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Schatten schießen

von

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Schatten schießen
 


 

I try to run but see I'm not that fast

I think I'm first but surely finish last
 

„Mein Leben“, beginne ich langsam, „ist die Verlagswerbungsseite am Ende eines schlechten Teenager-Liebesromans.“

„Dein Leben“, stimmt mir Markus leichtfertig zu, „ist gefickt.“

„Das wollte ich damit ausdrücken.“

„Oh.“
 

Das zweitschlimmste daran ist, dass ich nicht einmal sagen kann, wie mein Leben so schnell den Bach hinunter gehen konnte. Hätte man mich vor einem halben Jahr gefragt, ich hätte grinsend geantwortet, dass ich mich im Moment perfekt fühlte und rundum zufrieden war. Die Schule lief damals, zu Beginn meines Abschlussjahres, besser als jemals zuvor, der Führerschein war bestanden, mein Dad hatte es geschafft die Toasts endlich nicht mehr jeden Morgen im Uralt-Toaster verbrennen zu lassen, ich besserte mein Taschengeld etwas auf, indem ich im Telefonshop meines Vaters aushalf und ich hatte einen liebenswerten Freund gehabt. Gehabt. Besagter liebenswerter Freund war dann nämlich auf einmal gar nicht mehr so liebenswert und hat mich, alles andere als lieb, für einen Anderen, Älteren, sitzen gelassen.

Natürlich lag es nicht an mir, dass er mich abserviert hatte. Zumindest sage ich mir das.
 

Das Schlimmste daran ist, natürlich, dass es wohl doch irgendwie an mir lag. Zumindest sagt das mein Vater: „Wenn dich dein Mädchen verlässt, liegt das immer an dir“ – seine Worte. Nun, zwar ist Felix kein Mädchen, aber ich denke mal, Dad weiß wovon er redet, schließlich hat ihn Ma auch verlassen. Ob die Schule wenigstens läuft? – Oh bitte, ich glaube es ist wahrscheinlicher, dass ich eine Primaballerina werde, als dass ich jemals mein Abitur bestehe. Was ja auch irgendwie an mir liegt. Schließlich könnte ich ja mehr lernen, aber scheiße, hätte mir jemand vorher gesagt, dass Stochastik so ein Dreck ist, ich hätte mir nach der Zehnten einen Job gesucht und den Spaß geschmissen.

Und gerade heute Morgen, als ich in Boxershorts in die Küche schlurfte und dabei war, mir mein T-Shirt überzuziehen, explodierte der Toaster. Gut, er explodierte nicht wirklich. Eher gab es einen lauten Knall und das ein oder andere Metallteil flog davon und dann nur noch Rauch, aber das Resultat bleibt das gleiche: Er ist kaputt.
 

‚Feeling good today‘ blinkt mir die in Neonfarben gestaltete Anzeige eines Yoga- und Gymnastik- Schuppens entgegen und ich weiß nicht, ob ich vor Ironie lachen oder heulen soll, denn gut fühle ich mich heute wirklich nicht und ich wage mal, mutig wie ich eben von Natur aus bin, zu behaupten, dass sich das auch nach einer Stunde des Schwitzens in komischen Stellungen, bei denen ich mir bei meinem Talent noch die Schulter auskugle, nicht ändert.
 

Seufzend wende ich mich von dem Schaufenster ab und überquere zusammen mit Markus die Ampel, die in dem Moment auf grün springt. Hey, vielleicht sollte ich meine Stimmung nicht nur von egomanischen Ex-Freunden, pseudo Bewertungen und nicht mehr vorhandene Toastern beeinflussen lassen. Ich meine, es wurde gerade grün, ohne dass wir auch nur eine Sekunde warten mussten, warum sollte ich mich deswegen jetzt nicht wenigstens ein klein bisschen besser fühlen? Vielleicht mochte mich die Ampel ja und schert sich um meine Gefühle - ob ich mich, zum Beispiel, belastet fühle, durchs Warten - ganz im kompletten Gegensatz zu meinem Ex praktisch.

Jedoch weigert sich irgendeine mentale Barriere tief in mir drin, mein Verhalten jetzt auch noch ampelabhängig zu machen. Das ist doch kindisch! Nicht wahr? Ist es doch?
 

Als wir den Laden meines Vaters betreten, begrüßt uns die angenehm klimatisierte Luft, die im Inneren herrscht. Ich habe meinem guten Herrn Vater nämlich versprochen, heute den ganzen Nachmittag auszuhelfen, da er auf einer Messe in Frankfurt ist. Oder in Leipzig. Auf jeden Fall ist er nicht da. Und ich habe ja sowieso wieder jede Menge Freizeit, so ganz ohne Freund, also was soll ‘s.
 

„Denk dran, Dion, man:“, holt mich Markus aus meinen Gedanken, „ für jedes Problem gibt es eine Lösung die elegant, einfach-“

„Und falsch ist.“

„Genau “, Markus grinst mich, seine krummen Zähne bleckend, an.
 

„Wie auch immer, Herr Optimist “, seine Augenbrauen wackeln frech auf und ab während das Atomgrinsen immer noch nicht von seinen Zügen verschwunden ist, „ich muss für meine Ma noch ein paar Besorgungen machen. Ich kann mein Brett doch wieder kurz hier stehen lassen, oder?“
 

Schulterzuckend willige ich ein. Ist schließlich nicht das erste Mal, dass er, während er ein paar Einkäufe in der gepflasterten Innenstadt erledigt, sein heißgeliebtes Skateboard bei mir im Laden stehen lässt. „Klar.“

„Danke man, bist ‘n Kerl.“

„Ist mir bewusst. Zumindest war es noch so, als ich das letzte Mal nachgesehen habe.“
 

Markus lacht leise, boxt mir einmal gegen die Schulter und verabschiedet sich mit einem ‚bis gleich‘ von mir, bevor er sich einmal verwirrt um die eigene Achse dreht und dann, als er die auf die Straße führende Glastür wieder entdeckt und fest fixiert hat, direkt darauf zusteuert. Auf dem Weg zur Tür, stößt er mit Bert, dem festangestellten Mitarbeiter zusammen, der gerade aus dem kleinen Lager kommt und an einem Kundenhandy herum fummelt. Während er sich tausendmal entschuldigt, streift Markus sich über die Haare, wobei er vergisst, dass er heute einen Hut trägt, und diesen dabei zu Boden fetzt. Beim Aufheben schlägt er Bert, der sich ebenfalls nach dem Hut gebückt hat, mit dem Hinterkopf an die Nase und entschuldigt sich daraufhin ein weiteres Mal. Als Markus dann endlich den Ausgang –mitsamt Hut - erreicht hat, dreht er sich noch einmal zu mir um und verabschiedet sich erneut.

Ich grinse nur.
 

