In den Ruinen
»Sicher, dass du nicht doch lieber reiten willst?«
»Ja.«
»Hast du Hunger?«
»Nein.«
»Durst?«
»Nein.«
»Bist du müde, brauchst du eine Pause?«
»Nein.«
»Geht es dir gut?«
»Ja.«
»Aber du…«
»Sly?« Cinder blieb stehen und blitzte ihn mit einem sanften Lächeln an.
»Ja?«
»Mir geht es gut. Wenn etwas ist, dann sag ich das schon, keine Sorge«, erklärte sie mit einem sachten Seufzen. Für einen Moment schaute Sly sie nur an, dann lachte er und zog sie eng an sich heran. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, während er sie fest an sich drückte.
»Hey ihr zwei, beeilt euch!«, rief Ice mit einem Lächeln zu ihnen zurück.
»Lauf lieber weiter!«, antwortete Sly und küsste Cinders Haar.
Lugh Akhtar, der neben ihm über einen umgefallenen Baumstamm kletterte, gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Bellen und einem Jaulen angesiedelt war. Das erschreckte das Pferd, welches kurz scheute, sich aber schnell wieder beruhigte. Der junge Zauberer, Nea und Soul hatten beschlossen, dass es einfacher war, auf vier Beinen zu laufen, statt auf zwei.
Cinder allerdings hatte Schwierigkeiten, sich zu verwandeln und eigentlich wollte es auch keiner so wirklich darauf anlegen, denn niemand wusste, was es für Auswirkungen auf ihr Ungeborenes haben würde. Deswegen hatte auch Sly beschlossen, als Mensch an ihrer Seite zu laufen.
Ice lief abwechselnd als Mensch und als Wolf mit der Gruppe mit, her nachdem, wie er gerade Lust hatte.
»Ey, du weißt genau, dass ich nicht Nea bin«, rief Sly Lugh Akhtar hinterher, doch der blieb stehen, grinste frech und schloss dann zu Ice auf.
Da brachen von der Seite her Soul und Nea aus dem Unterholz auf den schmalen Weg zurück. Sie schüttelten sich die Zweige aus dem Fell und verständigten sich dann lautstark mit Lugh Akhtar, bevor sie mit einem freudigen Schweifwedeln zu dritt davon stürzten.
»Wo wollen sie hin?«, fragte Sly verwirrt.
»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht haben die Mädchen ja den Tempel gefunden«, überlegte Ice laut und schaute sich um. »Er müsste zumindest nicht mehr weit weg sein.«
»Dann lass uns schneller gehen«, fand der Rotschopf, stockte dann aber und schaute nachdenklich auf Cinder. Er wollte eben den Mund öffnen und etwas sagen, da schüttelte sie seufzend den Kopf.
»Zwei gesunde Beine hab ich noch, mein Bester«, lächelte sie und holte so weit aus, dass Sly Schwierigkeiten hatte, ihr zu folgen.
Doch was auch immer die drei Wölfe vorweg gelockt hatte, der Tempel war es nicht, denn als Ice, Sly und Cinder bei dem ankamen, da war von Lugh Akhtar, Soul und Nea noch nicht ein Fellbüschel zu sehen.
Sie stürzten erst einige Sekunden später hinzu und blieben wie angewurzelt stehen. Lugh Akhtar bellte irgendetwas, woraufhin sie sogleich wieder losstürzten und mit kindlicher Begeisterung die Ruinen erkundeten.
»Das sind sie also?«, fragte Cinder leise.
»Jap. Hier könnte der Sommer leben, aber… sicher bin ich mir nicht…« Ice wirkte unsicher angesichts der wahren Ruine, vor der sie nun standen.
»Wo fangen wir mit der Suche an?«, fragte Cinder und kletterte auf ein paar Felsen, die hier überall herumlagen, während Sly das Pferd anband.
»Im Innern könnten wir vielleicht fündig werden, aber es wird baufällig sein«, überlegte er, während er Ice dabei beobachtete, wie der geschickt einen Steinhaufen empor kletterte.
