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Pause vom Schicksal

von

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Es ist bereits dunkel, als ich endlich wieder nach Hause komme.

Als ich endlich wieder ich bin, starre ich durch das Fenster in der Dachschräge in meinem Zimmer. Tue ich, weil mein bester Freund in meinem Körper noch vor einigen Augenblicken dasselbe tat; dass er sich zurückzog, merkte ich nur daran, dass es in diesem Raum so unglaublich hell ist. In dem Inneren meiner Seele, dort, wo ich den Tag über war, um dem anderen Ich all die Freiheit zu geben, die man in einem gemeinsamen Körper haben kann, ist es pechschwarz. Nicht angsteinflößend schwarz, sondern einfach nur schwarz. In mir selbst kann ich mich nicht vor mir selbst fürchten.

Verglichen mit jener Schwärze ist dieser Raum auch ohne Licht wirklich hell, der Unterschied von dunkel zu hell ist zu deutlich, als dass ich ihn übergehen könnte.

Am Himmel sind keine Sterne, nur eine Schicht aus Wolken, dunkel nur durch das fehlende Licht, wirkt dadurch trotzdem nicht minder bedrückend.

Ich weiß nicht, was das andere Ich heute erlebt hat, was es gesagt oder getan hat … beinahe so wie vor Death-T, als ich noch ohnmächtig wurde, wenn mein engster Freund meinen (wahlweise auch unseren) Körper übernahm und die Sachen auf seine Weise regelte, nur dass es dieses Mal auf völlig freiwilliger Basis geschah. Doch ebenso wie damals verbleibe ich ahnungslos über den Tagesablauf. Was wohl geschehen war …?

Ich starre weiter auf den dunklen Nachthimmel und mit jeder verstreichenden Minute wird der Raum finsterer. Ich erkenne alles genauso gut wie vorher, doch er wirkt nicht mehr so hell. Es ist angenehmer. Aber unwissend bleibe ich trotzdem, zumindest was den Tag betrifft.

Es gibt da etwas, was ich nur zu deutlich spüren kann. Mein anderes Ich hat sich nicht vollständig zurückgezogen, sondern ist immer noch in der Nähe meines bewussten Denkens. Ich sehe den Unterschied. Heute Morgen war mein anderes Ich unruhig, hatte sich in seine Gedanken verkrochen – wohl wissend, dass ich alles hören konnte, sich aber nicht weiter daran störend – und kaum ein Wort gesprochen. Jetzt ist es anders. Er wirkt … offener, nicht mehr so düster wie vorher. Was auch immer heute geschah, es hat eine Menge geändert. Zu gerne wüsste ich, was genau passiert ist, dass die Änderung hervorgerufen hatte, aber ich würde nicht nachfragen. Für ihn würde ich die Neugierde unterbrechen.

Wenn es etwas gäbe, dass ich wissen muss, dann würde ich es schon erfahren.

Ich hatte nicht mit einer Reaktion auf diesen Gedanken gerechnet, obwohl ich weiß, dass er alles gehört hat. Umso überraschender ist es zu spüren, wie mein anderes Ich sich in seiner durchsichtigen Form auf meinem Bett materialisiert; durch das gedankliche Band sehe ich mich selbst nach draußen blicken, gedankenverloren, und es erstaunt mich, wie ähnlich ich ihm sehe. Der Anblick an sich ist nicht ungewöhnlich, ich hatte schon so viel mehr ungewöhnliches gesehen. Das, was wirklich neu ist, ist die Ähnlichkeit zwischen ihm und mir, obwohl ich sonst immer jeden ach so kleinen Unterschied ausmachen kann, und für einen Augenblick fühlt es sich so an, als würde ich ihn durch meine eigenen Augen anschauen. Dann drehe ich mich zu ihm, der Anblick ändert sich und ich bin wieder ich.

„Es gibt etwas, dass du wissen musst.“

Mein anderes Ich denkt diese Worte, sein Blick unbeirrt, aber nicht hart. Was es wohl sein mag?

