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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Zwischen Hoffen und Bangen

„Ich kam so schnell ich konnte“, erklärte sich Thorin hastig, ja, verteidigte sich regelrecht. Natürlich war dergleichen unnötig und Ishara vergeudete keine Sekunde damit, die Begrüßung mit Worten zu würdigen. Stattdessen nickte sie ihm zu, das Gesicht verzogen von Sorge, Gram und Kummer. Ihre Hand griff nach der Seinen und in Windeseile schloss Thorin mit seiner zweiten, im Vergleich geradezu überdimensionierten Pranke ihre zarten Finger ein. Sie zitterte leicht. Kaum spürbar, aber es war da.

„Danke“, erwiderte sie erst einige Augenblicke später, als ihre zügigen Schritte sie unlängst ins Innere des Hauses getrieben hatten.

„Wie stehen die Dinge? Wie geht es dir?“, platzte der Krieger hervor. Nun, da sie etwas gesagt hatte, schien ihm das Gebot des Schweigens gebrochen und obgleich sie nur noch wenige Schritte von der Tür zum Kinderzimmer entfernt waren, wollte er durchaus vor Betreten dessen gerne wissen, worauf er sich einstellen musste.

„Eirik tut, was er kann. Er kam gestern an und hat sich sofort an die Arbeit gemacht. Er meint, Anabelle hätte lediglich einen weiteren Schub, aber stärker ausgeprägt. Jedenfalls war das seine Erstdiagnose. Heute Mittag erklärte er, es gäbe ein arkanes Ungleichgewicht in ihr, das die Symptome hervorriefe. Es müsse ausbalanciert werden und… u-und er… Alistair ist auch da. Er… er versucht eigentlich die ganze Zeit, Elaine und Frederick zu beruhigen. Ich weiß nicht, wie gut ihm das gelingt, sie machen sich natürlich ebenfalls große Sorgen und… u-und…“

Als Ishara die Stimme versagte, trat der Hüne zügig heran und zog seine Tochter an sich. Die paar Meter zur Zimmertür konnten warten. Stattdessen versuchte er, beruhigend auf sein kleines Mädchen einzuwirken. Herzogin Ishara Lileth Wyrmblut würde immer sein kleines Mädchen sein. Hier und jetzt, mit jenem Zittern in der Stimme und jeder fahrigen Bewegung, mit dem wässrigen Blick und der leichten Blässe, da war sie es umso mehr. Er strich ihr über die Haare, flüsterte ihr leise zu, dass alles wieder gut werden würde. Ob dem tatsächlich so war, konnte er natürlich unmöglich sagen. Niemand konnte das. Vermutlich nicht einmal Eirik selbst. Der Magier war ein fähiger Heiler, aber eben nur ein Heiler, kein Wunderwirker.

„W-Wie geht es Ninafer?“, erkundigte sich Ishara einen Moment später, fast unhörbar leise und gegen seine Brust nuschelnd.

„Gut. Sie macht sich natürlich Sorgen, hat sich aber bereit erklärt, vorläufig die Dinge zu regeln“, erklärte der Kahlkopf. Er ließ unausgesprochen, dass er ohne ihre Unterstützung vermutlich nicht einmal hätte hier sein können – nicht jetzt schon, nicht so, nicht so lange. Nicht konsequenzlos.

Ishara nickte und löste sich langsam von ihm, die letzten Meter zur Tür überbrückend.

Thorin trat neben sie, die Hand an der Klinke und atmete nochmals tief durch. Ging in Gedanken durch, welches Bild ihn wohl erwarten würde. Stählte sich gegen den zu erwartenden Schlag in die Magengrube. Dann erst öffnete er die Tür und trat ein, von Ishara dicht gefolgt. Der Anblick war, trotz allem, beunruhigend.

Anabelle ruhte auf ihrem Bett. Das Mädchen schien zu schlafen – wenn auch nicht allzu ruhig. Immer wieder rutschte sie herum, drehte sich, zappelte regelrecht, ohne jedoch davon aufzuwachen. Oder zumindest ohne die Augen zu öffnen. An einer Seite ihres Bettes, auf einem kleinen Schemel, saß Eirik und wirkte seine Magie. Anabelle schien regelrecht zu glühen, ein unheilverkündendes Leuchten, das von ihr ausging und mühelos den Stoff der über ihr liegenden Decke durchdrang, davon lediglich gedämpft wurde. Das ergab nach den ihm bekannten Naturgesetzen absolut keinen Sinn. Die Decke war undurchsichtig und tat, was ihr Name implizierte: Anabelle abdecken. Zudecken.

Doch das war die Krux mit Magie. Sie folgte eigenen Spielregeln, die jene ohne Magie oftmals nur schwerlich begreifen konnten, wenn überhaupt. Und was Halon dort tat, sah auf den ersten Blick nicht unbedingt nach sonderlicher Hilfe aus. Er vollführte mit seinen Händen komplexe und offenbar irgendwelchen nur ihm bekannte Muster folgenden Gesten, murmelte leise Worte in einer ihnen fremden Sprache vor sich hin. Ab und an unterbrach er seine Arbeit – oder schloss sie ab, denn selbst das ließ sich nicht mit Bestimmtheit sagen – und trank einen Schluck aus dem am Nachttisch bereitstehenden Becher. Simples Wasser. Das viele Reden machte dem alten Mann zu schaffen, zumal die Reise nicht unbedingt angenehm oder belastungsfrei gewesen war und er sich keine Pause gegönnt hatte, sondern direkt an die Arbeit gegangen war.

Dann begann er direkt die nächste Formel, neue Gesten. Er saß nah bei Anabelle, aber nicht einmal berührte er sie. Thorin verzog leicht das Gesicht. Es war schwer, sich daran zu erinnern, dass Magie nicht auf dergleichen angewiesen war. Hier und da, abhängig vom gewirkten Zauber, mochte es die Sache leichter machen, aber im Grunde war es unnötig. Die Menschen aber waren aus irgendeinem Grund inzwischen so stark darauf konditioniert, zu erwarten, dass ein Heiler sie anfassen, herumdrehen, ihre Arme und Beine und Kinn heben müsse, als wären sie Gliederpuppen, dass es sich einfach falsch anfühlte, solch eine Szenerie zu sehen und als Hilfe zu empfinden. Dabei tat der Magier vermutlich mehr für Anabelle als es Susann, Ninafer und Reva zusammen gekonnt hätten.

Auf der anderen Seite des Bettes saß Alistair. Er hatte sich auf der Bettkante des parallel stehenden zweiten Bettes niedergelassen. Elaine hing an seinem linken Arm, Frederick lehnte unter seinem Rechten an ihm. Beide folgten stillschweigend seinem Blick zu Anabelle.

Thorin entging nicht, dass der Raum inzwischen größer geworden war. Ishara hatte das Kinderzimmer umbauen lassen, um Platz zu schaffen. Nicht nur für all die Kuscheltiere, all das Spielzeug, all die Geschenke von Gästen und Verwandten zu Anlässen, Geburtstagen, den Feiertagen der Götter. Nein, auch ein viertes Bett hatte sich eingefunden. Das wiederum war etwas, von dem der Krieger noch nichts gewusst hatte und zumindest vorläufig ließ er das auch unkommentiert. Hier und jetzt… ging es um andere, wichtigere Angelegenheiten.

Er löste sich langsam von der Tür, an der er mit Ishara erstarrt war und trat näher. Die Schritte hinter ihnen ließen Alistair und seine Kinder aufmerksam werden und sich umdrehen.

Thorin nickte Alistair zu und der sonst so unerträglich gut gelaunte frühere Gildendieb nickte schlicht mit ernster, erschöpfter Miene zurück. Augenringe zeugten davon, wie er seine letzte Nacht zugebracht hatte. Und damit nicht zuletzt auch, wofür genau Thorin – unter anderem – hier war. Zunächst setzte sich der Hüne wortlos ein kleines Stück neben Elaine. Das Mädchen löste sich von Alistairs Arm und kroch regelrecht bei Thorin unter.

„Hey, na du? Wie läuft es?“, erkundigte er sich. Wenig überraschend zuckte Elaine nur mit den Schultern und blickte zu Anabelle und Eirik herüber. Der Magier wirkte konzentriert, angestrengt. Als habe er die gesamte restliche Welt um sich herum ausgeblendet und in die vorläufige Nonexistenz verbannt – was vermutlich sogar den Tatsachen entsprach.

„Er arbeitet seit Stunden. Eigentlich seit gestern durch“, erklärte stattdessen Alistair, als Ishara ebenfalls auf das kleine Kinderbett gekrabbelt kam und sich hinter ihm auf die Knie setzte, um die Arme um ihren Liebsten und ihren Sohn zu schlingen.

„Habt ihr ihm auch was zu Essen gegeben? Er sieht ein wenig dürr aus“, bemühte sich Thorin darum, die Stimmung etwas zu heben.

Sein Versuch scheiterte kläglich, als Alistair, weiterhin ernst bleibend, einfach nur nickte. „Als er ankam aß er mit uns zu Abend. War nicht sonderlich üppig, aber immerhin etwas. Heute Morgen mussten wir ihn regelrecht zwingen, eine Pause einzulegen, damit er Frühstück hatte. Ich denke…“

Der einstmalige Langfinger ließ den Satz unvollendet, brach ab. Nach einem kurzen, flüchtigen Seitenblick zu Elaine. Das Mädchen war klug. Nicht nur belesen – obwohl sie, mit dem Gesicht ständig in Büchern steckend, daran auch kräftig arbeitete. Sie hatte einen von Grund auf fähigen, rasiermesserscharfen Verstand. Thorin brauchte nicht lange, um zu ergründen, warum Alistair nicht weitergesprochen hatte.

Halon war alt. Wie mancher andere Magier auch, hatte er einen Teil der Jahre, die seinen Körper verzehrt hatten, bewusst und bereitwillig verstreichen lassen, um sich selbst das würdevolle, weise Aussehen zu verleihen, das gemeinhin von Magiern – Heilern insbesondere – erwartet wurde. Es war eine traurige Wahrheit, das man einem jungen Heiler weniger Vermögen und Kompetenz zutraute als einem alten Zausel, dem man einfach schlichtweg unterstellte, das er schon Jahre und Jahrzehnte seinen Beruf mehr oder minder erfolgreich ausübte und darin schon allerhand gesehen, erlebt und erfolgreich geheilt haben müsse. Man verließ sich auf den Erinnerungsschatz hohen Alters.