_____
 

Als er hereinkommt, bin ich gerade dabei die Bestellungen am Computer mit der neu eingetroffenen Ware zu vergleichen. Bert ist mit einer älteren Dame beschäftigt, deren Telefon – angeblich – wie von Geisterhand nicht mehr funktioniert. Woher das zersplitterte Display und die zersprungene Schale kommen, kann sie sich natürlich nicht erklären.

Der angenehm warme Windhauch, der bei dem Öffnen der Tür über meine nackten Arme streicht lässt mich wohlig erschauern. Schnell werfe ich Bert noch einen Blick zu, da sich eigentlich nur er und mein Vater direkt um die Kunden kümmern, doch gemessen an der Tatsache, dass er sich schon wieder, sichtlich verzweifelt, durch die Haare fährt und ihn die nette Dame wohl in den nächsten Minuten nicht entlassen wird, erhebe ich mich und trotte zu einem der schmalen, taillenhohen Tische, die zur Beratung gedacht sind.
 

Ich hebe meinen Blick und sehe ihn da stehen, wenige Schritte von mir entfernt, verunsichert dreinschauend. Seine bleichen Haare fallen ihm sanft in die Stirn, sein blasses Gesicht und die dunklen Augen sind mir zugewandt, mustern mich kurz, bevor er, an dem Ärmel seines langen, dünnen Oberteils ziepend auf mich zukommt. Mit jedem kleinen Schrittchen auf mich zu wird er schöner. Gott, klingt das kitschig. Es ist natürlich keiner dieser berühmten Disney-Momente, in denen ein Engelschor auftaucht und ein Lied trällert, während alle anderen Anwesenden im Raum ehrfürchtig zurücktreten - denn das, das ist wahre Liebe und, scheiße, wage es nie, ihr Steine in den Weg zu legen – während wir lächelnd aufeinander zugehen, uns an den Händen fassen und uns lachend im Kreis herum wirbeln.

Vielmehr stehe ich da und glotze ihn an, während er anscheinend den marineblauen Teppichboden viel interessanter findet als mich. Oder es ist ihm einfach unangenehm von mir so begafft zu werden wie ein Löwe im Zoo, oder eher wie ein Erdmännchen. Er sieht etwas aus wie ein Erdmännchen. Ich mochte diese kleinen Tiere schon immer, aber ich glaube jetzt sind sie zu meinen Lieblingen geworden. Der Gedanke bringt mich zum lächeln.
 

Auf einmal schnellt sein Kopf nach oben, seine Augen blicken direkt in meine und-

„Ich… uhm, will ein Handy kaufen?“

„Okay.“ Das Grinsen auf meinem Gesicht ist wie festgefroren.

Ihn immer noch anstarrend taste ich unter der kleinen Theke nach dem Schlüssel für die Glasvitrinen, stecke ihn in meine hintere Hosentasche, nur um ihn dann wieder nach draußen zu ziehen und ihn zurück auf seinen ursprünglichen Platz zu legen.

Sogar seine Stimme ist schön.
 

Als ich nach gefühlten Minuten immer noch kein weiteres Wort heraus bringe, lächelt mich der Junge verunsichert an, was mich aus meiner Starre erwachen lässt. Schnell räuspere ich mich.
 

„Okay, hast du dir “, seine braunen Augen blitzen aufmerksam auf, was mein Herz dazu bringt einen Schlag auszusetzen und dann mit doppelter Geschwindigkeit von neuem los zu rasen, „… hast du dir schon überlegt, was du gerne für eines hättest?“
 

Fragend zieht er seine hübsche Stirn in Falten.

„Ich meine… Touch, oder Tasten? Mit Cam, W-Lan und ‘nem Startpacket an Apps? Hast du vielleicht eine bevorzugte Marke? Das neue Blackb-“

„Tasten, bitte!“, unterbricht er mich laut. Gut, er spricht immer noch leiser als ich, aber im Gegensatz zu seinem Gestotter und Geflüster von vorhin ist das schon ein Fortschritt.

Ich nicke verstehend.

„Die neuen Smartphones stehen da hinten in der Vitrine, bis auf die unteren haben alle WLAN, UMTS und sind HSDPA-kompatibel. Natürlich, wenn du willst, kann-“

„Ich“, unterbricht er mich erneut, „will nur telefonieren.“

Überrascht ziehe ich die Augenbrauen nach oben.

„Damit kannst du telefonieren“, versichere ich ihm.

Auf seinen Wangen erscheint eine sanfte Röte, die im Gegensatz zu seinem blassen Gesicht und den bleichen Haaren, richtig schön hervorsticht. „Ich weiß“, flüstert er beschämt die Theke musternd, „ich will aber, dass man damit nur telefonieren kann.“
 

Ich… was?
 

Überrascht klappt mein Kiefer auf. Entgeistert starre ich ihn an. Welcher Jugendliche will denn heutzutage mit seinem Handy nur telefonieren?

Ihm ist mein geschockter Blick sichtlich unangenehm, verunsichert zieht er seine schmalen Schultern nach oben. Am liebsten würde ich ihn in dem Moment fest umarmen und nie wieder loslassen. Stattdessen kralle ich meine Hände fester an das glatte Holz und überlege angestrengt.
 

„Es gibt Seniorenhandys“, beginne ich langsam, „aber damit kann man mittlerweile auch schon SMS schreiben.“

Sein verschämter Blick richtet sich wieder auf mich.

„Sowas gibt es?“

Ich nicke.

„Habt ihr so eins da?“, fragt er schüchtern weiter.
 

Erneut nickend schnappe ich mir den Schlüsselbund, mit dem ich schon die ganze Zeit spiele und durchquere den Laden, bis ich vor einem kleinen Schrank stehe, der mir gerade einmal bis knapp über die Knie reicht. Versucht unauffällig ziehe ich meine tief sitzende Hose nach oben und mein T-Shirt ein Stück nach unten um ihm nicht allzu direkt meinen Hintern in sein Gesicht zu strecken, bevor ich in die Hocke gehe und das Schloss öffne. Hätte ich heute früh auch nur ansatzweise ahnen können, dass mir während der Arbeit mein Traumtyp begegnet, ich hätte nicht meine alten Homer Simpson-Boxershorts angezogen, die übrigens nicht einmal frisch aus der Wäsche kommen. Routiniert öffne ich die Schublade, verschaffe mir einen schnellen Überblick, bevor ich drei Handys herausnehme und die Lade wieder schließe. Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass meine Aktion mehr als unnötig gewesen ist, hat er sich doch weder zu mir umgewendet noch sonst irgendwie bewegt. Er steht immer noch, seine verschränkten Hände anstarrend, da und wirkt unheimlich fehl am Platz.