Geduldig höre ich dem vertrauten Klang seiner Worte und Gedanken zu, ihrem besonderen Ton, den ich noch nie wirklich einordnen konnte. Er erzählt von einem neuen Turnier von der Kaiba Corporation, an dem er teilzunehmen gedenkt. Der Lohn für jedes gewonnene Duell eine Rare-Card aus dem Deck des Gegners. Die Anti-Regel.

Während er spricht (oder denkt, für mich hat das schon seit einiger Zeit die Bedeutung verloren, da wir so oft miteinander ‚reden’), verbiete ich mir jeden Gedanken daran, dass er und die Anti-Regel nicht zusammen passen. Nie zusammen passen würden. Ich höre weiter zu und nicke.

Wenn mein anderes Ich an diesem Turnier teilnehmen will und ich spüre die Dringlichkeit hinter seinen Worten …

Er will – er muss, so wie er klingt, ist wollen eine deutliche Untertreibung – an dem Turnier teilnehmen, bei dem es nur Rare-Cards zu gewinnen gibt (egal, wie sehr ich mir verbiete daran zu denken, der Gedanke kommt doch immer wieder, zwingt sich seine Wiederholung geradezu auf) und ich würde ihn natürlich lassen, ihm mit all meinen Möglichkeiten helfen.

„Danke, Aibou.“

Und zum ersten Mal macht er sich die Mühe, laut zu sprechen, was seine Dankbarkeit noch unterstreichen soll; der intensive Blick spricht aber eine bei Weitem deutlichere Sprache als es Worte, unterlegt vom Klang seiner Stimme, jemals könnten.

„Nichts zu danken.“

Im Gegensatz zu ihm denke ich es nur – es reicht. Für ihn gerne. Er hat mir schon immer so oft geholfen, da könnte ich ihm diese ‚kleine’ Bitte nie abschlagen. Der wahre Grund dahinter wird sie mir noch zeigen und ich habe keinen Grund, irgendwelche Zweifel zu hegen.

Mein anderes Ich wirkt wieder so gedankenabwesend, so verloren in irgendwelchen Bildern und Erinnerungen, dass er meine Frage nach seiner eigentlichen Absicht gar nicht mitbekam.

Für einen Augenblick blicke ich ihn weiter an – der Anblick sagt mir genau, warum ich mich selbst vorhin als ihm so ähnlich aussehend empfand – und werde nicht schlau aus ihm, dann wird die Frage, was er heute gemacht hat wieder viel dringlicher. Oder eher, was er heute nicht gemacht hat.

Verdrießlich blicke ich wieder aus dem Fenster: „Habt ihr heute überhaupt irgendetwas gegessen?“

Ich verziehe das Gesicht, lege eine Hand auf meinen leeren Magen und mein anderes Ich lacht nur leise, ein bisschen entschuldigend.

Er vergisst liebend gerne Mal, dass er Hunger hat und essen muss; für gewöhnlich fallen diese alltäglichen Aufgaben ja auch eher in meinem Bereich. Obwohl wir bereits oft genug sprachen, während ich aß, und er all das ebenso schmeckte wie ich, überhaupt durch meine gesamten Erinnerungen jeden Geschmack bereits kennt, übernimmt er selten selbst das Essen. Deswegen übersieht, verdrängt oder vergisst er wirklich die regelmäßige Nahrungsaufnahme.

„Tut mir leid, Aibou.“

Und ich sehe ein Bild, eine Erinnerung von einem Pappbecher in meiner Hand, wobei der optische Fokus mehr auf den Armbändern liegt, die ich zwar angelegt, aber den ganzen Tag über nicht gesehen hatte (ob er meine Angewohnheit wohl übernommen hat, sie mit einem kurzen Schütteln des Handgelenks wieder an die gewünschte Position zu bekommen?); neben dem Bild ist da noch der süßliche Geschmack und Geruch von Milchshake, die Kälte des Bechers an meiner Handfläche.