»Es ist definitiv baufällig, Lugh Akhtar wurde eben fast von einem Stein erschlagen, der aus der Decke gefallen ist.« Mit einem Mal stand Nea neben ihm, in ihrer Menschengestalt. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie zurückgekommen war.
»Und das heißt, dass wir nicht hinein können«, nickte Ice.
»Klar können wir, und wir sollten auch«, fand Sly und kletterte zu Cinder. »Aber nicht alle. Du zum Beispiel wirst definitiv hier bleiben, mein Herz.«
»Ach, und wer will mich am Mitkommen hindern?«, spottete sie und machte einen leichtfüßigen Satz auf den Boden der anderen Seite des Schutthaufens. Sogleich brach der Boden unter ihren Füßen weg und sie stürzte mit einem spitzen Schrei in das, was darunter lag.
»Cinder!«, brüllte Sly und sprang hinterher, bevor Ice bei ihm war und ihn davon abhalten konnte. Stattdessen stürzten er und Nea zum Rand und versuchten durch die Staubwolke hindurch etwas zu sehen.
»Sly! Cinder! Geht es euch gut?«, rief Ice hinab, hoffte dabei inständig, dass der Boden auf dem er hockte, halten würde. Da stürzten auch Lugh Akhtar und Soul heran. Letztere erkannte das Loch im Boden zu spät und musste so mit einem riesigen Satz darüber hinwegsetzen, aber sie schaffte es.
»Was ist passiert, das war eben aber noch nicht da«, bemerkte Lugh Akhtar, der mittlerweile so schnell die Gestalten wechselte, wie es Ice niemals für möglich gehalten hätte. So stand der junge Zauberer nun schon wieder als Mensch hier und versuchte, den Staub mit seinem Blick zu durchdringen.
»Sly und Cinder sind da eingebrochen«, erklärte Ice bissig und schaute sich suchend um.
»Da runter?!« Lugh Akhtar wurde blass und starrte ihn an.
»Nein, sie sind durch den Spalt zwischen zwei Steinen gerutscht… natürlich da runter!«, fauchte Ice.
»Und ihr solltet auch runter kommen, wir haben etwas interessantes entdeckt!«, rief Sly zu ihnen hinauf.
»Geht es euch gut?«, wollte Ice wissen, während sich Lugh Akhtar in den Gerfalken verwandelte und hinab flatterte.
»Wie kann er sich nur so schnell verwandeln«, fluchte indes Soul von der anderen Seite des Loches her. Sie war gerade den Rest ihres Fells losgeworden, während ihr Bruder schon wieder binnen Sekunden in die nächste Gestalt gewechselt war.
»Bessere Frage: Wie kommen wir dort runter?«, wollte stattdessen Nea wissen. Sie wirkte ausgesprochen besorgt.
»Springen«, antwortete Soul lächelnd, ergriff ihre Hand und machte einfach einen Satz ins Nichts. Nea folgte gezwungenermaßen, aber mit einem lauten Schrei.
»SOUL! Verdammt!«, fluchte Ice lautstark, folgte dann aber ebenfalls mit einem Sprung ins Ungewisse.
Er fiel tiefer als er gedacht hatte und er sah noch nicht mal, wo er landen würde, denn der Staub war noch immer zu dicht. Der Aufprall kam plötzlich und schmerzhaft. Er biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Mit Tränen in den Augen stolperte er ein paar Schritte, entfloh heftig hustend dem Staub und sah nun seine Freunde wieder. Sie saßen um eine Katzenstatue herum und betrachteten sie interessiert. Nur Sly nicht, er sprach leise mit Cinder und rieb an ihrem Knöchel herum.
»Ice, was ist das?«, fragte Soul mit großen Augen.
»Das ist Bastet«, antwortete er, nach nur einem kurzen Blick.
»Und was genau ist Bastet?«, erkundigte sich Lugh Akhtar neugierig.
»Eine Göttin. Die alten Völker haben sie verehrt, aber das tut heute schon lange keiner mehr. Die Menschheit glaubt nicht mehr an Götter.« Ice zuckte gleichgültig die Schultern.