Aber darüber denke ich wohl nur ungefähr eine zehntel Sekunde nach, denn das, was mich im Moment mehr interessiert ist sein kleiner, fester Hintern in der engen schwarzen Hose. Ich weiß ja, dass man sich heutzutage in unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft nicht mehr dafür schämen muss, jemanden sexuell anziehend zu finden, jedoch kann ich die Wärme, die sich auf meine Wangen stiehlt, weil ich einfach nicht wegsehen kann, nicht aufhalten. Gott, ich will ihn anfassen. Warum ist es bei uns auch nicht Gebrauch, jemanden zur Begrüßung auf den Arsch zu hauen? – Ich meine, gut, dann fände man wohl etwas anderes als die Kehrseite ansprechend. Hände zum Beispiel – wobei ich, um ehrlich zu sein, was ich ja bin, seine schmalen, zarten Fingerchen schon recht ansprechend finde. Am ansprechendsten wohl auf meinem Bauch, zielstrebig unterwegs in Richtung Süd-
 

Das nächste, was ich aktiv mitbekomme, ist mein Gesicht auf dem fussligen Fußboden, mein schmerzender Knöchel und drei Seniorenhandys wahrlich meisterhaft um mich herum drapiert. Verdammter Drecksmist! Was stellt der Penner auch sein Stück Baum genau hier hin? Warum hat er es nicht – keine Ahnung… auf die Zimmerpflanze gelegt? Ich konnte sein Rollbrettchen ja gar nicht sehen, warum sollte ich auch, wenn ich so ein heißes Stück Fleisch vor meinen Augen habe? Natürlich ist es nebensächlich, dass er das Teil genau dahin gestellt hat, wo er es immer ablegt. Ich meine hey – Scheiße, war das peinlich.

Sofort schnellt mein Kopf hoch, und meine Augen treffen genau auf große, dunkle – und jetzt das neue: besorgt dreinblickende. Oh Shit. Mich versucht lässig erhebend ziehe ich mein Oberteil wieder gerade. Danach trete ich, in einem Anflug kindischen Beleidigtseins, mit meinem Fuß gegen Markus‘ Skateboard, welches, durch den Schwung, den es von mir bekommt, anfängt zu rollen und mit einem lauten Krachen gegen einen der Holzschränke fährt.
 

Spätestens jetzt habe ich alle Augenpaare des Raumes auf mich gezogen. Grandios. Ich kann was. Automatisch ziehe ich meine Unterlippe zwischen meine Zähne, während ich mich peinlich berührt am Hinterkopf kratze. An Berts Gesichtsausdruck kann ich deutlich erkennen, dass er stark an sich halten muss um einen Lachanfall zu unterdrücken. Die alte Dame scheint dagegen eher sichtlich empört über die rüpelhafte Jugend und Beauty- ich meine: der Junge - ist, als ich mich endlich wieder traue ihn anzusehen, obwohl ich wohl immer noch einer Chilischote gleiche,... weg? Unruhig fliegen meine Augen durch den Laden, bis sie ihn wiederfinden. Ihn. Den süßesten, anbetungswürdigsten Arsch, der je eine Röhrenjeans von innen erblickt hat. Er wackelt direkt vor mir auf und ab, während Blondie die restlichen beiden Mobiltelefone vom Boden aufhebt.

Schluckend trete ich einen Schritt auf ihn zu, gerade in dem Moment richtet er sich wieder gerade auf, dreht sich um und starrt mich an. Und just zu dem Zeitpunkt als sich bereits eine Entschuldigung auf meiner Zunge formt, öffnet sich sein Mund, ebenfalls. Überrascht halte ich inne, um ihn zuerst sprechen zu lassen. Doch offenbar hat er auch bemerkt, dass ich eben im Begriff war, etwas von mir zugeben, zumindest presst auch er seine Lippen wieder fest zusammen. Was entstehen sind weitere peinliche Sekunden des Schweigens, bis ich mich endlich dazu aufraffen kann ein ‚Dankeschön‘ zu nuscheln.

Zögerlich nehme ich ihm die Handys ab und nicke auffordernd zu dem Stehtisch, an dem wir vorhin schon standen, hinüber. Er scheint meine Andeutung zu verstehen und folgt mir, an meine Fersen geheftet, wie ein braves Hündchen, beziehungsweise Erdmännchen, dahin zurück.
 

Meine Hände zittern leicht, als ich die Modelle nebeneinander lege und in dem kleinen Laptop die verschiedenen Seiten suche, auf denen die drei Mobiltelefone näher beschrieben sind. Dann schlucke ich noch einmal kräftig und hole tief Luft und dann, ja dann schaff ich es doch tatsächlich ihm die jeweiligen Vor- und Nachteile, hoffentlich einigermaßen verständlich, zu erklären.
 

„Okay. Dann nehme ich das “, er deutet auf das Mittlere, „bekomme dann noch die SIM-Karte, die ich ganz normal hinten reinstecke und dann funktioniert alles wie ein normales Telefon?“

„Genau“, sage ich. ‚Hinten rein stecken würde ich auch gerne einmal’ denke ich. Zum Glück funktionieren meine Synapsen noch halbwegs und ich sage nicht, was ich denke.
 

„Dann brauche ich nur noch deinen Namen und die Adresse, zwecks der monatlichen Rechnungen.“

Erst als ich den Satz beendet habe, fällt mir auf, dass ich ihn ganz selbstverständlich geduzt habe, obwohl es mich selbst immer annervt von sämtlichen Verkäufern wie ein kleines Kind behandeln zu lassen. ‚So, schau mal, hier ist dein Wechselgeld‘ höre ich noch viel zu oft und egal was ich darauf sage – ‚Nein! Gut, dass du ‘s sagst, ich hätt ‘s grad echt nicht erkannt!‘ – beginnt die Leier jedes Mal wieder von neuem. Jedoch scheint der Junge vor mir damit kein wirkliches Problem zu haben.
 

„Janosch“, bekomme ich sofort eine Antwort, „Janosch Karger.“

Und dann folgt seine Adresse, jedoch bin ich gerade viel zu mental abwesend um sonderlich darauf Acht zu geben. Janosch. Gott, das ist Zucker. Eigentlich hätte ich mir denken können, dass er so heißt, wie sollte er auch anders heißen? Der Name passt zu ihm, wie… meiner zu mir passt. Wir wären das perfekte Paar. Jedoch scheint er das anders zu sehen, denn als ich, nach dreimaligen Nachfragen, endlich seine Daten in den Computer eingegeben habe, ihm ein noch verpacktes Handy und den Briefumschlag mit SIM-Karte inklusive Telefon-, Pin- und Pucknummer ausgehändigt habe, bezahlt er und verlässt, leicht lächelnd den Laden.

Ich stehe da, starre ihm nach und komme mir vor wie ein Vollidiot.
 