„Das war wohl das einzige für heute, oder?“

Ein ganzer Tag ohne Essen – wie hat Anzu das ausgehalten?

„Sie hat es nicht einmal erwähnt.“

„Und das hast du als Aufforderung verstanden, ebenfalls den Mund zu halten?“

Es ist mehr eine Aussage als eine Frage und ich schaue ihn Kopf schüttelnd an, natürlich nicht im Geringsten wütend oder irgendwie sauer auf ihn, eher belustigt, wie er so etwas gerne mal in den Hintergrund stellt und dort auch den ganzen Tag lässt, und er lacht nur weiter: „So ungefähr, ja.“

Immer noch den Kopf schüttelnd, begleitet jedoch von einem breiten Grinsen, gehe ich herunter in die Küche, um dem dringlichsten Problem Abhilfe zu verschaffen.

„Dabei hättest du dir doch in der Stadt etwas kaufen können. Ich hab doch extra genug Geld eingesteckt.“ – „Es ist dein Geld, Aibou.“

Mein anderes Ich blickt mich so dringlich an, dass ich automatisch vom Kühlschrank aufblicke, um ihn anzuschauen. „Geld, das du für das Wohlergehen unseres Körpers ausgegeben hättest. ‚Unser’ beinhaltet kein dein und mein.“

Seit ich das Puzzle gelöst habe, sind mindestens gefühlte Ewigkeiten verstrichen (auch wenn es in Wirklichkeit sehr viel weniger ist, natürlich), genug Zeit, sich so an den ständigen Wechsel zu gewöhnen, dass er wie selbstverständlich erscheint. Und mit ihm auch der verwischte Gebrauch von unnötigen Personalpronomen wie „ich“ oder „du“, „mein“ oder „dein“. Zumindest aus meiner Sicht. Natürlich entgeht mir nicht, wie viel Wert er eigentlich auf unsere und ganz besonders meine Individualität legt. Erstaunlich, wie anders wir in dieser Hinsicht denken.

„Trotzdem“, beharrt er. „Warum unnötig Geld ausgeben, wenn ich auch zu Hause essen kann?“

Das war wohl seine Devise für den Tag gewesen und ich kann nicht anders als zu schmunzeln.

„Wenn das so ist …“

Wie gesagt: Für gewöhnlich ist der Gebrauch von „ich“ und „du“ ohne Bedeutung, letzten Endes meint beides doch nur „wir“ und „wir“ steht für zwei Hälften eines Ganzen. Aber manchmal macht es Spaß, so zu tun, als läge mir an dem Individualitätsbegriff so viel Bedeutung wie ihm. Ich kann nicht anders als zu lachen, als sein (oder mein) Gesicht so völlig geschockt auf den Teller vor sich starrt, den er gerade noch aus nun meiner Sicht gesehen hat.

„Wenn du kein Geld für Essen ausgeben wolltest, um zu Hause zu essen … nun, du bist zu Hause. Guten Appetit.“ Ich lächele ihn als Antwort auf seine Verwirrung nur an. „Hau rein.“

Nur wenige Sekunden noch verharrt er in seiner Position, bevor er den Kopf schüttelt, ebenso grinsend wie ich, und mit dem Essen anfängt. Er greift nach den Stäbchen und mit den Stäbchen in der Hand macht er einmal diesen einen kleinen Schlenker mit dem Handgelenk, die Armbänder, die gerade noch seinen Handballen berührten, liegen nun weit unten wie möglich, damit sie ihm beim Essen nicht im Weg sind. Ein Gefühl der absoluten Zufriedenheit drängt sich von meinem Hinterkopf in mein Bewusstsein, macht mein Lächeln noch ein bisschen breiter, noch ein bisschen glücklicher.