Ein junger Magier konnte zwar zweitausend Jahre alt sein, aber solange man ihm das Alter nicht ansah, war er weniger vertrauenswürdig als der zweihundert Jahre alte Meister. Es war frustrierend, wie leicht sich ein Verstand doch täuschen ließ, aus nicht mehr als Gewohnheit und Erwartung heraus.

Einige weitere Jahre jedoch waren, wie bei vielen Magi, dazugekommen, weil es nunmal Situationen gab. Solche, in denen es schwierig war, ein magisches Elixier einzunehmen. Solche, in denen man die Einnahme des selbigen schlicht vergaß. Solche, in denen man die notwendigen Rohstoffe schlicht nicht vorrätig hatte, um es herzustellen – oder die Apparaturen, die einen dazu befähigten. Viele Mitglieder des Zirkels verstanden ja nicht einmal genug von Alchemie, die Rezeptur überhaupt selbst herzustellen, was sie nochmals ein Stück abhängiger machte – von denen im Zirkel, die dazu fähig waren. Die die Ressourcen und Zeit dazu hatten.

Halon war ein fähiger Alchemist. Er hatte auf Basis der vom Zirkel verwendeten Rezeptur einige Stoffe abwandeln, einige Ressourcen ersetzen können. Seit Lumiél sich offen dem Zirkel der Magi widersetzte, war es für den nunmehr als abtrünnig geltenden Alten besser, schlicht gesünder, seine Bande gänzlich und vollständig zu kappen – also auch, auf die Zirkelformel zur Unsterblichkeit zu verzichten.

Sein alternatives Gebräu hatte einen ähnlichen, aber nicht so umfangreichen Effekt. Es verlängerte das Leben erheblich… aber es war nicht fähig, das Altern gänzlich zu stoppen. Und bei einem Mann, dessen Körper ohnehin bereits vom Alter geschlagen war, bedurfte es größere Mengen, den gleichen Effekt zu erzielen. Insbesondere, wenn eben jener Körper sich auf seine alten Tage noch umstellen sollte – von einem potenteren Gebräu auf einen halbgaren Ersatz.

Halon war alt. Und wurde älter.

Dass die Reise ihn erschöpfte, dass er wenig aß, dass er dürrer wirkte – all das sprach dafür.

Und obgleich Elaine mit ihren acht Jahren klug war und sich vieles erschließen konnte und zweifellos auch schon oft genug darüber gelesen hatte, das Helden und Bestien, Bösewichter und ganz normale Leute in ihren Geschichten starben und sich auf Basis dessen ebenso unzweifelhaft schon darüber belesen hatte, was der Tod war und was es bedeutete, zu sterben… so war doch fraglich, wieviel vom Gelesenen sie auch tatsächlich begriff und ob ihr die Tragweite der Endlichkeit alles Lebendigen wirklich bewusst war.

Gerade hier und jetzt, mit Anabelle ein Bett weiter und allen im Raum um ihr Leben bangend, wollte er dieses Thema wirklich nicht anschneiden. Schon allein aus der Unsicherheit heraus, wie gut er selbst würde Fassung wahren können.

Thorin verstand. Und handelte entsprechend.

Er hatte an der Eingangstür zum Anwesen der Herzogin – seines kleinen Mädchens – auch ihre Augenringe bemerkt. Hatte in diesem Haushalt überhaupt irgendwer die letzte Nacht ein Auge zugetan?

„Schlaft ein wenig“, meinte der Kahlkopf nach einem Augenblick des Bedenkens. Alistair schüttelte einfach nur gedankenverloren den Kopf, während Ishara ihn gar nicht wahrgenommen zu haben schien, zu fixiert war ihr Blick auf ihre Jüngste. Seufzend hob Thorin den Arm, der um Elaine lag und legte Ishara die Hand auf die Schulter. Da erst blickte sie zu ihm auf und ihre Regung brachte ihm auch Alistairs Aufmerksamkeit ein. „Schlaft“, wies er diesmal an, „Versucht es wenigstens. Eirik tut, was er kann. Ihr könnt hier nichts machen. Falls etwas sein sollte, egal was, dann wecke ich euch. Aber ihr braucht eure Kräfte ebenso.“

Thorin erwartete eine Diskussion. Widerworte, gerade von Ishara. Ihre Jüngste lag dort drüben und starb! Natürlich tat sie das nicht wirklich, aber er hatte selbst wieder Kinder, er wusste, wie sehr man dazu neigte, übermäßig zu dramatisieren, sobald der eigene Nachwuchs betroffen war. Ishara machte auch durchaus Anstalten, schüttelte leicht den Kopf, öffnete den Mund. Er hob mahnend eine Braue und noch ehe sie den ersten Ton herausbrachte, hatte auch Alistair ihr die Hand auf den Unterarm gelegt. Die Geste, klein wie sie war, brachte sie ins Stocken. Ließ sie zu ihm schauen. Und schließlich zögerlich seufzen. Sie sank ein Stück in sich zusammen und ließ von ihrer Absicht ab.

Sie hatte einfach nicht die Kraft, jetzt noch herumzustreiten.

Also legte sie sich einfach auf dem eigentlich zu kleinen Kinderbett hin. Alistair tat es ihr gleich, nachdem er über sie hinweg gekrochen war, drängte sich an ihren Rücken und hielt sie im Arm. Elaine und Frederick, einem Wink Thorins mit Hand und Kopf folgend, gesellten sich ebenfalls dazu. Thorin hingegen blieb an der Bettkante sitzen, mit Blick auf das jüngere Mädchen. Elaine und Frederick schliefen nicht. Egal, wie wichtig es gewesen wäre, sie konnten einfach nicht einschlafen – zu viel ging ihnen in Kopf und Magen umher. Zu aufwühlend war die Sorge für sie. Nicht nur um ihre Schwester, sondern auch um ihre Eltern.

Thorin konnte sich nicht erinnern, Elaine je so wenig fragen zu hören, oder Frederick so ruhig zu erleben. Dann wiederum hatte Ishara wirklich unfassbares Glück gehabt und alle drei Sprösslinge waren über die schwierigen ersten Jahre hinweg zahllosen gefährlichen Erkrankungen und ernsthaften Verletzungen erfolgreich ausgewichen. Was bei einem Raufbold wie Frederick eigentlich einem Wunder glich.

„Erzähl uns eine Geschichte, Großvater“, flüsterte Elaine leise, irgendwo hinter ihm. Thorin spannte sich kurz an, als ihre Stimme ihn aus seinen Überlegungen riss und wandte sich langsam zu ihr um. Wie erwartet blickten sowohl Elaine als auch Frederick ihm entgegen, während Alistair und Ishara eingeschlafen waren.

Eine Geschichte. Natürlich. Er war der große Geschichtenerzähler. Und was würde jetzt besser ablenken können, als eine seiner absurden, wilden Geschichten? Doch Thorin verspürte wenig Reiz und Drang danach. Auch ihm wog das Gewicht des Möglichen schwer auf den Schultern, auf der Brust, auf dem Herzen.

„Es könnte helfen“, kam es unerwartet aus Eiriks Richtung. Das wiederum ließ den Krieger verdutzt zu jenem alten Mann hinüber schauen, der inzwischen – unausgesprochen – doch irgendwie ebenfalls Mitglied der Familie geworden war. Eirik brachte seine letzten Gesten zum Abschluss, ehe er seufzend nach dem Krug griff und einen Schluck Wasser trank. „Es ist nur eine Theorie und bislang hat niemand sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht, sie zu untersuchen. Aber es gibt die These, dass im Fall von Erkrankungen, in denen der Patient ohne Bewusstsein ist, die Stimme von Vertrauten, Bekannten, Freunden und Verwandten helfen kann. Rede mit ihr. Sie mag dich. Sie wird zuhören. Vielleicht wird sie sich nicht erinnern, wenn sie aufwacht, aber sie wird zuhören.“

Thorin wusste nicht, wieviel von dem, was Eirik ihm erzählte, tatsächlich den Tatsachen entsprach. Er hatte seine Zweifel, was die plötzlich aus dem Nichts auftauchende Theorie anbelangte. Warum hatte er das zuvor nicht geäußert und Alistair oder Ishara reden lassen? Hatte er es möglicherweise schlicht vergessen? Oder wollte er ihm gerade etwas zu tun geben, eine Alternative zum Grübeln bieten, damit er nicht ebenfalls in seinem ganz persönlichen Sumpf aus Frustration über seine Hilf- und Machtlosigkeit und seiner Sorgen versank?

Es gab keine Möglichkeit, das auf den Prüfstand zu stellen, ohne Eirik zu kränken. Und Thorin wollte weder das, noch sich Gedanken über den Wahrheitsgehalt machen. Letztlich… war er dem Heiler dankbar. Dankbar für den Vorwand, sich selbst zu überzeugen, doch eine Geschichte zu ersinnen. Nur… was sollte es werden?

Als habe sie die spontane Gabe des Gedankenlesens entwickelt, meldete sich Elaine ein weiteres Mal zu Wort. „Du hast uns nie weiter erzählt, was für Abenteuer du mit Mutter erlebt hast.“ Thorin stutzte. Abenteuer mit Ishara? „Du hast versprochen, weiter zu erzählen.“ Erst langsam dämmerte ihm, dass es da tatsächlich eine unvollendete Geschichte gab. Das mochte inzwischen sicherlich ein Jahr zurückliegen, wenn nicht mehr.

Ishara, die Piratengeisterschiffe in Herothing explodieren ließ und in Ammarath rätsellösend Relikte der elbischen Kultur errang, um Geisterarmeen zu befrieden, die in Jegurath die Erste war, die Heilmagie als Waffe gegen Untote benutzte. Er erinnerte sich an die absurden Märchen, die er sich überlegt hatte, spontan zusammengesponnen.