_____
 

„… und da hat mich ihre scheiß Ratte einfach in die Ferse gebissen! Gebissen! Diese Minitöle! Und als ich ihr dann gesagt habe, sie soll mich Huckepack hierher tragen, oder mich wenigstens auf ihrem Köter reiten lassen, ist sie einfach gegangen! Ich meine, das waren noch mindestens vierhundert Meter! Und ich bin schwer verletzt, was ja ihre Schuld ist. Ich humpele also mit so großen Schmerzen wie noch nie los - übers Kopfsteinpflaster wohlgemerkt - zurück hierher, und will gerade über die Straße, da springt die Ampel um. Ich bin schon mit einem Fuß vom Bordstein drunten und denk mir ‚ach scheiß drauf, da gehst du jetzt noch rüber‘, aber nein, muss ja wieder so ein alter Knacker hinter mir stehen, der mir erst mal mit seiner Krücke voll gegen die invalide Wade donnert und mir dann eine Predigt hält von wegen Vorbildfunktion. Ich sag dir, mein Fuß tut so weh. Willst du mal sehen? – Man, ich wette ich kann die nächsten zwei Jahre nicht mal mehr ansatzweise in die Nähe einer Halfpipe.“
 

„Mhm“, abwesend knabbere ich an meinem Daumennagel, nehme ihn anschließend aus dem Mund und streiche über die jetzt unebene Kante. Es ist nicht so, als würde ich ihm nicht zuhören, aber, selbst wenn ich es tun würde, würde ich nur die Hälfte verstehen, also wozu die Mühe? Außerdem kommt Markus immer, und wenn ich ‚immer‘ sage, meine ich ‚immer‘ - sonst würde ich nicht ‚immer‘ sagen - mit mindestens einer Verletzung zurück. Egal wo er war. Und wenn er nur den Müll rausbringt. Es ist ein Wunder, dass er noch nie sich selbst, anstelle des Mülls in den Container geworfen hat. Wenn ihr versteht, was ich meine.
 

Markus ist von meinem Desinteresse tief getroffen. „‚Mhm‘? Dion, dein bester Freund, Drachentöter, Retter der Armen und Schutzlosen, der oft kopierte und nie erreichte, auch zwanzig Prozent auf Tiernahrung, die einen Stecker hat kriegende… Gott, ist schwer verletzt worden, ich weiß das-“

„Markus“, unterbreche ich seinen Redeschwall, „ich glaub ich… steh auf… jemanden.“
 

Mein selbsternannter bester Freund schnaubt abfällig und greift sich sein Skateboard. An seinen hervortretenden Kaumuskeln und der zuckenden Unterlippe kann ich erkennen, dass er sich stark zusammenreißen muss um nicht zu schmollen.
 

„Ich werde von einer Töle angefallen, die vielleicht Tollwut hatte und das einzige, was dir dazu einfällt ist, dass du geil auf irgendeinen Kerl bist?“

Beschwichtigend hebe ich meine Hände. „Okay“, sage ich schnell, „zeig mir deine Wunde.“

„Pah, jetzt ist ‘s auch zu spät.“, lautstark seine Nase nach oben ziehend wendet er sich komplett von mir ab.
 

Ich schüttle leicht den Kopf. „Markus, sei nicht so ein Mädchen.“

Kaum, dass das letzte Wort meinen Mund verlassen hat, schnellt er wieder zu mir herum, seine Augen blitzen mich feindselig an, bevor sich etwas Spitzbübisches in seinen Ausdruck stiehlt. Seine Mundwinkel beginnen leicht zu zucken, seine Nasenflügel weiten sich, bis er schließlich in schallendes Gelächter ausbricht. Spielerisch boxt er mir gegen die Brust.

„Ist er wenigstens heiß?“, will er von mir wissen. Ich brauche ein paar Sekunden um zu realisieren von wem er spricht, doch als ich darauf komme, stiehlt sich ein wohl ebenso dreckiges Grinsen auf mein Gesicht, wie auf seinem zu sehen ist.
 

„‚Heiß‘ beschreibt ihn nicht mal annähernd.“
 

_____
 

„Aber Markus, ich weiß doch nicht mal, ob er schwul ist. Nicht jeder ist schwul.“

„Und nicht jeder ist homophob. Wenn er nichts von dir will, wird er dir das schon normal sagen.“

„Aber Markus… ich will nicht, dass er es nicht ist.“

„Du willst nicht, dass er nicht was gegen Homos hat?“

„… Ich will keinen Korb bekommen.“

„Wer will das schon.“
 

Geschlagene fünf Minuten starre ich das Handy in meiner Hand an, bis mir einfällt, dass ich Markus gar nicht gefragt habe, was ich sagen soll. Grübelnd drücke ich die Wahlwiederholung. Markus nimmt auch schon nach kurzem Warten meinerseits das Gespräch an.
 

„Glaubst du, er-“

„Dion! Ich habe ein Date, mit einem Mädchen. Tina, weißt du noch? Lange rote Haare, super Figur. Lass mich in Ruhe und versau mir nicht alles! Ruf ihn einfach an, okay?!“
 

Und erneut ist die Leitung tot. Was soll das? Versteht er nicht, in was für einer schwierigen Situation ich gerade stecke? Warum interessiert ihn das Mädchen mehr als ich? Nur, weil ich keine Titten habe! Tzz, Männer...

Scheiße. Frustriert streiche ich mir durch die Haare. Ich kann ihn doch nicht einfach anrufen, und… und, ja, was will ich ihm eigentlich sagen? Dass ich ein kleiner Stalker bin, der gerne mal sehen würde ob seine Haare untenrum auch blondiert sind? Verdammt.
 

Es ist Samstagnachmittag und anstatt grübelnd auf der Couch zu sitzen, sollte ich Chips fressend und amerikanische Comedy-Serien schauend auf der Couch sitzen. Der einzige Grund, warum ich dies nicht mache, ist Janosch –natürlich. Ich habe, seit er am Donnerstag zu mir in den Laden gekommen ist, ausschließlich an ihn gedacht. Gut, ich gebe zu, zwischendurch hab‘ ich auch mal darüber nachgedacht, welche Pizza ich bestellen soll, und am Freitagabend war ich mit Markus einen über den Durst trinken und habe wohl zeitweise an gar nichts gedacht, aber ansonsten hatte ich nur seine dunklen Augen, die helle Haut und die ebenso hellen Haare im Gedächtnis.

Als ich dann heute Morgen aufgestanden bin, nach einer kalten Dusche, zwei Aspirin und einem Smoothie wieder auf den Beinen war, habe ich beschlossen, dass ich sofort handeln muss, bevor er noch weiter aus meinem Leben verschwindet. Deswegen habe ich dann auch Markus in, ich zitiere, „aller Herrgotts –scheiße, ist’s schon zwölf? – Frühe“ angerufen. Natürlich war es nicht zwölf, es war schon nach eins, aber, anstatt mir dankbar zu sein, dass ich ihn überhaupt durch meinen Anruf geweckt habe, war er verdammt schlecht gelaunt.

