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Prybjat

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Prybjat

Prybjat
 

Die Katastrophe ereignete sich als ich ein Knirps war.

Niemand sagte uns etwas, niemand warnte uns vor der unsichtbaren Gefahr die über uns schwebte.

Wir flohen als es zu spät war.

Drei Tage nach der Katastrophe wurden wir erst evakuiert.

Da war es jedoch schon längst zu spät.
 

Meine kleine Schwester war in der letzten Nacht im Schlaf gestorben.

Meine Eltern würden mir dies erst viel viel später erzählen.

Ich wusste nur das ich Abends noch sah wie meine Mutter sie in ihr Bettchen legte und am nächsten Morgen als ich aufwachte war sie nicht mehr da.

Als ich meinen Vater danach fragte sagte er sie wäre jetzt an einem besseren Ort.

Mich verwirrte diese Antwort, aber zu diesem Zeitpunkt gab ich mich wohl oder übel damit zufrieden.
 

Am nächsten Tag saß auch mein Vater nicht mehr mit uns am Esstisch.

Mein Opa hatte das Zimmer in dem meine Eltern schliefen abgeschlossen.

Ich verstand noch immer nicht was plötzlich geschehen war und auch der Rest meiner noch lebenden Familienmitglieder konnte meine bohrenden Fragen nicht beantworten.
 

Kurz nach dem Mittagessen klopfte es laut an unserer Tür.

Wir wohnten damals in einem Hochhaus mit insgesamt acht Stockwerken.

Ich erinnere mich noch daran das neben uns eine alte Dame wohnte die sich immer gerne auf dem Dach des Hauses gesonnt hatte.

Auch wenn das eigentlich verboten war.
 

Als mein Opa die Tür öffnete sah ich wie aus ihrer Wohnung ein seltsamer schwarzer Sack getragen wurde.

Damals war ich zu unwissend um zu erkennen um was es sich dabei handelte.

Heute weiß ich es genau.
 

Vor der Tür standen zwei große Männer in dunkel blauen Uniformen.

Sie sahen nicht besonders freundlich aus und sprachen kurz mit meinem Opa.

Währenddessen hatte meine Oma sich mit mir und meiner Mutter in die Küche zurück gezogen und stopfte allerlei Dinge in Taschen und Koffer.

Mein Opa kam zu uns in die Küche.

Sein Blick sah jetzt genau so aus wie der der Männer.
 

„Wir müssen sofort von ihr verschwinden, in zehn Minuten verlassen wir die Stadt. Nehmt nur so viel ihr tragen könnt und lasst den Rest liegen.“, befahl er.
 

Wir spurten sofort.

Meine Mutter zog mir einen Mantel an, legte mir eine Umhängetasche um und setzte mir eine kalte gruselige Maske um den Kopf.

Ich konnte kaum atmen, geschweige denn den Kopf gerade zu halten.
 

Wie mein Opa gesagt hatte standen wir nicht mal zehn Minuten später auf dem Bürgersteig.

An uns fuhren Busse, Autos und große Monster auf Ketten vorbei.

Ich hatte angst.

Ich umklammerte fest die Hand meiner Mutter.

Ihr Gesicht konnte ich unter der Maske kaum erkennen, aber ich hatte das Gefühl das Tränen über ihre Wangen liefen.

Zumindest hörte ich sie leise schniefen.

Nochmal einige Minuten später saßen wir in einem Bus und ließen die große Stadt die ich meine Heimat nannte hinter uns.

Ich umklammerte fest meinen Teddy den ich aus dem leeren Bettchen meiner Schwester mitgenommen hatte.
 

Die Stadt in der ich damals lebte war wunderschön.

Heute ist sie eine verfallene post-apokalyptische Landschaft die langsam von der Natur zurückerobert wird.
 

Jetzt über 20 Jahre später kehre ich an den Ort zurück.

Unsere Wohnung ist verfallen.

Die Möbel vermodert, die Tapeten von der Wand abgeblättert und mein ehemaliges Spielzeug von

Staub überzogen.

Die Fenster waren zerbrochen und auch die Türen waren kaputt.

Wahrscheinlich war auch unsere Wohnung den Plünderern zum Opfer gefallen.

Der Gedanke daran schmerzte.
 

Noch immer konnte man nicht ohne Schutzkleidung hier sein.

In der Hand hielt ich eine Gasmaske.

Eine etwas größere als die die ich als Kind getragen hatte.

Wenigstens einmal wollte ich noch einmal den Geruch der Stadt einatmen.

Die Konsequenzen waren mir dabei egal.
 

Damals hatte ich Glück gehabt und hatte überlebt.

Heute litt ich an Schilddrüsenkrebs, wie tausende andere Menschen auch.

Einer Langzeitfolge.

Die Ärzte hatten mir nicht mehr lange gegeben, bald war meine Zeit abgelaufen, was hatte ich also noch zu verlieren?

Ich atmete tief durch.

Dann setzte ich meine Maske wieder auf und machte mich auf den Weg zurück.

Zurück in meine neue Heimat.
 

Am 26. April 1986 explodierte der Reaktorblock Nummer 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl.

Am schwersten getroffen wurde die nahe gelegene Stadt Prybjat.

Seitdem sind tausende Menschen an den Langzeitfolgen gestorben.

Morgen würde es einer mehr sein...



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  _Lucrezia_
2010-06-03T19:09:17+00:00 03.06.2010 21:09
Ein sehr bewegnde Story mit ernsten Hintergrund.
Und leider traurige Wahrheit, wir haben bis 1990 nie die vollen Ausmasse erfahren...
Aber viel gelernt auch nicht durch den GAU.


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