Ein Blick auf Anabelle, wie sie dort lag und sich unruhig herumwälzte, und er konnte sich nicht recht überzeugen, dass er fähig wäre, es diesmal auch wieder so wild und kurios ausufern zu lassen. Aber vielleicht, nur vielleicht, war es dennoch einen Versuch wert. Wenigstens das. Eirik hatte ja schließlich gesagt, das seine Stimme helfen könnte…

„Also gut“, erklärte er und rutschte in eine bequemere Position, von der aus er nicht nur Anabelle die Geschichte erzählen konnte, sondern auch Frederick und Elaine. Letztere rutschte rasch wieder an ihn heran und ließ sich, den Kopf auf seinem Schoß, durch die Haare kraulen.

„Wir waren in Norwingen. Das ist nicht so weit von Jegurath entfernt, wie man meinen möchte und es hatte uns dorthin verschlagen, nachdem Jegurath ja ziemlich angekratzt war. Die Evakuierten kehrten zwar langsam in die Stadt zurück, aber die Untoten hatten dennoch erhebliche Schäden angerichtet. Es brauchte Steinmetze und Zimmermänner, Schmiede und Baumeister. Jegurath brauchte neue Setzlinge für Bäume und Sträucher, Feldfrüchte und Getreide, sie brauchten, nun, so ziemlich alles. Und das Band zwischen beiden Städten des Nordens war früher eng gewesen. Also dachten wir uns, wir übernehmen eine Aufgabe, die nun unweigerlich anstand: In Norwingen Bescheid sagen, dass Hilfe benötigt wurde. Wir kamen also dort an und quartierten uns bei unseren Freunden im Norden ein und noch ehe wir irgendwas erzählen konnten, überfielen die uns regelrecht mit ihren eigenen Bitten. Aufgeflogen seien sie, so sagte man uns. Alles sei nun vorbei! Der König würde sie finden und fangen und von ihren Familien wegzerren.“

Thorin zögerte einen kurzen Moment. Sie von ihren Familien wegzerren? Er hatte vermieden, davon zu sprechen, was die Krone tatsächlich getan hätte. Sie gefoltert, getötet. Öffentlich zur Schau gestellt. Davor, währenddessen und danach. Das war nicht kindgerecht, so oder so. Aber für den Augenblick zögerte er und zweifelte, ob selbst das nicht schon zu viel war und, mit Anabelle dort drüben liegend, so fragil und verletzlich wirkend, nicht schon zu nah ans Herz zielte. So oder so war es jedoch zu spät, nun noch etwas daran zu ändern. Die Geschichte war begonnen und die Worte gefallen. Er sollte nur besser darauf achten, was er sagte…

„Natürlich waren wir alarmiert und ließen uns in aller Ausführlichkeit erklären, was denn nun eigentlich geschehen sei. Und da fiel uns rasch auf, dass die Dinge gar nicht so übel lagen, wie wir zunächst vermutet hatten. Nicht rosig, sicherlich – ein paar Leute hatten sich den falschen Leuten gegenüber verquatscht und plötzlich hing das Gerücht in der Luft, dass es bald schon Attentate geben solle. Aber niemand hatte die Namen oder Gesichter unserer Freunde herausbekommen können. Also einigten wir uns darauf, einander auszuhelfen. Sie würden für uns in Norwingen herumrennen und die ganzen Botenarbeiten erledigen. All den Leuten Bescheid geben, deren Hilfe in Jegurath gebraucht werden würde. Und im Gegenzug würden wir uns darum kümmern, dass niemand ihnen zu nahe trat oder ihre Familien bedrohte.“

Der Hüne setzte kurz ab. Elaine und Frederick waren acht. Wieviel Unsinn würde er erzählen können, ehe sie skeptisch wurden und die Geschichte zu sehr hinterfragten? Sie waren nach wie vor von seinen Erzählungen begeistert, das konnte nicht in Zweifel gezogen werden – nicht angesichts der gebannten, faszinierten Blicke, die ihm entgegen starrten. Vielleicht war es jedoch eine kluge Entscheidung, auch nicht allzu sehr zu übertreiben.

„Nun müsst ihr wissen, diese Leute, die Informationen hatten und uns Übles wollten, das waren Adlige. Und Adlige treffen sich gerne zu Bällen.“ Wie erwartet verzogen beide Kinder das Gesicht und Thorin lächelte kurz milde. „Ich sehe, ihr wisst genau, wovon ich rede.“

„Ich muss Kleider anziehen und Gespräche mit dummen Kindern führen“, quengelte Elaine leise.

„Ich muss meine Sachen sauber halten und mich benehmen“, krächzte Frederick ebenfalls leise.

Thorin hätte auflachen wollen. Der Impuls war da und auch, wenn der Laut ihm rasch in der Kehle schon abstarb, war es doch ein belebendes Gefühl, dass seine Enkel derlei vollbrachten – unter diesen Umständen. Die Vorstellung war auch wirklich amüsant. Wie Elaine gelangweilten Blickes unter Gleichaltrigen stand und sich deren wenig verständnisvolle Tiraden anhören musste, die sie vermutlich von ihren Eltern geschrieben bekommen hatten, einstudierten und ihr lediglich rezitierten. Reden, die keiner einzigen Frage standhalten konnten, weil der Redner das Thema nicht verstand. Während Elaine immer weiter mit ihrem Kreis an Zuhörern und Rednern zu Gruppen von Erwachsenen zog und sich bemühte, deren Gesprächen zu lauschen. Sie war immer schon ein paar Jahre ihrem Alter voraus gewesen.

Während Frederick vermutlich die Mehrheit der Zeit unter dem Banketttisch hockte und versuchte, sich die Grasflecken aus den Knien zu schrubben, die allen verraten würden, dass er die letzte Stunde so auffällig abwesend gewesen war, weil er, nun, abwesend gewesen war – vermutlich draußen im Vorgarten mit den Hunden spielen.

„Eure Mutter war auch sehr begeistert von der Aussicht. Umso mehr, als ich vorschlug, dass wir den Ball infiltrieren könnten. Wir erwogen viele, viele Vorschläge. Die Übeltäter direkt bei sich daheim stellen. Oder der Wache falsche Informationen zuspielen und sie einsperren lassen. Aber letztlich wollten wir nicht lügen oder sie bedrohen, wir wollten uns nicht auf das gleiche Niveau begeben, auf dem unsere Gegner waren. Wir waren besser und würden das auch zeigen – nicht nur darin, was wir taten, sondern auch damit, wie wir es taten. Also kauften wir ein hübsches Kleid für eure Mutter.“

„Das Blaue?“, hakte Elaine abrupt nach. Thorin stutzte und lächelte. Obwohl das Mädchen keinerlei Interesse daran zeigte, selbst Kleider aufzutragen, nur um hübsch zu sein, schien sie doch ein Interesse an der generellen Ästhetik zu besitzen – und sich gerade zu bemühen, sich vorzustellen, wie ihre Mutter wohl ausgesehen haben mochte.

„Nicht das Blaue. Das war eine brillante Idee deines Vaters und hat aufgrund des rückenfreien Schnitts damals ziemlich für Furore gesorgt“, erwiderte er, ohne die Frage tatsächlich zu beantworten. Stattdessen führte er seine Geschichte weiter. „Wir waren also auf diesem Anlass, es gab gutes Essen, feinste Weine und jeder gesellschaftete ein wenig mit anderen. Kleine Grüppchen überall und wir, ohne Ahnung, was wir zu tun und zu lassen hatten, platzten da mittenrein. Aber ehe ihr uns jetzt für leichtsinnig haltet: Das war alles Teil des genialen Plans, den eure Mutter ersonnen hatte! Statt uns nämlich einzufügen, wollten wir auffallen. Wir mussten demonstrieren, dass wir nicht dazu gehören. Unser Gegner wusste nicht, wer wir sind, also war er auf der Suche nach uns. Wir sorgten dafür, dass er uns finden konnte. Wir aßen ein Tablett am Buffet leer, statt überall kleine Häppchen zu nehmen. Wir mischten uns ungefragt in Gespräche ein und wiesen auf, dass jemandes Ansicht falsch war – natürlich auch nur, wenn sie das tatsächlich war. Und wir stellten uns selbst neuen Leuten vor, ohne dass jemand anderen erledigen zu lassen, der bereits mit der Person bekannt war. Wir brachen mit so ziemlich jeder ungeschriebenen Regel des Adels. Und das Essen erst! Eine große Tafel mit feinem Silberbesteck und winzigen Portionen auf viel zu großen Tellern. Ich beschwerte mich mehrfach, wo der Rest der Portion sei und rätselte, ob in der Küche vielleicht die Wachhunde los wären und über die Speisen herfallen würden, wenn es nur so wenig auf den Teller und die Tafel schaffte. Die Blicke waren prächtig – als würde jeder Einzelne von ihnen mich am liebsten erdolchen!“

Erdolchen? Wirklich? Nun, sie waren acht Jahre alt… sie würden es sicherlich verkraften können.

„Was ist dann passiert?“, hakte Frederick neugierig nach. Tatsächlich ausgerechnet er, der für diese Art von Geschichte eigentlich nicht sonderlich zugänglich war, sich schnell langweilte. Thorin brauchte einen Moment, ehe ihm klar wurde, worin das plötzliche Interesse begründet liegen mochte. Nicht nur erinnerte er sich, vor über einem Jahr angekündigt zu haben, das Gift und Duelle involviert waren – was schon deutlich eher seinen Geschmack traf -, sondern er bemerkte auch die gelegentlichen Seitenblicke zu seinen Schwestern, die von Elaine wiederum scheinbar unbemerkt blieben.

Er spielte ihm zu, um seiner Schwester zu helfen. So sehr er sonst auch gegen sie wetterte, sie jagte und neckte – so fest hielten sie auch zusammen, wenn es hart auf hart kam.

„Nun, dann kam der Tanz. Wenig überraschend wollte keiner wirklich mit uns tanzen und unsere Einladungen wurden allesamt ausgeschlagen. Wir standen also am Rand und aßen Häppchen und waren eigentlich wirklich zufrieden mit dem bisherigen Ergebnis und Verlauf. Und dann, aus heiterem Himmel, kommt dieser dürre Adlige an und bittet eure Mutter um einen Tanz.“

Wie erhofft leuchteten Elaines Augen auf, während Frederick unweigerlich den Kopf drehte und zu seinem Vater sah.