Ich wollte mir sein Gemotze auch eigentlich gar nicht antun, aber ich brauchte ihn in dem Moment und hielt zu diesem Zeitpunkt noch große Stücke auf ihn. Denn Markus hat zwar nie sonderlich lange Beziehungen, dafür wagen aber erstaunlich viele Mädchen eine emotionale und körperliche Bindung zu ihm - was wohl an seiner… Strategie liegt. Und genau bei dieser sollte er mir helfen. Im Gegensatz zu ihm hab ich nämlich weder eine Flirtstrategie, noch bin ich charmant und eine charismatische Ausstrahlung kann ich – so sehr ich vor dem Badezimmerspiegel auch trainiere - auch nicht aufweisen. Und wie soll ich denn bitteschön, wenn mir solche grundlegenden Basics fehlen, an den Feinheiten einer langen, sexuell befriedigenden Beziehung feilen?

Als ich Markus fragte, wie ich Janosch finden soll, was ich sagen und anziehen soll und wie ich mich verhalten soll, war seine einzige Antwort: „Ruf ihn an.“

„Wie, anrufen?“, hab‘ ich gefragt. „Hast ‘e wohl seine Nummer?“

Markus schnaubte: „Ne, aber du. Oder hast du ihm keine SIM mit zum Handy verkauft?“
 

Ich konnte hören, wie er in das Badezimmer ging um sich zu erleichtern, während ich laut überlegte, ob es nun ethisch korrekt sei, den Datenschutz in so bedeutenden Fällen außer Acht zu lassen oder nicht. Markus jedoch meinte, dass es nicht gegen den Datenschutz verstieße, wenn ich die Nummer eh auswendig kenne. Was ich ja tue. Wie könnte ich sie mir auch nicht gemerkt haben?

Danach murmelte mein bester Freund was von ‚duschen‘ und legte auf.

Und ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte.
 

Das Problem hat sich auch in den zwei Stunden, in denen ich auf dem durchgesessen Sofa saß nicht verbessert, eher im Gegenteil. Je mehr Zeit verstreicht, desto nervöser werde ich. In meiner Verzweiflung habe ich noch zweimal versucht Markus zu erreichen, aber irgendwie scheint er heute wohl nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen sein. Das nächste Mal ruf ich ihn nicht mehr an, soll er doch sein Date verpennen.
 

Ich beschließe kurzerhand aus meiner Verzweiflung heraus, einfach eine Liste zu erstellen mit möglichen Sachen, die ich sagen könnte, falls ich ihn wirklich anrufen sollte. Leider ist das einzige, was in greifbarer Nähe liegt – denn ich kann gerade echt nicht aufstehen, dafür bin ich viel zu emotional aufgewühlt, was da alles passieren kann, will ich mir lieber gar nicht vorstellen - die Fernsehzeitung, die ziemlich bunt bedruckt ist. Nachdenklich blättere ich sie durch, bis ich eine in Weiß gehaltene Werbeanzeige sehe. Auf der oberen Hälfte der Reklame für Damenbinden steht eine ‚To-do-Liste‘ meines Vaters und mir, die wir einst anlegten, als sämtliches Geschirr dreckig im Waschbecken lag und kein sauberer Teller mehr zu finden war.
 

Nach kurzem Überlegen bin ich mir ziemlich sicher, dass ich nicht die komplette Seite benötigen werde und setze den Kugelschreiber, der mir schon seit geraumer Zeit in die Arschbacke piekte am Seitenende an.

Außer ein paar großen und kleinen Kreisen habe ich fünf Minuten später jedoch noch nichts zu Papier gebracht. Man, das ist doch alles scheiße.

Nach weiteren fünf Minuten steht ‚geiler Arsch‘ fett, da ich es mehrmals nachgefahren habe, zwischen den sich wohl eigenständig vermehrenden Kreisen. Jedoch glaube ich mich zu erinnern, dass es nicht nur Mädchen beschissen finden auf ihren Hintern reduziert zu werden. Ich sollte etwas über seine inneren Werte schreiben.

Die Augenbrauen zusammengezogen und die Zungenspitze zwischen den Zähnen notiere ich ‚schöne Aussprache des Wortes ‚Mobiltelefon‘‘. Kurz halte ich inne, kritzle dann ein ‚Bullshit‘ dahinter, verdeutliche meinen Gedanken noch mit einem Hundehaufen und schmeiße die Zeitung zurück auf den Wohnzimmertisch.
 

Seufzend lehne ich mich zurück und wünsche mir schon zum achten Mal an diesem Tag, dass ich rauchen würde. Warum kann ich auch nicht so genau sagen. Statt mir Kippen zu ziehen, stehe ich doch lieber auf und trotte in die Küche um mir ein Glas Wasser zu holen. Das mit den Zigaretten würde ich morgen sowieso wieder bereuen. Als ich in einem der Hängeschränke nach meinem Lieblingsbecher, auf dem Wonder Woman abgebildet ist, krame, bemerke ich auf dem Küchentisch den neuen Hi-Fi Katalog meines Dads. Ohne zu zögern greife ich ihn mir und gehe, nachdem ich mir eingeschenkt habe, zurück ins Wohnzimmer.

Leider vertreiben die tollen Bildchen von tollen Gerätchen mit gar nicht so tollen Preischen weder meine Denkblockade noch meine Langeweile. Also greife ich zu dem noch einzig ausstehenden Mittel:

Beinahe unbewusst wählt mein Daumen Markus Nummer. Zum vierten Mal heute.

„Der neue Katalog ist d-“

Aufgelegt.
 

Ich drücke die Wahlwiederholung. Es ist zwar sehr unwahrscheinlich, dass Markus aus Versehen aufgelegt hat, aber ich sehe ja gar nicht ein, warum ich mich ohne ein weiteres Wort von seiner Seite aus, einfach abwimmeln lassen sollte. Außerdem bin ich gerade echt ziemlich ratlos. Ich will den Jungen – Janosch – unbedingt mal… und ich meine jetzt nicht, im Bett mit ihm landen.., also, natürlich will ich schon… mit ihm… warum auch nicht, aber ich kann ja nicht – ich kann natürlich schon, mit mir und meinem kleinen Freund ist alles in bester Ordnung. Funktioniert alles so, wie es sollte.

Was ich sagen will ist…
 

Frustriert fahre ich mir durch die kurzen Haare und berühre schließlich mit meinem Finger den grünen Hörer auf dem Bildschirm meines Mobiltelefons. Das Freizeichen ertönt.

„Markus…“

„Alter! Ich versuche hier, verdammt nochmal, beschissen romantisch zu sein, Scheiße nochmal! Ich schwör dir Dion, wenn du noch mal anrufst…“
 

Die Stirn kraus ziehend schmeiße ich, nachdem sich mein bester Freund erneut aus der Leitung verabschiedet hat, mein Handy gegen die Sofalehne. Ich nehme wieder die Fernsehzeitung zur Hand und schreibe hinter ‚1. Geschirr abwaschen, 2. Staub saugen, 3. Wäsche waschen‘ ein ‚4. Weltherrschaft an mich reißen und Markus zur Putze versklaven‘. Nach kurzem Überlegen streiche ich ‚Putze‘ wieder und schreibe ein ‚Reinigungskraft‘ darüber. Wir wollen ja politisch korrekt bleiben.
 

