 06.12.2009 18:53
...(aber das passiert vielleicht, wenn man weiter keine Hobbys hat oder mit diesen nicht erfolgreich ist)...

HAHAHA XD Ich liebe sowas :D

Uh, Kitsch :D Wenn auch nur angedeutet. Ich finds supersüß. Die Geschichte wird ja von Tag zu Tag spannender :D Ich freu mich auf Morgen!

Von:  YouKnowNothing
2009-12-06T17:46:09+00:00 06.12.2009 18:46
Belaaa~! *-*
Hach, wunderschön! Ich war gerade so fasziniert von diesem Kapitel, dass ich nix von dem mit bekommen habe, was um mich rum passiert ist XD

aber, das ist auch einfach nur so unglaublich gut beschrieben... ich hab jetzt zwar noch mehr Hass auf den Regen, weil ich unbedingt Schnee haben will, aber trotzdem, das ist alles total süß X3~
Herrlich, das freute mich sehr, mich verkitschtes Etwas... XD
ist aber auch zu süß, wie Farin sich langsam mit dem Schnee anfreundet, auch wenn er erst mal halb erfriert... Aber trotzdem, toll!
Und Bela ist wieder da *lacht*
schön... freut mich, dass er den bekloppten Blonden rettet ^.^
total toll!

LG S-M ;)
Von:  Slythericious
2009-12-06T17:45:31+00:00 06.12.2009 18:45
awwwwwwwwwww *_______*
wie niedlich!*quietsch*
wir nähern uns langsam dem an was wir haben wollen^^
die geschichten werden ja nahezu von tag zu tag knuffiger <3

ich guck schon den ganzen tag immer mal wieder ob die neue geschichte denn jetzt on ist und endlich hatte ich glück <3
ich freu mich schon auf morgen^^
Von:  yoshi_
2009-12-06T17:20:41+00:00 06.12.2009 18:20
Ich liebe es.

Besonders, dass Bela ihn abgeholt hat. *_*

Ausgerechnet heute, wo das Kapitel so schön lang und so schön fluffy war, haben euch alle im Stich gelassen... ich, die ich nur on bin um das Kapitel zu lesen, bin euch treu xD
Eigentlich sollte ich Spanisch lernen... eigentlich..

Zurück zu Farin und Bela. Hab ich schon erwähnt wie süß ich es finde, dass Bela Farin so schrittweise wieder an etwas wie "Leben" heranführt? *_*

xD Danke euch für meine tägliche Dosis Order.

Liebe Grüße

yoshi.


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