„Er war irgendein schwarzhaariger Wichtigtuer aus dem Norden, der einfach den Mund nicht darüber halten konnte, ihr ganz genau zu erklären, wie wichtig er doch war. Ich ließ mir später erst erzählen, dass er auf der Tanzfläche dann jedoch tatsächlich dazu überging, sie zu komplimentieren. Auf die grässlichste und schleimigste Art, die man sich vorstellen kann.“

Die Zwillinge runzelten die Stirn. Das passte und passte nicht. Alistair war schwarzhaarig. Er zog es aber vor, lieber im Hintergrund zu bleiben, weil ihm die Aufmerksamkeit unangenehm war. Dann wiederum kam er aus dem Norden. Aber er hielt sich nicht für übermäßig wichtig oder prahlte. Nicht ernsthaft jedenfalls. Er machte ihrer Mutter selbst heute noch wirklich miese Komplimente, aber waren sie wirklich grässlich und schleimig?

Thorin schmunzelte, während er sah, wie beide mit in Falten gelegter Stirn versuchten, das gezeichnete Bild mit ihrem Vater in Einklang zu bringen. Nach knapp zwei Minuten entschied er sich, das Rätsel aufzulösen.

„Es war fast das Ende des Tanzes, die ersten Herren betraten die Fläche, um Damen aufzufordern und andere Herren abzulösen, als dieser Dürre versuchte, eure Mutter zu küssen. Ich sah vom Rand aus, wie sie sich zurücklehnte, während er sich vorbeugte und hätte lachen wollen, wirklich! Dann aber sah ich diesen anderen dürren Schwarzhaarigen, der sich durch die Menge schob. Er griff einfach die Hand einer Tänzerin und vollführte in einer Bewegung, die ich bis heute nicht ganz verstehe, das Unmögliche. Er zog eure Mutter dort weg und schob die andere Tänzerin an ihre Position. Die war natürlich völlig verdutzt, viel zu verwirrt, um sich zu wehren. „Darf ich um diesen Tanz bitten?“, meinte er leise zu ihr, während der vorherige Tanzpartner eurer Mutter, die Augen natürlich geschlossen, eine Fremde küsste. Dieser zweite Kerl? Das war euer Vater. Der Erste hingegen hatte mit größter Vorsicht ein Gift auf seine Lippen aufgetragen und keine Minute, nachdem er seine Partnerin geküsst hatte, schlief die ein und brach die zusammen. Sie sank gewissermaßen direkt in seine Arme und sofort sprangen alle bei Seite, besorgt und alarmiert. Euer Vater aber nahm eure Mutter und tanzte mit ihr, selbst als die Musikanten zu spielen aufhörten. Sie war natürlich ziemlich verdutzt und auch ein wenig beeindruckt. Immerhin hatte er sie gerade gerettet. Nicht nur vor dem Gift, sondern wichtiger noch, vor einem wirklich ekligen Kuss.“

Elaine und Frederick stimmten beide herzhaft nickend zu. Das Gift war halb so wild – aber küssen? Einfach widerlich.

„In Windeseile war die Wache da, doch ich war noch nicht fertig. Bevor die den Adligen wegschleppen konnten, damit er sich in einer hübschen Zelle Gedanken über seine Untaten machen konnte, gedachte ich ihm noch eine richtige Abreibung zu verpassen. Niemand versucht, mein Mädchen zu vergiften – oder zu küssen!“ Wieder beherztes Nicken. „Also forderte ich ihn zu einem Duell heraus. Er konnte in der Situation nicht mehr ablehnen, ohne seine ach so kostbare Ehre zu verlieren und die Wache durfte bei einem adligen Duell nicht eingreifen. Also gingen wir raus in den Vorplatz. Jetzt müsst ihr wissen: Ich habe wirklich keine Ahnung, wie man mit einem Rapier umgeht. Aber das war die Waffe der Wahl. Also nahm ich das Ding und stellte direkt schon mal fest, dass diese kleinen Muscheln am Griff zu klein für meine Hände waren. Ja was tun? Er hingegen hatte natürlich keinerlei Probleme. Er fand sich prima zurecht, hatte ja jahrelang mit den Dingern geübt, es gelernt.“

An der Stelle erhob sich Thorin tatsächlich vom Bett und trat ein Stück ab. Er wollte schließlich den Kampf darstellen. Zunächst reckte er das Kinn übermäßig hoch, rümpfte die Nase und fuchtelte ein wenig wild herum, als würde er ein Rapier halten.

„Er stach und stichelte und stieß immer neu vor. Und mehr als einmal traf er mich auch. Verdammt flink war der Bursche auch noch, gut zu Fuß. Tänzelte um mich herum und nadelte mich wie ein verdammtes Kissen. Zack, von hinten! Zack, von der Seite! Zack, in den Arm! Zack, in den Hintern!“

Wie erhofft zuckten Elaine und Frederick gespannt folgend zusammen und kicherten, als sie sich vorstellten, wie die Klingenspitze Thorins Allerwertesten nadelte.

„Ich hingegen bemühte mich gar nicht erst, mit seinem Tempo mitzuhalten. Aber ich beobachtete, so gut ich eben konnte. Versuchte, zu parieren und auszuweichen. Mehr Letzteres, da ich ja das verdammte Ding nicht ordentlich halten konnte. Bis ich dann ein Muster in seinen Bewegungen erkannte! Er setzte immer die gleichen Schritte.“

Wie erwartet wanderte der Blick der Zwillinge auf seine Füße herab, während er seine Schrittfolge deutlich verlangsamte und ihnen eine der rudimentärsten Abfolgen demonstrierte, die im Rapierkampf zum Umkreisen von Gegnern genutzt wurden. Sie waren beeindruckt, nickten begreifend.

„Also zog ich ein Stück Leder aus meiner Tasche – ist immer praktisch, dabei zu haben. Du hast den Topf über dem Feuer vergessen und das gute Essen ist kurz davor, zu verkochen? Mit Leder kannst du den Topf anfassen! Nicht lange, ehe es dir die Finger verbrennt, aber lange genug, um ihn zur Seite heben zu können. Der Gegner erwischt dich ohne Waffe? Mit Leder in der Hand hast du etwas mehr Gewicht im Schlag und rammst dir nicht aus Versehen die Finger in den Handballen. Oder, in diesem Fall: Mit Leder um die Klinge gewickelt kannst du sie anfassen. Also nahm ich das Rapier bei der Spitze. Damit lag natürlich das meiste Gewicht unten am Griff und als er einen neuen Vorsprung wagte, um wieder zuzustechen, da holte ich in weitem Schwung aus und nutzte das verdammte Ding einfach als Keule! Ich traf ihn am Kiefer, hier ungefähr, und das mit so viel Wucht, dass es das Leder durch schnitt. Meine Hand blieb glücklicherweise heil. Und der Kerl? Der flog! Flog bestimmt einen Meter zurück, bevor er aufschlug. „Jetzt könnt ihr ihn haben“, meinte ich zur Wache und die nickten artig und schleppten den Halunken davon.“

Elaine und Frederick nickten gebannt, starrten ihn an, als hätte er gerade erklärt, einem Gott die Stirn geboten zu haben. Er war in diesem Moment zweifellos in ihrem Ansehen ein paar Sprossen heraufgeklettert und befand sich jetzt vielleicht ansatzweise in der gleichen Liga, wie ihre Mutter – obwohl deren Position natürlich unantastbar war. Etwas, das er auch weiterhin zu schüren versuchte. Immerhin war ihre Mutter verdammt gut…!

„Wie ging es dann weiter?“, hakte Frederick nach, als erwarte er, dass Thorin im Anschluss den gesamten Ball zum Duell fordern und der Reihe nach niederknüppeln würde.

Ehe der Hüne jedoch zu einer Antwort kam, ächzte es seitlich. Sofort lag alle Aufmerksamkeit auf Eirik, der sich auf seinem Schemel ein klein wenig zusammenkrümmte. Thorin war rasch bei ihm, hielt ihn an der Schulter fest. „Was ist los?“, erkundigte er sich sofort. Der Heiler verzog das Gesicht vor Schmerzen, war jedoch zunächst nicht fähig, zu antworten. Lediglich leicht den Kopf zu schütteln, während seine Hände krampften.

Es dauerte ein paar Minuten, in denen Thorin nicht nur Eirik blasser werden sah, sondern auch mit einem Blick über das Bett Anabelles hinweg zusehen musste, wie der kurzzeitig aufgeblühte Leichtsinn und Frohmut Elaines und Fredericks sofort wieder von Sorge und Kummer überschattet wurde.

Seine Geschichten waren, wenn man alle Beschönigung fortnahm, ein Kampf gegen Windmühlen. Eine Schlacht, die einfach unmöglich zu gewinnen war. Und dennoch führte er sie. In der Hoffnung, es wenigstens weit genug zu schaffen, das andere übernehmen konnten. Und gemeinsam würden sie es vielleicht durchs Dunkel hinaus schaffen.

Als Eirik sich langsam zu erholen schien, griff Thorin unter seine Arme, zog den Mann empor und führte ihn stützend zu einem der zwei leeren Betten auf der anderen Raumseite. Dort setzte er ihn ab und drückte ihn nieder, holte seinen Krug und flößte ihm kurz darauf etwas Wasser ein. Es brauchte weitere Minuten, bevor Eirik etwas zu sagen fähig war – Minuten, in denen Thorin mit äußerlich unerschütterlicher Ruhe wartete, während Frederick und Elaine sich in Angst sichtlich nicht zu rühren wagten. Als könne die kleinste Bewegung die nächste Katastrophe auslösen.

„Ich glaube, das war einfach etwas viel“, ächzte der Heiler, „Ich bin es nicht mehr gewohnt, so viel Magie an einem Tag zu wirken.“ Thorin nickte und sah zu Anabelle zurück. Halon folgte dem Blick und seufzte. „Ich brauche nur ein paar Minuten, keine Sorge. Ich werde mich sofort wieder an die Arbeit machen und-“

„Nein“, fuhr Thorin ihm dazwischen, „Wenn du dich hier und heute überarbeitest… nein. Du wirst ruhen und dich erholen. Schlaf etwas. Danach kannst du weitermachen.“ Der Krieger entschied abermals, unausgesprochen zu lassen, was es für Meister Halon bedeuten würde, sich zu überanstrengen. Sein Körper war fragiler geworden, empfindlicher. Die Konsequenzen arkaner Erschöpfung wären für ihn deutlich gravierender. Vielleicht sogar tödlich.