Es ist schon weit nach siebzehn Uhr, als ich mein Handy zum was weiß ich wievielten Mal heute in die Hand nehme. Ich habe nämlich gerade beschlossen ihn anzurufen. Janosch meine ich, nicht Markus. Ich denke, wenn ich Markus heute noch einmal anrufe, schneidet er mir wirklich was ab. Und dann kann ich echt froh sein, wenn er sich nur die Mafia zum Vorbild nimmt und sich somit nur meinem kleinen Finger annimmt.

Meine Hände schwitzen und mein Herz rast. Im Moment kann ich außerdem kaum still sitzen.

Schon fünf Mal habe ich die Nummer, die ich mir tatsächlich nach einmaligem Lesen auswendig gemerkt habe, eingegeben und wieder gelöscht. Ich weiß eigentlich auch gar nicht, warum ich noch zögere, denn bis eben war ich mir noch so verdammt sicher endlich anzurufen. Aber je länger ich warte, desto schneller verfliegt mein emsig gesammelter Mut wieder und desto unsicherer werde ich. Eingeredet, dass Blondie auch schwul ist und nicht nein sagen wird, habe ich mir natürlich zu genüge, aber irgendwie glaube ich es mir selbst noch nicht so ganz.

Auf der anderen Seite kann er, wenn ich ihn nur anrufe, mir ja nichts tun. Also, natürlich habe ich keine Angst, dass er mich verprügelt, aber wenn er mich zum Beispiel verachtend ansehen würde, oder die ganze Zeit lacht, ich glaube, ich würde dann echt das Heulen anfangen.

Das Einfachste wäre es wohl, wenn ich jetzt wirklich einfach anrufen würde, dann würde ich mich bestimmt auch viel erleichterter fühlen. Er kann mich durchs Telefon ja wirklich schlecht erwürgen.
 

Ich gebe erneut die Nummer ein und drücke auf den grünen Hörer. Es wählt. Ich lege auf. Scheiße, ich kann das nicht.
 

Okay, ich warte einfach bis er abnimmt und lege dann gleich los. Wenn er etwas sagt, verunsichert mich das eh nur wieder.

Es wählt erneut. Ich räuspere mich, denn ich habe das Gefühl, meine Stimme zittert. Er nimmt ab. Was nicht nur ein Gefühl ist, sondern ich sicher weiß, ist, dass meine Hände zittern. Noch einmal tief luftholend lege ich los:
 

„Hey! Ich meine… uhm, ich hab dir die Nummer doch gegeben und… Also, ich bin der Kerl aus dem Handyladen, weißt schon, der an der Ecke bei der Schlesienstraße, neben dem Döner - aber das ist ja eigentlich egal, was ich sagen wollte… wir kennen uns zwar nicht, aber ich… ich fand dich ziemlich“, mittlerweile komplett rot angelaufen und immer noch zitternd, fliegen meine Augen auf der Suche nach den passenden Worten durch den Raum, „attraktiv!“ Attraktiv? Was rede ich? „Und vielleicht, ich meine wenn-“
 

„Hallo? Wer ist denn da?“
 

Scheiße…
 

„Hallo? Gertrude Karger hier. Was sagen Sie?“
 

Scheiße.
 

Ein Grummeln. Das Ertönen des Freizeichens.
 

Scheiße!

Das kann doch nicht sein. Das war doch nicht er. Geschockt starre ich auf die Nummer, die ich eben gewählt habe und ich schwöre, dass das die Nummer ist, die ich ihm gegeben habe. Aber vielleicht, war das Telefon ja gar nicht für ihn sondern…

Oh Scheiße. Ich möchte sterben.
 

_____
 

Es ist Montagmittag. Wagemutig schwänze ich gerade den Nachmittagsunterricht. Aber Unterricht wäre im Moment bei mir eh nur ein Tropfen auf den heißen Stein, also was soll ‘s. Den ganzen restlichen Samstag und den darauf folgenden Tag habe ich die Wohnung nicht verlassen. Gestorben bin ich aber leider auch nicht.

Und anstatt, dass ich, wenn ich schon zu blöd bin mir einen neuen Freund anzulachen, wenigstens an meinen schulischen Leistungen feile, stehe gerade im Laden meines Vaters und wische sämtliche Schränke mit einem Putzlappen mehr schlecht als recht ab. Ich hätte ebenso gut nach Hause gekonnt und mich vom Hartz IV-TV-Programm berieseln lassen aber jetzt bin ich nun mal hier. Und zwar nicht, weil ich immer noch die absurde Hoffnung habe, dass Janosch vorbeikommt und mir einen bläst, sondern aus dem einfachen Grund, weil hier eine Klimaanlage installiert ist und wir zu Hause nicht einmal einen Ventilator haben.
 

Seit dem peinlichen Telefonat bin ich in Selbstmittleid versunken. Markus hat natürlich versucht mich aufzumuntern – indem er mir erzählte, wie beschissen sein Date verlief - aber ich kam nicht umhin mich deswegen noch schlechter zu fühlen. Immerhin hatte Markus Dates. Ich kam ja nicht mal so weit.
 

Als sich dir Tür öffnet, blicke ich nicht auf, immerhin ist Bert nicht beschäftigt. Stattdessen pfeffere ich den Lappen in die Ecke und greife mir meine noch nicht angerührte Wasserflasche aus meinem Schulrucksack. Die Flasche zu meinen Lippen hebend will ich mich gerade irritiert umdrehen, da Bert noch kein einziges Wort zum neuen Kunden gesagt hat, als seine sanfte, engelsgleiche Stimme in mein Ohr dringt: „Hey.“
 

Himmelscharen erheben sich, goldene Chöre stimmen ihr erstes Lied an und ich, ich verschlucke mich und fange wie ein Irrer das Husten an. Bebend versuche ich die Wasserflasche, aus der ich bis eben getrunken habe, abzusetzen und zu verschließen, während ich zwischen den Hustanfällen keuchend Luft hohle um nicht zu ersticken. Leider funktioniert weder das eine noch das andere so wie ich es mir denke. Da die Flasche noch relativ voll war, verschütte ich ein gutes Viertel davon, auf meinem T-Shirt, bevor ich es, zitternd, schaffe den Schaubverschluss zu schließen. Tränen steigen mir in die Augen und ich atme keuchend ein. Erst jetzt werde ich mir der zierlichen Hand bewusst, die zärtlich über meinen Rücken streicht.