»Das ist auch gut so, denn Götter gibt es nicht«, nickte Lugh Akhtar.
»Und was ist der Winter? Und die anderen ihrer Art?«, merkte Sly an.
»Sie sind keine Götter. Sie sind auch nicht viel anders als wir. Das, was sie tun, ist in etwa das, was wir Zauberer für die normalen Menschen tun. Wir helfen ihnen zwar, aber für die meisten ist das nicht vorrangig. Sie tun einfach das, was nötig ist, um zu leben, sie tun das, was sie tun müssen, um ihre Existenz zu sichern. Und bei den Jahreszeiten ist es auch nicht viel anders. Eigentlich verrichten auch sie nur ihre Arbeit«, antwortete der junge Zauberer und schaute zu seinem Freund hinüber.
»Weise gesprochen, junger Zauberer.«
Als sie sich erschrocken umwandten, stand dort eine Wölfin mit durchdringenden gelben Augen. Sie lächelte und sie schien von innen heraus zu leuchten, und dennoch gab sie eine fast schon erbärmliche Gestalt ab.
Es schien, als hätte sie vor nicht allzu langer Zeit einen schweren Brand hinter sich gehabt. Ihr eigentlich gelblich weißes Fell war an vielen Stellen schwarz angesenkt, oft war es aber auch völlig verbrannt, sodass man die nässenden Brandwunden darunter sehen konnte.
Am schlimmsten jedoch waren ihre Pfoten, denn dort blitzte ab und an der blanke Knochen durch das rohe Fleisch. Doch sie schien keine Schmerzen zu haben, sonst hätte sie nicht gelächelt. Dennoch, Lugh Akhtar hörte deutlich, wie sich Cinder hinter ihm übergab. Für ihren Magen schien der Anblick zu viel gewesen zu sein. Auch die anderen mussten erst einmal schlucken.
»Hallo. Wer… bist du?«, fragte der junge Zauberer langsam und vorsichtig.
»Jemand, vor dem ihr keine Angst zu haben braucht«, erklärte sie mit sanfter Stimme und einem Lächeln.
»Gehörst du auch zum Winter?«, erkundigte sich Nea leise.
»Nein, im Gegenteil«, lächelte die Wölfin und wandte sich um. »Folgt mir, ich bringe euch zu dem, den ihr sucht.«
»Woher willst du wissen, wen wir suchen?«, fragte Soul misstrauisch.
»Ihr möchtet zum Sommer, warum solltet ihr sonst hierher kommen?«, lächelte die Wölfin, als sie über die Schulter zurückblickte.
»Kennst du etwa den Weg in sein Reich?« Lugh Akhtar war mit zwei schnellen Schritten bei der Wölfin.
»Natürlich. Kommt mit und ich bringe euch zu ihm.« Sie schaute ihn so seltsam aus ihren gelben Augen an, dass er für einen Moment zögerte. Er schaute Hilfe suchend zu seinen Freunden zurück, doch auch in ihren Augen sah er nur Unentschlossenheit, so nickte er schließlich.
»Wir kommen nicht mit«, mischte sich Sly ein.
»Warum?«, fragte Ice erstaunt. Er wusste, dass Sly nur allzu gerne den Winter getroffen hätte, warum er nun darauf verzichtete, den Sommer zu sehen, verstand er nicht.
»Weil Cinder sich den Knöchel verstaucht hat, bei ihrem Sturz. Ich kann sie hier aber nicht alleine lassen«, erklärte er und drückte die junge Frau eng an sich.
»Meinst du, dass ihr alleine zurechtkommt, Hope? Sonst bleib ich auch hier«, bot Nea an.
»Nein, geh nur«, antwortete er, doch die Wölfin schüttelte entschieden den Kopf.
»Ich soll euch alle zu ihm bringen, auch ihr müsst mitkommen«, erklärte sie entschieden.
»Aber Cinder kann so nicht laufen«, fauchte Sly und stand auf.