Das konnten sie nicht riskieren.

„Thorin – wenn ich die Arbeit nicht fortsetze, wird ihr Zustand sich wieder verschlechtern“, warnte Eirik leise.

„Wie sehr?“, hakte der Kahlkopf unvermittelt nach.

„Das lässt sich schwer abschätzen.“

Thorin nickte, sein Blick schweifte zu Anabelle zurück, zu Elaine, Frederick, Alistair… Ishara. Er nickte nochmals, leise seufzend. „Schlaft. Dennoch. Ich wecke euch in zwei, drei Stunden und habe ein genaues Auge darauf, wie es ihr geht. Falls sich ihr Zustand rapide verschlechtert, wecke ich euch früher.“

Das wiederum schien ein Arrangement, mit dem Eirik leben konnte. Nicht glücklich, sicherlich, aber es war ein brauchbarer Kompromiss. Also nickte der Alte und schloss die Augen. Ob und wann es ihm tatsächlich gelang, zu schlafen, vermochte Thorin nicht zu sagen. Einer Magd des Hauses, die besorgt zwischenzeitlich den Kopf zur Tür hereinsteckte, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, trug er auf, für den Magier eine kleine Mahlzeit zusammenstellen zu lassen.

Natürlich waren die Diener des Hauses genauso besorgt. Man konnte nicht jahrelang in diesem Anwesen arbeiten, auf täglicher Basis von Elaine mit Fragen gelöchert werden oder Fredericks Streiche ertragen oder Anabelles unschuldige Neugier beobachten, ohne irgendetwas für die Kinder zu empfinden. Und die Hausherren. Und mehr als genug der Angestellten waren selbst Väter und Mütter und verstanden die Sorge umso mehr.

Thorin hingegen setzte sich auf den Schemel und während Frederick vorzog, sich noch etwas enger an Ishara zu schmiegen, krabbelte Elaine aus dem Bett und setzte sich mit etwas Hilfe auf Thorins Oberschenkel. „Erzähl weiter“, bat sie leise und schmiegte sich an seine breite Brust. Der Hüne legte den Arm um sie und sann nach einer neuen Geschichte.

„Alistair hatte uns geholfen. Und er war willens, uns noch mehr zu helfen, sogar mit uns zu reisen. Ich ahnte damals schon, dass er ein Auge auf eure Mutter geworfen hatte, aber er hatte uns geholfen – also wollte ich ihm das mal nachsehen. Vorläufig. Wir nahmen ihn nach Samara mit, unserem damaligen Hauptquartier. Wie ihr euch vielleicht denken könnt, dauerte es nicht lange, bevor uns da die nächsten Katastrophen ereilten. Genau genommen, kamen wir schon wieder gerade an und uns wurde davon berichtet. Es gab in ganz Samara Verheerungen. Mitglieder des Adels, der Stadtwache, aber auch einfache Handwerker und Leute des Armenviertels waren benutzt worden, manipuliert. Sie kamen an Orten wieder zu sich, an die sie sich nicht erinnerten und hatten Dinge getan, von denen sie nichts mehr wussten. Sie waren nicht Herren ihrer eigenen Körper gewesen, oder auch nur ihres eigenen Verstandes.“

Langsam zog er den Lappen aus der Wasserschale und stich sich behutsam vorbeugend über Anabelles verschwitzte Stirn, während das Glühen etwas stärker und sie damit wieder etwas unruhiger wurde.

„Das ist eine ziemlich unheimliche Sache, müsst ihr wissen. Wir kannten damals schon ein paar Arten, wie sowas möglich wäre. Geistmagie natürlich, allem voran. Also begaben wir uns auf die Suche nach der Quelle der Unruhe.“

Als Anabelle kurz krampfte, setzte Thorin Elaine vorsichtig ab. Das Mädchen stand dort, schlang die Arme um sich selbst und schien sich redlich zu bemühen, nicht in Tränen auszubrechen, während Thorin den schmalen Körper ruhig zu halten versuchte. Es dauerte nur wenige Sekunden an, aber ihm saß der Schrecken in den Knochen und es fiel dem Hünen um ein Vielfaches schwerer, seine sonst ruhige, steinerne Fassade wiederherzustellen.

„Wir hatten uns einige Wochen zuvor im Armenviertel etwas umgehört und waren auf eine Kräuterkundige gestoßen. Sie hatte ein wirklich bemerkenswertes Mittel zusammengemischt. Es war fähig, alle Krankheiten zu heilen.“

„Kann Anabelle das nicht bekommen?“, fragte Frederick von der anderen Bettseite leise.

Thorin seufzte. Innerlich sehr viel stärker und tiefer als er es nach außen dringen ließ. „Leider nein. Sie ist nicht krank. Auch wenn es so aussieht, ich weiß. Sie hat Magie und so, wie sie wächst, wächst auch ihre Magie. Normalerweise wächst beides ungefähr gleich schnell. Sodass es nicht zu seltsamen Sachen kommt. Aber ihre Magie hat gerade einen starken Wachstumsschub, stärker als ihr Körper. Das ist zu viel Magie für sie und für ihren Körper. Also versucht ihr Körper, nachzuwachsen. Sich anzupassen. Aber das kann er nicht mal eben einfach so. Eirik versucht, ihrem Körper zu helfen, indem er Magie aus ihr herauszieht. Abfließen lässt, sozusagen. Wie bei der Blutbeule, die du hattest.“

Frederick verzog fürchterlich das Gesicht bei der Erinnerung. Es war wirklich einfach widerlich gewesen. Aber es half ihm, zu verstehen. Und das war es letztlich auch, worauf es ankam. Thorin wiederum hatte keine Probleme, ihnen diese Geschichte zu verkaufen – vielleicht lag sie sogar nah bei der Wahrheit. Was hier wirklich vor sich ging, begriff er nur in kleinem Umfang und er hatte diese wenigen, ihm bekannten Informationen bestmöglich ausgeschmückt, um eine kohärente Geschichte daraus zu spinnen.

„Was war mit der Kräuterkundigen?“, hakte Elaine leise nach.

Thorin besann sich, setzte sich wieder auf den Schemel und zog das zitternde Mädchen wieder auf seinen Schoß. Er strich ihr über den Rücken, die Haare, versuchte, beruhigend auf sie einzuwirken.

„Man nannte sie Mütterchen Yvellah. Wir hatten nicht wirklich rausgefunden, wie sie das mit dem Wunderheilmittel anstellte und wirklich, keiner von uns hatte es hinterfragt. Wozu auch. Es war ihre Rezeptur, ihr Geheimnis. Es wäre nicht sehr nett von uns gewesen, ihr das wegzunehmen. Aber als das alles drüber und drunter ging in Samara und wir auf der Suche nach den Verantwortlichen waren, da kam das Mütterchen zu uns. Sie wusste nicht genau, wer es war – aber jemand hatte sich in ihre Stube geschlichen und ihr Formelbuch genommen. Nicht gestohlen, wohlgemerkt. Es war geblieben, wo es lag. Aber jemand hatte Seiten daraus gelesen und Formeln abgeschrieben. Unter anderem ihre Formel. Jetzt erst kamen wir auf die Idee, nachzufragen, was das eigentlich genau für eine Formel war – und wie ihr euch vielleicht denken könnt, die Antwort gefiel uns nicht sonderlich. Mütterchen Yvellah verwendete Blutmagie.“

„Was… was ist das?“, hakte Elaine leise nach. Sie war wieder etwas stärker in den Fragenmodus übergegangen. Thorin vermutete jedoch, dass sich das weniger in tatsächlicher Neugier begründete und mehr darin, dass sie sich regelrecht daran klammerte, in dem Versuch, selbst ruhig und gefasst zu bleiben. Anabelle regte sich wieder mehr, wälzte sich wieder häufiger herum. Und das ging ihr, unweigerlich, an die Nerven.

„Blutmagie ist, wie der Name schon sagt, Magie, die aus dem Blut kommt. Für die meisten ist Blut lebenswichtig. Das liegt daran, dass im Blut Lebensenergie steckt. Und wie hat Meister Lamerak es euch beigebracht?“

Wie erhofft stimmten Frederick und Elaine in den Chor ein. „Energie ist Magie.“

Das war natürlich bis auf ein schmerzhaftes Maß simplifiziert. Ein Blitzschlag war nicht magisch und die Generatoren der Goblins waren es – angeblich – auch nicht. Aber Alandor hatte sich über die Jahre hinweg vielen Werken verschrieben, die den Versuch wagten, nicht magisch Befähigten die Welt der Magie auf ein verständliches Maß herunter zu brechen – damit vielleicht, irgendwann, falls diese Bücher genug Verbreitung und Anklang fanden, die Leute weniger Angst vor den Zauberern der Welt haben würden.

„Also nimmt sie Magie aus dem Blut?“, hakte Elaine nach, das Gesicht verziehend.

„Ja. Sie nahm natürlich nur Leute, die es freiwillig gaben. Aber eine frühere Schülerin von ihr hatte sich für einen anderen, gefährlicheren Weg entschieden. Sie griff diese Leute an, hatte die Formel abgewandelt und mit Zauberei kombiniert. Yvellah erkannte ihr Werk und fühlte sich mitverantwortlich. Aktuell übte ihre Schülerin nur. Übte, wie sie am besten Kontrolle ausüben konnte, wie sie sie erlangen und halten konnte, welche Reichweite ihre Magie hatte und wozu sie sie befähigte. Wir mussten sie also aufhalten, bevor es zu tatsächlich gefährlichen Situationen kommen würde. Und das ist die Stelle, an der eure Mutter eine brillante Idee hatte. Seht ihr, in Samara gibt es mehrere Viertel, von stadtinternen Mauern getrennt. Das Hafenviertel, das Zwergenviertel, das Elbenviertel, die Altstadt, das Edelviertel und das Armenviertel. Der König war kein gerechter Mann, also gab es in den Vierteln unterschiedlich viele Wachen, die ihre Aufgaben unterschiedlich ernst nahmen. Kaum ein Wächter ging je ins Armenviertel und keiner hatte dort vor, wirklich etwas Gutes zu tun. Also wussten wir, wo sie sich am wahrscheinlichsten verstecken würde – da, wo es ihr am leichtesten gemacht wurde.“

Elaine nickte beklommen, während Thorin erneut Anabelles Schweiß wegtupfte. Die Erschöpfung schien die Krämpfe etwa gemildert zu haben. Und Frederick, obgleich ebenso besorgt und aufgewühlt, dämmerte inzwischen etwas.