Überrascht hebe ich meinen Kopf und treffe mit meinen Augen sofort auf seine leicht besorgt drein blickenden. Mir kommt es so vor, als würde die Zeit stillstehen. Zumindest für einige Nanosekunden, genau die Zeit, die ich brauche um erneut das Husten anzufangen.
 

Als ich mich endlich wieder beruhigt habe, verschwindet auch wieder seine Hand von meinem Rücken. Scheiße, was macht der hier? Und warum, verdammt nochmal, sieht er heute noch viel besser aus als vor ein paar Tagen?
 

„Ist was mit dem Handy nicht in Ordnung?“, frage ich schließlich und tue ganz so, als hätte ich nicht anstatt bei ihm, bei einer alten Frau angerufen, ihr mein Herz ausgeschüttet und mich somit auch nicht zum größten Idioten der Nation gemacht. Doch leider –leider, leider, leider – scheint er genau deswegen hier zu sein. Janosch schüttelt leicht seinen Kopf, verneint dann meine Frage und erlischt somit das letzte Fünkchen Hoffnung, dass ich vorgestern doch die falsche Nummer gewählt habe vollkommen.
 

„Weißt du, “, sagt er dann schließlich und kommt noch einen Schritt näher auf mich zu, „das Teil hab‘ ich für meine Oma gekauft, was mir wirklich peinlich war.“

Mein Magen dreht sich mit einem Mal um und sämtliche meiner Eingeweide rutschen mir in die Hose. Also doch seine Großmutter, ich hab‘ es doch geahnt. Man, bin ich beschissen dumm. Was will so ein gut aussehender Kerl auch schon mit einem Seniorenhandy? Aber denken war ja bekanntlich noch nie so meine Stärke.
 

Und wisst ihr, was das Beschissenste daran ist? – Das Beschissenste an dieser ganzen Situation ist, dass ich mir im Moment nichts sehnlicher wünsche, als an einem einsamen Ort zu sein, wo es keine Telefone gibt, obwohl Janosch so dicht vor mir steht, dass ich sein fruchtiges Shampoo förmlich riechen kann und nur die Hand ausstrecken müsste um ihn zu berühren.
 

„Aber, “, fährt er fort, „deine Aktion war ja noch viel peinlicher.“
 

Ich glaube, jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt wenn – wie man so schön sagt – der Himmel auf einen herabfällt. Eigentlich sagt man das ja nicht, aber man sollte, wenn man schlau ist, damit anfangen, denn so fühlt es sich im Moment wirklich an. Eine kalte Dusche ist nichts dagegen. Immer noch wünsche ich mir, dass… ja, eigentlich wünsche ich mir im Moment gar nichts, denn wirklich an etwas denken, tue ich nicht.
 

Janosch grinst mich an. Ja, trampel ruhig auf meinen Gefühlen rum. Ist schon okay, bin ja nur ich.
 

„Samstagabend hat meine Oma mir erzählt, dass ihr am Nachmittag jemand über das Telefon seine unsterbliche Liebe gestanden hat. Und natürlich haben wir, also meine Eltern und ich, erst gedacht, dass das ein komischer Streich war, aber als meine Oma uns gesagt hat, dass dieser jemand behauptet hat in einem Telefonladen zu arbeiten ist mir ein Licht aufgegangen.“
 

Oh Boden, tu dich auf und verschluck mich.

Ich muss ziemlich bescheiden aus der Wäsche schauen, denn Janosch lacht leise auf, bevor er dann sichtlich erheitert fortfährt: „Naja, und ich habe dann versprochen, dass ich das regle, schließlich vermute ich stark, dass deine lange Rede nicht für meine Oma bestimmt war.“
 

Haarscharf kombiniert Sherlock. Langsam werde ich schon etwas wütend. Ist er nur gekommen um sich über mich lustig zu machen? – Verdammt, ich hätte nie anrufen sollen.
 

„Vielleicht wolltest du ja mit mir reden?“, fragt er schelmisch weiter und ich komme mir verdammt verarscht vor. Gerade will ich zu einer bissigen Antwort ansetzen, da öffnet sich die Ladentür erneut.
 

„Alter, ich habe – Woah, wer bist denn du?“ Markus, mit einem Fuß noch draußen auf der Straße richtet seinen Blick fragend auf Janosch, der zwar immer noch mich und nicht Markus ansieht, dafür aber von seinen Worten verräterisch rot wird.
 

„Markus, das ist Janosch“, ich sehe ihn bedeutungsvoll, mit nach oben gezogenen Brauen an, was so viel heißen soll wie: ‚Sag bloß nichts Falsches oder du hattest die längste Zeit einen Schwanz in der Hose.‘ – Welcher übrigens kleiner ist als meiner, nur fürs Protokoll; also wäre es ein nicht so großer Verlust -, bevor ich mich wieder Blondie zuwende, „Janosch, das ist Markus, mein bester Freund.“

Besagter ‚bester Freund‘ fängt wie ein Bescheuerter das Grinsen an und in seinem ‚Hallo‘, dass er an Janosch richtet schwingt so ein gewisser Unterton mit, der mein Blut zum Kochen bringt und weswegen ich ihm am liebsten an die Gurgel springen möchte.

Ich kann nicht verhindern, dass mir das Szenario etwas peinlich ist.

Janosch scheint das gewisslich zu ignorieren ebenso wie die Tatsache, dass ich seinen Namen kenne, sind seine nächsten Worte doch wieder an mich gerichtet:

„Wir können uns ja mal treffen oder so. Ich gebe dir diesmal auch meine richtige Nummer.“
 

Er beißt sich auf die Lippe um ein Lachen zu unterdrücken, was mich zu einem gekränkten Schnauben verleitet. Wie als hätte ich schon wieder vergessen, dass ich mich vor seiner Oma – ach, was sag ich, eher vor seiner ganzen Familie – zum Volldeppen gemacht habe…
 

Kurzerhand greift er sich meinen Arm und einen der Kugelschreiber aus dem Stiftebecher und notiert, mit einem beinahe schmerzhaften Druck, eine Handynummer auf meinem Unterarm. Jedoch denke ich nicht im Traum daran mich zu beschweren, eher bin ich leicht verwirrt von seiner Offensive, schließlich liegen hier auch jede Menge Notizzettel herum. Irritiert starre ich ihn an und als er dies bemerkt senkt er verschämt seinen Blick.

„Du hast schöne Arme.“, sagt er dann.
 

Was?
 

„Was?“
 

Janosch grinst nur mit leicht rosa gefärbten Wangen.

„Ich finde dich auch ziemlich attraktiv.“
 


 

Now, my question is

Who they gonna blame

When I’m back number one on that billboard again?
 

Ende
 

Anmerkung:

Lyricausschnitte am

Anfang: Kid Cudi - Day 'N' Nite

Ende: 50Cent - Get Up



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Zuecho
2010-08-21T19:48:16+00:00 21.08.2010 21:48
._.