„Wir werden ein neues Deck brauchen“, sagt mein anderes Ich, während er von dem Abendessen, dessen Reste Opa extra für uns im Kühlschrank aufbewahrte, einen neuen Bissen zwischen die Stäbchen nimmt. Er klingt so, als hätte er meine Gedanken nicht gehört, doch das Lächeln auf seinen Lippen ist eine exakte Kopie von meinem. „Auf uns warten neue starke Gegner. Wir müssen auf alles gefasst sein.“

So, wie er jetzt allerdings klingt, kommt mir der Gedanke wieder, dass es wirklich um mehr gehen muss als Rare-Cards. Er isst weiter.

„Wir haben die ganze Nacht Zeit, wenn das Turnier morgen beginnt“, stimme ich ihm zu und nicke. Das Königreich der Duellenten hat durch die weltweite Bekanntheit von Industrial Illusions sicherlich auch einige Zuschauer mehr gehabt als nur die Teilnehmer, zumindest, so wie ich Pegasus kenne, das Finale. Unsere Strategien sind bekannt, unsere Duelle würden nicht länger sein als ein paar Minuten dauern, wenn es so bliebe wie bisher. Ich fühle seine wortlose Zustimmung, kein Nicken, keine Worte oder überhaupt Gedanken, einfach nur ein Gefühl.

Mein anderes Ich isst weiter und ich schweige ebenfalls, beobachte ihn einfach dabei, wie er mit den Stäbchen Stück für Stück weiter den Teller leert, sein Griff dabei so sicher, als hielte er Karten in der Hand. Bis er fertig ist, wende ich den Blick nicht von ihm und obwohl er es weiß, stört er sich nicht daran, genießt nur sein Mahl. Seine einfache Freude über so etwas normales, dass dazu noch Opas bescheidener Kochkunst entspricht (obgleich auch die hin und wieder ihre Höhepunkte hat), ist ansteckend, seine gute Laune über unsere Verbindung auch die meine werdend und wieder mal macht sich das fehlende Ich bemerkbar.

„Dann lass uns mal anfangen“, meint mein anderes Ich, sein Gemüt so ruhig und ausgeglichen, wie ich es noch am Morgen für unmöglich hielt. Es bleibt noch ein Teil, der sich immer noch mit den ganzen Fragen quält, die sein Unterbewusstsein, seinen Seelenraum ausmachen, aber der scheint im Moment tief in ihm verborgen. Mit derselben ungeschickten Unvorsichtigkeit wie ich lässt er den Teller, nachdem er die Spüle nur mit einer Ecke berührt hat, los – irgendwann würden unsere Teller deswegen noch alle kaputt gehen und er hatte auch schon oft genug Ärger von Opa bekommen. Natürlich nicht zu vergleichen mit der Menge an Ärger, die ich deswegen schon kassiert hatte, doch es war wie zu seiner Art kleinem Spiel geworden zu sehen, ob Opa herausfinden konnte, ob er nun mit seinem Enkel oder dem anderen Ich schimpfte; er hatte schon längst herausgefunden, dass wir beide diesen Makel hatten, als ich ihm versprochen hatte, es nicht mehr zu tun und das andere Ich genau dieses Versprechen nach dem Essen am nächsten Tag brach. Er hatte erst aus vollem Herzen gelacht, fand es scheinbar höchst amüsant, bevor er wieder zum Schelten und Tadeln zurückkam und dem anderen Ich dieselbe Lektion erteilte wie mir tags zuvor.

Ich war in dieser kleinen Erinnerung so versunken, dass ich gar nicht merkte, dass er auf einmal wechselte und nicht minder verwirrt als er es vorhin war blicke ich auf einmal auf den Teller, den meine Hand gerade loslässt.

Jetzt lacht er über meinen Gesichtsausdruck und ich kann nicht anders als bei seinem Lachen mit einzustimmen. Zusammen gehen wir wieder hoch in mein Zimmer; auf uns wartet eine Nacht voller Arbeit und ich freue mich darauf. Was auch immer der Grund sein mag dafür, dass wir es überhaupt tun müssen, hier, heute Nacht, noch viel mehr jetzt nötig ist, frage ich nicht mehr.



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