„Eure Mutter trat also auf einen der wenigen Marktplätze, die es im Armenviertel gab, nachdem wir vorher einige Boten durchgeschickt hatten, die alle dorthin riefen. Sie nahm sich diese alte, brüchige Apfelkiste, leerte sie in einen Eimer und nutzte sie als Podium, um etwas über die Menge zu ragen. Damit sie jeder sehen konnte. Und dann hielt sie eine Rede. Solch eine feurige, leidenschaftliche Rede, das an diesem Tag niemandes Herz unberührt blieb, der davon hörte. Wir seien ein Volk, eine Nation, ein jeder dem anderen Bruder, Nachbar, Gleichgestellter. Es gäbe Hürden zu überkommen, Feinde zu schlagen, im Inneren und Äußeren. Heute sei ein Tag, an dem sie als solches zusammenhalten müssten. Als Brüder. Als Schwestern. Als Nachbarn und geeintes Volk. Heute sei ein Tag, an dem sie sich gemeinsam, geschlossen, einem Feind in ihrer Mitte stellen mussten.“

Elaine blickte aus großen Augen zu ihm auf, gebannt. Er sah das Flackern von Angst und Sorge noch immer darin, entfernt, in den Hintergrund gerückt. „Das klingt beeindruckend.“

„Das war es auch. So beeindruckend sogar, dass Yvellahs frühere Schülerin sich zu erkennen gab. Sie war dem Ruf ebenfalls gefolgt, war in der Menge unerkannt geblieben. Da aber trat sie vor. Sie nannte eure Mutter eine Heuchlerin, eine üble Lügnerin. Doch statt sich von ihr zu einem Kampf provozieren zu lassen, ließ eure Mutter sie ausreden. Sah zu, wie sie näher trat, sich in Rage redete, fluchte, keifte, zeterte. Wie sie völlig unbewusst ihre Magie wirkte und all die Leute auf dem Platz niederknien ließ, ohne es selbst zu bemerken. Sie redete sich so sehr in Zorn hinein… bis sie zusammenbrach. Bis Tränen über ihre Wangen rannen. Sie forderte Ishara zum Kampf auf. Zum Angriff. Dass sie das klären würden, hier und jetzt, ein- für allemal. Aber eure Mutter verweigerte sich, die Waffe gegen sie zu heben. Auch sie war eine Schwester, erklärte sie. Und die Zeiten müssten enden, in denen der König uns dazu brächte, die Waffen gegeneinander zu heben. In denen er Angst und Zorn schürte und uns dazu brachte, den wahren Feind – ihn selbst – aus den Augen zu verlieren. Es war diese zweite, kleinere Rede, in der die Fassade von Yvellahs Schülerin restlos einbrach. Tränenüberströmt sank sie zu Boden und berichtete, wie die Wache gekommen war und ihren Bruder verschleppt hatte. Nicht mehr als einen Laib Brot hatte er gestohlen, damit sie beide nicht verhungern mussten. Jahre war das nun schon her, aber sie hatte nie aufgegeben. Nie aufgehört, zu hoffen, dass sie ihn eines Tages wiedersehen würde. Ihn finden und befreien würde. Als sie bei Yvellah in die Lehre ging, hatte sie gehofft, die großen Geheimnisse der Magie zu erlernen, um vielleicht kampffähig genug zu werden, damit sie die Krone angreifen könnte. Aber Yvellah hatte sich geweigert, ihr diese Rezepte zu geben. Ihr die wirkliche gefährlichen Geheimnisse anzuvertrauen. Weil ihre Schülerin von Zorn verzehrt war und die Meisterin das spürte. Also stahl sie die Formeln, experimentierte, übte. Eure Mutter war an diesem Tag besonnen und tapfer. Im Angesicht einer wirklich furchteinflößenden Macht hielt sie stand, gebrauchte ihren Kopf und kluge Worte, statt ihres Schwertes und ihrer Magie. Und statt einfach nur einen weiteren Feind besiegt zurückzulassen, gewannen wir eine wertvolle Verbündete. Denn letztlich waren unsere Ziele ein und dasselbe. Wir wollten den König zur Rechenschaft ziehen und jene befreien, die unter ihm litten, von ihm gefangen gehalten wurden.“

Anabelles Husten riss Thorin aus der Geschichte – und Elaine aus dem Bann, unter den er sie erfolgreich einmal mehr gebracht hatte. Elaine glitt mit eiliger Selbstverständlichkeit von seinem Schoß, während er sich auf das Bett setzte und Anabelle etwas aufhalf. Sie hustete… Blut.

„Weck Eirik!“, wies Thorin das Mädchen rasch an. Die nickte beklommen und jagte sofort zum anderen Bett herüber, hastig und wild am alten Heiler schüttelnd. Binnen weniger Sekunden war der Heiler auf den Beinen, desorientiert, aber zumindest etwas erholter. Er trat zu Thorin herüber und nahm auf dem Schemel Platz.

„Was passiert mit ihr?“, erkundigte sich Thorin gehetzten Blickes, die Panik sein eigenes Herz umklammernd, es in der Brust flattern und rasen spürend.

Eirik dagegen seufzte erleichtert. „Das ist etwas Gutes“, erklärte er und begann mit den nächsten Gesten – offenbar jedoch, ohne Formeln zu verwenden. „Ich weiß, es mag nicht so wirken, aber das ist etwas Gutes. Sie erholt sich langsam. Ihr Körper regeneriert, passt sich an. Und ihre arkanen Ströme sehen auch schon viel besser aus.“

„Sie hustet Blut, verdammt nochmal!“, zischte Thorin leise und spähte zum zweiten Bett herüber. Er hatte Ishara und Alistair gesagt, versprochen, dass er sie wecken würde, sobald etwas wäre. Er gedachte sein Wort zu halten – sobald es ernst wurde. Das hier war möglicherweise dieser Moment. Nie hatte er davon gehört, dass es etwas Positives sei, Blut zu husten. Im Gegenteil. Üblicherweise bedeutete das für irgendwen das Ende.

„Ich könnte dir die Zusammenhänge erklären, allesamt, Thorin. Aber du würdest sie ohne ein langwieriges Studium oder viele Jahre des Selbststudiums in meinen Büchern nicht verstehen können. Also hab Geduld und vertrau mir“, gab Eirik leise zurück, ruhig und bemüht, einen gefassten, freundlichen Eindruck zu erwecken. So, wie er sonst immer wirkte. Ruhig und freundlich.

Thorin bemühte sich auch wirklich, sich darauf einzulassen. Leicht war es nicht.

Inzwischen schien Frederick aller Mühen und Sorgen zum Trotz völlig eingeschlafen, während Elaine verblieb. Einmal mehr stand das Mädchen schreckensstarr im Raum. Thorin trat zu ihr herüber und hob sie an seine Brust. Sie klammerte sich fast unwillkürlich fest – als würde ihr Leben davon abhängen.

Mit Elaine auf dem Arm setzte er sich wieder auf die Bettkante zu Ishara, Alistair und Frederick. Seitlich, sodass sie beide zu Anabelle sehen konnten – auch wenn Elaine es zunächst vorzuziehen schien, das Gesicht an seiner Brust zu vergraben und er genau spürte, wie ihre Tränen sein Hemd durchweichten.

Diesmal musste sie nicht fragen, wie es weiterging.

„Als wir in Samara unsere Angelegenheiten geklärt hatten, zogen wir nach Esgaroth weiter. Alistair blieb in Samara zurück, um Yvellahs Schülerin einzuweisen und zu unterrichten, um für Ordnung zu sorgen und die Kunde unserer zahlreichen Siege zu verbreiten. Wir kamen nach Esgaroth, weil wir den dortigen Elben hatten Bescheid geben wollen. Darüber, dass es Widerstand gegen die Krone geben würde. Dass wir uns formiert hatten. Und schon viele Siege errungen hatten. Damit sie uns auch glauben würden, dass wir eine Chance hätten. Aber wie das irgendwie inzwischen zu einer schlechten Tradition wurde, kamen wir an und die Probleme warteten schon auf uns.“

Thorin ließ sich Zeit. Oder vielmehr: Ließ Elaine Zeit. Die Geschichte zu erzählen würde nicht viel Sinn machen, wenn sie sich nicht darauf einlassen konnte. Und ob sie das konnte, würde sie signalisieren müssen. Irgendwie.

Mehrere Minuten verstrichen, ehe ein leises, klägliches „Was war denn?“ kam.

Er nickte. „Auf dem Weg nach Esgaroth kommt man durch Ilmwacht durch. Und wie du weißt, Eirik hat da früher sehr lange gewohnt. Damals beispielsweise war er noch dort der ansässige Heiler und half den Dörflern. Er war ein geachteter und respektierter Mann.“

„Anders als heute?“, erkundigte sich Eirik von der anderen Seite und lächelte schief.

Thorin musste tatsächlich einen Moment schmunzeln. Völlig unwillkürlich. Geachtet und respektiert wurde der Heiler noch immer. Aber das waren vielleicht tatsächlich nicht mehr die Begriffe, die einem heute zuerst einfielen, wenn man an Eirik Halon, Meister des Zirkels der Magi dachte.