Wir lieben diiiiich! :D Und sind deine neuesten größten Fans!

Und jetzt mal weniger Ernst:
Herzlichen Glückwunsch zum ersten Platz unseres Wettbewerbs. :)
Den du dir wahrhaftig verdient hast.
Wir haben schon lange nichts mehr in so einem grandiosen Format gelesen. q_q

Mit dem Auswerten haben wir uns ja wirklich schwer getan, einzig und allein deine Geschichte war sofort nach dem jeweiligen Lesen auf Platz 1 hochgeschossen und thronte dort, unumkehrbar und mit Eistee eingedeckt, von Anfang an.

Ganz genau sagen, wieso sie uns so gut gefällt, können wir nicht, wir wissen nur, dass es verdammt nochmal so ist! .3.

Versuchen wir doch mal aufzudröseln warum genau wir uns so in diese Geschichte verguckt haben. Und deinen phänomenalen Schreibstil. Und die Charaktere. Und die Steckbriefe. Und die Steckbriefbilder. Und und und...:

Fangen wir von vorne an, ist ja auch logisch, wa?

>> „Mein Leben“, beginne ich langsam, „ist die Verlagswerbungsseite am Ende eines schlechten Teenager-Liebesromans.“
„Dein Leben“, stimmt mir Markus leichtfertig zu, „ist gefickt.“
„Das wollte ich damit ausdrücken.“
„Oh.“
<<
Die Einleitung empfinden wir nahezu als genial bis hinzu geil.

>> Markus lacht leise, boxt mir einmal gegen die Schulter und verabschiedet sich mit einem ‚bis gleich‘ von mir, bevor er sich einmal verwirrt um die eigene Achse dreht und dann, als er die auf die Straße führende Glastür wieder entdeckt und fest fixiert hat, direkt darauf zusteuert. Auf dem Weg zur Tür, stößt er mit Bert, dem festangestellten Mitarbeiter zusammen, der gerade aus dem kleinen Lager kommt und an einem Kundenhandy herum fummelt. Während er sich tausendmal entschuldigt, streift Markus sich über die Haare, wobei er vergisst, dass er heute einen Hut trägt, und diesen dabei zu Boden fetzt. Beim Aufheben schlägt er Bert, der sich ebenfalls nach dem Hut gebückt hat, mit dem Hinterkopf an die Nase und entschuldigt sich daraufhin ein weiteres Mal. Als Markus dann endlich den Ausgang –mitsamt Hut - erreicht hat, dreht er sich noch einmal zu mir um und verabschiedet sich erneut. <<
Markus ist genau die Art von Idiot die wir lieben. *-* Allein das reicht schon für eine Menge Sympathiepunkte.

>> Das nächste, was ich aktiv mitbekomme, ist mein Gesicht auf dem fussligen Fußboden, mein schmerzender Knöchel und drei Seniorenhandys wahrlich meisterhaft um mich herum drapiert. Verdammter Drecksmist! Was stellt der Penner auch sein Stück Baum genau hier hin? Warum hat er es nicht – keine Ahnung… auf die Zimmerpflanze gelegt? Ich konnte sein Rollbrettchen ja gar nicht sehen, warum sollte ich auch, wenn ich so ein heißes Stück Fleisch vor meinen Augen habe? Natürlich ist es nebensächlich, dass er das Teil genau dahin gestellt hat, wo er es immer ablegt. Ich meine hey – Scheiße, war das peinlich. <<
Hoher Peinlichkeitsfaktor in der Geschichte = extreme Belustigung seitens der Jury.

>> Aber darüber denke ich wohl nur ungefähr eine zehntel Sekunde nach, denn das, was mich im Moment mehr interessiert ist sein kleiner, fester Hintern in der engen schwarzen Hose. <<
>> Gott, ich will ihn anfassen. Warum ist es bei uns auch nicht Gebrauch, jemanden zur Begrüßung auf den Arsch zu hauen? Ich meine, gut, dann fände man wohl etwas anderes als die Kehrseite ansprechend. Hände zum Beispiel – wobei ich, um ehrlich zu sein, was ich ja bin, seine schmalen, zarten Fingerchen schon recht ansprechend finde. Am ansprechendsten wohl auf meinem Bauch, zielstrebig unterwegs in Richtung Süd- <<
Sex sells = lüsterne Begeisterung der Juroren.

Und die wichtigsten Kategorien des Wettbewerbs zu 100% erfüllt:
Humor
kein Kitsch
no Drama Baby
ein bisschen romantisch

Ja, das sollte es doch wenigstens so halbwegs erklären. :)
Ich, wünsche mir übrigens eine Fortsetzung und die Jury zusammen wünscht sich noch viele tausend weitere so geniale Geschichten von dir! :)

Achja übrigens: Göttlicher Schreibstil.

LG

dunkelbunt und Zuecho
Von:  helenar
2010-07-21T12:15:15+00:00 21.07.2010 14:15
Ich kann mich meinen Vorrednerinnen nur anschließen: wirklich gut geschrieben, humorvoll und kurzweilig.
Weiter so!
Danke für diese Geschichte,
Helena
Von:  Ur
2010-06-30T12:53:07+00:00 30.06.2010 14:53
Dein Schreibstil ist wirklich erfrischend witzig und einfallsreich. Dions Sarkasmus gefällt mir sehr gut und über Markus habe ich ständig lachen müssen. Die Sache mit der Oma war natürlich unbezahlbar :D Zwar mag ich offene Enden unter Umständen sehr gern, aber ich hätte trotzdem nichts gegen eine Fortsetzung von den beiden einzuwenden.

Vielen Dank für das Lesevergnügen!
Liebe Grüße,
Ur
Von:  Shilou
2010-06-20T20:14:24+00:00 20.06.2010 22:14
AAAHhhhhh wie kannst du nur jetzt einfach aufhören!! O___o
Ich will mehr von den Beiden lesen ^^
Jetzt haben sie sich doch erster kennen gelernt!! Q.Q
Die Story hat mich echt in seinen Bann gezogen.
Ich hab in meiner Pause, bei der Arbeit, in der Straßenbahn und sogar beim Nudel kochen gelesen!! XD
Ich konnt's einfach nicht aus der Hand legen bis ich fertig war.^^
>Und NEIN ich lese nicht langsam ;D, nur ist meine Pause, Bahn fahren und Nudel kochen nicht sehr lange bzw zeitaufwendig.<
Ich würd eine Fortsetzung richtig geil finden.
Daher, wenn du eine schreibst, sofort Bescheid sagen!! :D
LG Shilou
Von:  Carnidia
2010-06-16T05:46:26+00:00 16.06.2010 07:46
Nett und lustig, ich hoffe das bleibt nicht die einzige FF. ;)
Abgesehen von einigen witzigen Formulierungen fand ich die Idee mit der Oma wirklich großartig. *g*
Danke und viele Grüße,
Carnidia


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