»Sie muss mit.« Die Wölfin ging mit einem Knurren weiter. Da stellte er sich schützend vor sie und blitzte die Wölfin böse an, in seiner Hand erschien eine Flamme.
»Ich weiß nicht, was dir so den Pelz versenkt hat, aber ich kann gerne weitermachen«, erklärte er, leise, aber eindeutig ernst und gefährlich.
»Willst du dich wirklich mit mir anlegen?«, fragte die Wölfin ebenso leise.
»Ich würde mich mit der ganzen Welt anlegen, wenn es sein müsste, auch wenn ich keine Chance hätte und es somit mein Tod wäre. Das Schicksal hat mich einmal schon ausgelacht, ein zweites Mal werde ich es nicht zulassen.« In Slys Augen blitzte solche Entschlossenheit, dass die Wölfin für einen Moment zögerte, dann tat sie noch einen Schritt.
Ein Fehler. Wenn Sly mit einer Art der Magie umgehen konnte, dann war es Feuermagie, und er ließ alles was er konnte auf sie einstürzen. Ein wahrer Feuersturm hüllte sie ein und wenn Lugh Akhtar und Ice nicht so gedankenschnell reagiert hätten, wären sie beide, Soul und Nea wohl binnen Sekunden zu einem Haufen Asche verbrannt.
Niemand von ihnen hätte solche Macht hinter Sly vermutet, der immer als sehr schwacher, fast schon unfähiger Zauberer galt. Doch vielleicht einfach nur deswegen, weil er niemals auf seinem Spezialgebiet wirklich agieren konnte, denn wer brauchte schon jemals einen Feuersturm? Den Schülernamen »Feuerfuchs« trug er nun wirklich nicht zu unrecht.
Wäre die Wölfin ein gewöhnliches Tier gewesen, so wäre von ihr nun nur ein verkohltes Häuflein zurückgeblieben. Allerdings war sie es nicht, denn stattdessen stand sie immer noch da und wirkte verblüfft. Nicht verwirrt, nicht verunsichert oder gar ängstlich, sondern nur verblüfft. Als könnte sie es nicht glauben, dass er sie wirklich angegriffen hatte.
»Lass Cinder in Ruhe. Ich habe noch andere Waffen, als nur meine Magie und ein Messer im Hals dürfte auch für dich ungemütlich sein. Ich weiß, dass auch die Diener der Jahreszeiten nicht unsterblich sind, und ich werde nicht zögern, dir das auch zu beweisen«, stellte er ruhig klar.
»Ich will ihr nichts tun. Vertrau mir, das könnte ich nicht. Ich will ihr helfen«, antwortete sie ebenso sachlich, aber dabei lächelte sie wieder. Sly schaute sie für eine ganze Weile einfach nur an. Lugh Akhtar verstand, dass dort ein stummes Zwiegespräch zwischen ihnen tobte, und er würde den Teufel tun, sich da einzumischen. Das musste er aber auch nicht, denn schließlich nickte Sly und trat beiseite.
»Ich habe dich genau im Blick. Ein falscher Gedanke und mein Messer steckt zwischen deinen Rippen«, erklärte er fast schon gelangweilt.
»Damit kann ich leben«, antwortete sie und trat langsam zu Cinder. Die beiden wechselten nur einen kurzen Blick, da lächelte die junge Frau auch schon und ließ es gerne zu, dass die Wölfin auf ihren Knöchel blies. Als die wieder zurücktrat, versuchte Cinder mit Slys Hilfe aufzustehen und es gelang ihr ohne Schmerzen.
»Kommt jetzt mit mir«, bat die Wölfin und lief wieder ein Stück in die Ruinen hinein. Einen Moment zögerten sie noch, dann jedoch folgten sie alle. Keiner wusste wirklich, ob die Wölfin nicht vielleicht doch böses im Schilde führte, vielleicht liefen sie alle ihrem Unglück, vielleicht sogar dem Tod entgegen. Aber etwas sagte ihnen, dass dem nicht so war.
Und war es bloß ein kleiner, kurzer Blick, der Lugh Akhtar hatte zögern lassen.