„Er hatte uns von allerhand Kuriositäten erzählt. Beispielsweise von einem riesigen Sturmdrachen, der Esgaroth beschützen würde. Sein Körper bestand aus pechschwarzen Wolken, in denen ständig purpurfarbene Blitze zuckten und wo immer er lang flog, kribbelte die Luft und allen stellten sich die Haare auf und man bekam kleine Ladungen, wenn man etwas Metallisches berührte. Die Elben störte das natürlich wenig – bei denen ist ja das Meiste aus Holz oder anderen Pflanzen und Pflanzenteilen. Aber ich, naja. Die Lederrüstung hat Metallnieten und die Axt ist jetzt auch nicht gerade aus Porzellan gebaut. Stell dir also vor, wie ich durch den Sumpf marschiere und alle paar Schritte zusammenzucke, weil irgendein Teil meiner Ausrüstung mir schon wieder eine gewischt hat.“

Elaine lächelte. Er sah es natürlich nicht – sie hatte ihre Position nicht verändert. Sie sagte auch nichts, kein Wort. Aber er glaubte es dennoch irgendwie spüren zu können. Vielleicht aber war das auch einfach nur eine verzweifelte Hoffnung seinerseits…

„Jedenfalls kamen wir an und mussten feststellen, dass ein paar der Elben durchgedreht waren. Warum? Ganz ehrlich, wir wissen’s bis heute nicht. Aber offenbar hielten sie es für eine brillante Idee, den Drachen zu seinem eigenen Schutz gefangen zu nehmen. Sie beteten ihn an, als wäre er ein Gott, in beeindruckend komplizierten Ritualen. Da fragt man sich, was? Ich meine, von uns kommt ja auch keiner auf die Idee, einen Gott gefangen zu nehmen. Aber das ist das Problem mit Wahnsinnigen – ihre Handlungen machen nicht wirklich Sinn. Und Kultisten, die sind wirklich die schlimmste Art von Wahnsinnigen. Und die Drachenkultisten erst! Furchtbar, wirklich. Natürlich war uns klar, dass wir was machen mussten. Wir konnten schlecht einfach zu den Elben gehen, sie zum Kampf gegen die Krone einladen und wieder gehen. Was haben wir also gemacht?“

Thorin wartete eine Weile, bis Elaine begriff, dass es keine rhetorische Pause war, keine Unterbrechung für dramatischen Effekt, sondern vielmehr eine kleine Probe, ob sie noch wach, da und gedanklich anwesend war. „Gegen sie gekämpft?“, erkundigte sie sich leise, unsicher. Ihre Zweifel waren völlig in Ordnung – seine Geschichten waren nicht sonderlich rational und damit schwer vorhersehbar.

„So ähnlich“, erwiderte der Kahlkopf und strich ihr über den Rücken. Dabei warf er einen Blick zu Eirik hinüber, der mit neuen Formeln und Gesten begonnen hatte. Eine Magd schlich sich lautlos herein und positionierte den einhändig gegebenen Anweisungen Thorins folgend den Teller mit Eiriks Frühstück auf dem Nachttisch, beim Krug – der kurzerhand neu gefüllt wurde. Der Heiler war sogar so vernünftig, gelegentlich – wenn seine Zauberformeln und sein Gefuchtel mit den Händen das zuließ – ein Stück vom Teller zu klauben und nach und nach etwas zu essen, ohne, dass man ihn ermahnen oder regelrecht dazu nötigen musste.

„Deine Mutter hat demonstriert, wie brillant sie ist. Gegen so viele Elben hätten wir nicht wirklich viel ausrichten können. Sie haben wirklich gute Ohren – deshalb sind die so lang!“, meinte er und zupfte kurz demonstrativ an Elaines nur geringfügig gespitzt zulaufendem Ohr. Wie erhofft wandte sie sich kurz, um dem zu entfliehen. „Sie haben auch wirklich gute Augen, weshalb man sehr schwer an ihnen vorbeischleichen kann. Und wenn man es versucht und erwischt wird? Da waren wirklich viele von denen und sie alle hatten Bögen, mit denen sie dank ihrer guten Augen und Ohren wirklich verdammt gut treffen konnten. Also nachdem das in Samara schon so gut funktioniert hatte, und in Ammarath ja auch schon, entscheidet deine Mutter sich für eine ganz verwegene Taktik: Sie redet mit den elbischen Drachenkultisten. Glücklicherweise war ihr Plan ein bisschen mehr als das, aber dazu gleich. Sie tritt also heraus aus unserem Dickicht, in dem wir uns angeschlichen haben – wohlgemerkt nicht sehr nah -, und tritt unter auf sie gerichteten Bögen ein gutes Stück näher. Dass man sie nicht sofort erschoss war das Risiko, was wir eingehen mussten und wir hatten wirklich Glück. Elben, selbst wahnsinnige Elben, schätzen das Leben sehr. Man verschwendet es nicht leichtfertig. „Ich bin Ishara Wyrmblut!“, ruf sie also über die Menge hinweg und allmählich drehen sich ihr auch tatsächlich alle zu. Viele holen ihre Rüstungen und Bögen und spannen Pfeile auf. „Und ich bin hier, um den Drachen von eurer Gefangenschaft zu befreien. Ihr huldigt einer falschen Gottheit, ihr macht ihn zu eurem unfreiwilligen Götzen und ihr haltet diese edle Kreatur gefangen wie geistloses Vieh! Besinnt euch eurer Wurzeln, besinnt euch der Größe eures Volkes, seiner Werte! Kehrt euch ab von diesem Irrsinn – oder ich werde gegen euch kämpfen müssen.“ Das war natürlich eine ziemlich eindrucksvolle Rede, aber trotz allem stand sie da allein herum. Die Elben blicken sich also etwas verwirrt um und einer fragt schließlich „Du und welche Armee?“ Sie nickt mir also zu und ich komme auch mal aus dem Busch heraus und stelle mich demonstrativ neben sie. Ein paar fiese Blicke zu denen, die nah dran stehen und sie weichen auch mit zittrigen Knien zurück. Du weißt schon, was ich meine – meine fiesen Blicke! Die Alistair immer mal wieder bekommt, weil er es einfach ständig übertreiben muss.“

Erst als Elaine nickte, gab er sich zufrieden und setzte fort.

„Gut. Ich stehe da also neben ihr und ein paar bekommen durchaus Angst. Aber das sind ein paar von sicherlich hundert, vielleicht mehr! Was macht der Rest? Die tauschen kurz wieder verwirrte Blicke, ehe sie anfangen, zu lachen. Sie stehen da, die Bögen kampfbereit in der Hand und lachen uns aus. Und wir, wir tun erstmal gar nichts. Wozu auch? Denn unser Plan funktionierte ja wirklich prima. Und in genau diesem Moment ging er sogar ein Stück weiter auf. Alle waren so am Lachen, das sie abgelenkt waren. Dir ist sicher schon oft aufgefallen, dass nicht alle Hunde so klug sind wie Cyron, oder? Und das er wirklich, wirklich alt ist. Oder das deine Mutter gelegentlich mit Topfpflanzen redet und es denen tags darauf tatsächlich besser zu gehen scheint. Das liegt daran, dass deine Mutter wirklich gut mit der Natur ist. Mit Tieren und Pflanzen und dem Wetter. Es stimmt schon, wir waren in Esgaroth neu und hatten dort noch keine Verbündeten, die wir zur Hilfe hätten holen können. Und unsere ganzen Freunde und Kameraden waren in Samara. Selbst in Ilmwacht, was immer noch viele Tage weit weg war, hatten wir nur ein paar wenige Bekannte. Wir und welche Armee also? Naja, Elben bauen ihre Städte in Wäldern und Esgaroth folgt dieser Tradition. Ein sumpfiger Wald, aber nichtsdestotrotz ein Wald. Er war also wirklich voller – und ich meine voller – Nagetiere. Von Biebern über Eichhörnchen, alles war dabei. Ishara hatte die Kunde im Tierreich verbreitet, dass es ein großes Festmahl gäbe – sie würde es persönlich für sie zusammentragen – wenn sie ihr hierbei helfen würden. Also fanden sich all die Nager des Waldes und Sumpfes und sogar einige Vögel wie Spechte. Die meisten waren völlig unbemerkt bis zum Drachen gekommen. Der Wald war lebendig und voller Tiere, natürlich beachteten die Elben sie nicht weiter. Aber als alle über Ishara zu lachen begannen? Da begannen die Tiere, die Seile zu durchtrennen.“

Elaines Kichern, wenngleich leise und verhalten, deutete bestens an, dass sie begriff, worauf das hinauslief.

„Ein paar lachten natürlich nicht so sehr wie andere. Es gibt immer welche, die ernster sind, humorlos. Die bemerkten auch, dass was nicht stimmte und was die Tiere da machten. Aber wie ich schon sagte: Elben verschwenden Leben nicht einfach so. Also versuchten einige von denen, ihre Kameraden darauf aufmerksam zu machen, aber egal wie laut sie brüllten, die anderen lachten noch lauter. Und wieder andere versuchten, die Tiere zu verscheuchen, magisch zu manipulieren oder auf sie einzureden. Aber was Ishara ihnen da für ein Festmahl versprochen hatte, war einfach zu groß und verlockend, um sich wegschicken zu lassen! Und so kam es, dass der Drache befreit wurde. Das Biest richtete sich auf und ließ ein gewaltiges, durch Mark und Bein vibrierendes Brüllen hören. Und da hörten dann wirklich alle zu lachen auf, als ihnen klar wurde, das Ishara gar keine Armee brauchte. Sie hatte einen Drachen auf ihrer Seite.“

Thorin stockte, als Eirik mit seinen Formeln und Gesten aufhörte. Der alte Heiler stand auf, zog den Schemel etwas an die Wand und setzte sich wieder, nachdem er sich Teller und Krug vom Nachttisch geholt hatte. Er frühstückte die verbliebenen Reste in aller Ruhe und auf Thorins fragenden Blick hin nickte er lächelnd. „Sie wird sich vollständig erholen“, erklärte er.

Dem Kahlkopf fiel ein Stein vom Herzen. So groß und schwer, dass er überrascht war, nicht davon zerquetscht worden zu sein. Er nickte verstehend und an eben jener Stelle schien auch Elaine erleichtert aufzuatmen. Ihr zittriger Atemstoß traf gegen sein Schlüsselbein und sie lehnte die Stirn nach wie vor gegen seine Schulter, aber auch ihrem Körper war anzumerken, wie die seit Stunden konstante Anspannung allmählich wich.

„Wie ging es aus?“, erkundigte sich das Mädchen nach ein paar Minuten leise.

„Mit einem Festmahl natürlich. Deine Mutter hält immer ihr Wort. Immer. Wenn sie also sagt, das etwas wieder gut werden wird? Dann glaub ihr besser – sie wird alles tun, damit es wieder gut wird. Damals sind wir dann losgezogen und haben den Wald abgesucht, nach Nüssen und Früchten. Wir haben sogar Hilfe vom Drachen bekommen. Der war natürlich zu groß, um mit uns sammeln zu gehen, konnte uns aber sagen, wo wir die besten Gebiete fanden und was schon reif war. Es war wirklich ein lustiger Anblick, dieser riesige Berg, den wir da zusammengetragen hatten und dann diese Heerscharen an Nagern, die sich darüber hermachten und binnen einer Stunde nicht den kleinsten Krümel davon übrig ließen, bevor sie sich wieder in den Wald davon machten. Mit den Elben Esgaroths zu reden erwies sich wiederum als ziemlich unproblematisch. Sie hatten das Geschehen verfolgt und waren nicht nur davon beeindruckt, wie Ishara das Problem gelöst hatte, sondern auch davon, wie gut und stark ihre Naturmagie war. Das ist ja etwas, das Elben generell sehr schätzen. Und niemand war zu Schaden gekommen – das war natürlich ein großer Bonus. Also gab man uns in Esgaroth dann sogar ebenfalls eine kleine Feier.“

„Du hast vergessen, Caerwen zu erwähnen“, kam eine leise Stimme von der anderen Seite. Thorins Blick schweifte von Halon und Anabelle herüber ins Dunkel und er brauchte einen Moment, ehe er Ishara dort liegen sah, noch immer von ihrem schlafenden Gatten umfangen und noch immer ihren ebenso schlafenden Sohn an sich gedrückt.

Thorin nickte leicht. „Mag sein. Das kommt dann in der nächsten Geschichte. Esgaroth, Teil zwei. Sozusagen.“

Ishara nickte schwach und machte Anstalten, sich aufzurichten und aus dem Knäuel an Gliedern zu lösen. Etwas, wovon Thorin sie mit einem Kopfschütteln abhielt. „Lass“, meinte er leise, „Es ist alles gut. Anabelle schläft und Halon ist mit der Arbeit fertig. Sie krampft schon seit Stunden nicht mehr und er meinte, sie würde sich in den nächsten Stunden gut und vollständig erholen.“

Erst nach der Erklärung wich die Spannung aus Isharas Muskeln und sie ließ sich tatsächlich wieder sinken. Erleichtert atmete sie tief durch und drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Sie rang sich sogar ein Lächeln ab. Schwach und müde, noch immer erschöpft, aber zumindest zutiefst ehrlich. „Das ist gut.“

Thorin nickte geistesabwesend. Sein Blick wiederum hatte begonnen, zurück zu Eirik schwenken zu wollen und war unweigerlich auf der anderen Raumseite an jenem vierten Bett hängen geblieben. „Junge oder Mädchen?“, erkundigte er sich schmunzelnd. Selbst im Dunkel konnte er sehen, wie Ishara errötete. Es war wundervoll und er wurde dieses Anblickes nie müde. Etwas, das auch Alistair immer wieder betonte.

„Eirik meinte, es würde wohl ein Mädchen werden. Aber sicher sein könne man sich so früh noch nicht.“

Thorin grinste schief. Also drei Mädchen und ein Junge. Frederick wusste nicht, was für eine Hölle ihm da blühte. Dann wiederum, es gab Beispiele, in denen das gutgehen konnte. „Seit wann weißt du’s?“

Ishara bemühte sich, sich genau zu erinnern, konnte jedoch in all dem watteweichen Chaos aus entkräfteter Sorge und Erleichterung nur bedingt klar denken. „Eine Woche? Ungefähr?“

Er nickte. Ein viertes Kind. Ob sie sich das so gut überlegt hatten? Bisher schienen Alistair und Ishara bemerkenswert gut mit drei Sprösslingen zurechtzukommen, ohne völlig überfordert zu sein. Aber da hatten sie auch den Luxus, eine vollständige Dienerschaft im Haushalt zu haben, Aufgaben delegieren zu können… nun, dieser Komfort würde auch weiterhin erhalten bleiben. Es war einfach grundsätzlich schwer abzuschätzen, ob sie damit noch zurechtkämen oder nicht.

Aber selbst für den Fall, dass sie überfordert wären. Thorin und Ninafer hatten selbst noch mehr als genug Platz und Zeit, nun, Zeit würde sich schaffen lassen. Sollten die Adligen eben die ausschweifenden Vorreden weglassen und mal ausnahmsweise auf den Punkt kommen. Generell eine gute Idee: Jeder Bittsteller bekam nur noch eine bestimmte Anzahl an Minuten Zeit, um sich zu erklären. Er würde bei Garwinn mal eine Uhr für die Thronhalle in Auftrag geben müssen…

„Habt ihr euch schon einen Namen überlegt?“, prüfte Thorin derweil weiter.

Ishara verzog leicht das Gesicht. Der beste Indikator dafür, dass es offenbar ein noch offenstehendes Thema war, bei dem eine gewisse Uneinigkeit herrschte. „Nicht… nicht wirklich, denke ich. Ursprünglich hatten wir unseren Favoriten, aber dann kam Caerwen auf die Idee, das es auch ein elbischer Name sein könnte. In Ehrung meiner Wurzeln und all das. Und seither ist das ein schwieriges Thema geworden. Alistair wählt die Namen nach Klang aus und… und du würdest dich wundern, was für hundsmiserable Bedeutungen manche der am schönsten klingenden, elbischen Namen haben. Ich werde meiner Tochter gewiss keinen Namen geben, der impliziert, dass sie flatterhaft ist!“

„Was heißt das?“, erkundigte sich Elaine und just in diesem Moment lief Ishara wieder hochrot an. Sie hatte völlig vergessen, dass ihre Tochter sehr wahrscheinlich zuhörte.

„Das… erkläre ich dir später“, vertagte Ishara seufzend die Problematik zu nächst einmal.

„Und was war euer Favorit, bevor Caerwen auf ihre brillante Idee kam?“, hakte Thorin nach, um das Thema nicht völlig aus den Augen zu verlieren.

„Emilia.“

Thorin nickte, wog den Namen einen Moment in Gedanken. „Klingt hübsch. Vielleicht solltet ihr darauf verzichten, den Namen eures Kindes rituell der elbischen Kultur zu opfern, und den Frieden in eurer Ehe gleich mit, hm? Ihr wart euch einig, bis jemand, der dazu nun wirklich nichts zu sagen hat, was dazu sagte. Also ignoriert es einfach.“

Ishara seufzte und setzte bereits zu Widerworten an. Warum das nicht so einfach sei und das er es doch wirklich besser wissen müsse, als Caerwen herauszufordern. Statt jedoch einen Kampf schlagen zu wollen, der nicht zu gewinnen war, besann sie sich und lächelte Thorin auf jene Weise an, die ihn rasch alarmierte, vorsichtiger zu sein.

„Wie sieht es bei euch aus? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mit nur einem Sprössling schon glücklich und zufrieden bist. Nicht, wenn ich jedes Mal wieder sehe, wie du dich bei uns einmischst und meine Kinder verziehst, allesamt.“

Der Hüne lächelte schief. „Ich verziehe sie nicht – ich helfe nach, dass sie ihren großen Idealen näher kommen. Euch. Also wenn sie auf dich verzogen wirken, dann ist das ein Spiegel für dich und du solltest wirklich mal darüber nachdenken…“

In einem Anflug demonstrativen Erwachsenseins streckte Ishara ihm die Zunge heraus, ihr zweifellos gewichtigstes Argument, und hatte im unmittelbaren Anschluss kurz mit Elaine zu kämpfen, als die versuchte, sich auf Thorins Seite springend einzumischen, das er ja einen guten Punkt hätte…

„Aber um deine Frage zu beantworten – wir haben darüber nachgedacht, ja, und versuchen es auch wieder. Ein Sohn, darauf haben wir uns schon geeinigt.“

Ishara lachte leise auf. „Darauf geeinigt? Ach so funktioniert das? Wieder ein Geheimnis des Lebens, dass du mit mir zu teilen versäumt hast…! Und, wie soll er heißen?“

Thorin schmunzelte und setzte Elaine auf dem Bett ab, um sich etwas bequemer hinzusetzen. „Im Rennen sind aktuell noch drei. Alexander – wie der Held in Molly Oberweite. Bertram – wie irgendein Vorfahre Ninafers. Oder Nathenial – wie… kompliziert. Der… uff… der Bruder des Vaters einer früheren Flamme. Wirklich, ich habe den Namen nur gewählt, weil er hübsch klingt. Scheint also so ein Männerding zu sein.“

Ishara nickte nachdenklich. „Ja, scheint so. Bertram klingt scheußlich, wirklich. Und Alexander klingt zwar gut, aber der Name kommt unglaublich oft vor und ihr wollt eurem Sohn bestimmt niemals erklären, warum er diesen Namen hat… wo er her kommt.“

Thorin zuckte mit den Schultern. „An dem Punkt sind wir noch nicht, noch lange nicht. Erstmal… eins nach dem anderen.“ Und mit jenen Worten half er Ishara langsam und vorsichtig aus der Umklammerung heraus. Frederick wachte nicht auf, Alistair ebenso wenig – der einstige Langfinger schlang lediglich sich kurz regend den Arm um seinen Sohn und ruhte weiter. Ishara dagegen entschlüpfte geschickt und trat zum anderen Bett herüber.

Nachdem sie sich wortlos fragenden Blickes bei Eirik versichert hatte, schlüpfte sie zu Anabelle ins Bett und zog ihre Jüngste an sich. „Ich bin so unendlich froh, dass es dir gut geht…“

Thorin setzte sich ebenfalls dazu, nahm Isharas Hand und wartete ab. Minuten zogen dahin, wurden zu einer Stunde, dann zu zwei. Es schien eine gefühlte Ewigkeit zu sein, bis Anabelle kaum merklich die Augen öffnete. Sowohl Eirik, als auch Thorin und Ishara wäre es völlig entgangen, hätte das Mädchen nicht jene eine Frage gestellt, die Ishara und Thorin leise auflachen ließ.

„Kann ich ein Eichhörnchen haben?“



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