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Pulse

»What happens in Vegas, should stay in Vegas«
von

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to freak out

Für meine herzallerliebste Katja <3

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TO FREAK OUT
 

Geistesabwesend saß ich in der Cafeteria und stocherte in dem abartigen Fraß herum, den es hier gab. Das sah aus, als hätte man Fleisch, Kartoffeln und Spinat püriert und zu einer Pampe gemischt, die jetzt in dem Teller waberte und nach etwas völlig Undefinierbarem roch. Ein winziger Teil meines Hirns fragte sich träge, warum ich mir diese Grütze überhaupt geholt hatte. Ich rammte meinen Löffel in den schlabberigen Brei und hob ihn an. Als ich ihn wieder umdrehte fiel die kleine Portion mit einem widerwärtigen Platschen zurück in den Teller. Angewidert zog ich die Nase kraus.
 

»Willst du das noch essen?«, fragte Brad mich und sah mich mit einem hungrigen Ausdruck in den Augen an. Er saß mir gegenüber, sein Teller war bereits leer, aber er wirkte nicht, als wäre er satt — und offenbar schmeckte dieses gülleähnliche Zeug ihm. Ich ließ meinen Löffel gegen den Tellerrand fallen und schob ihm das Geschirr herüber. Brad graptsche gierig nach dem Teller und begann ihn mit großen Löffelportionen zu leeren.
 

»Hey«, tönte es fröhlich neben mir und Alicia schob ihren Hintern auf den freien Stuhl, der neben meinem stand. Sie lächelte mich munter an, beugte sich vor und drückte mir einen kurzen Kuss auf den Mund. »Was gibt’s heute denn zu essen?«
 

Skeptisch beäugte sie den Teller, den ich soeben Brad gegeben hatte.
 

»Kotze mit McDonalds-Aroma«, erklärte ich schulterzuckend. Alicia grinste, halb amüsiert, halb angeekelt.
 

Als es plötzlich still an unserem Tisch wurde, wandte ich den Kopf. Sean Dorian ging gerade vorbei. Er war der Captain des Footballteams, das seit etwa einer Woche aber nur noch, weil der Coach ein sehr toleranter Mensch war. Sean Dorian ist schwul. Er hatte sich nicht freiwillig geoutet, aber er war mit irgendeinem anderen Kerl erwischt worden und das hatte seine Runde gemacht. Jetzt wurde er von allen gemieden, und ich wusste, dass seine Teamkollegen ihn am liebsten nicht mehr als Captain gehabt hätten. Dabei war Dorian bis zu diesem Vorfall ein Star gewesen. Beliebt, gutaussehend, engagiert. Eigentlich alles, was dem Klischee eines Football-Captains nicht entsprach. Aber nun war er mehr ein Schatten und unfreiwillig dazu verurteilt, sich den Spott der anderen anhören zu müssen. Ich fand es mutig, dass er sich nicht einfach unterbuttern ließ und nicht das tat, was alle sich herzlich herbeisehnten. Im Stillen zog ich meinen Hut vor ihm.
 

Chris stieß Joel an. »Hey, wie täuschen Schwuchteln einen Orgasmus vor?«, fragte er halblaut, aber mit triefender Gehässigkeit in der Stimme. Ich war mir sicher, dass Dorian es hörte und hätte beinahe meine Augen geschlossen, weil die Fremdscham jetzt schon in mir hochschoss.
 

»Sie spucken sich auf den Rücken!«, löste Chris das Rätsel. Unser gesamter Tisch brach in tosendes Gelächter aus. Die Leute an den Tischen unmittelbar um uns herum, die das Witzchen mit angehört hatten, lachten ebenfalls lautstark. Ich fuhr mir mit einer Hand über die Augen. Mich brachten diese abfälligen, geringschätzigen Witze nicht mehr zum Lachen. Ich war es leid, mir so gut wie jeden Tag diese demütigenden Schwulen-Witze anzuhören. Früher hatte ich darüber gelacht, so getan, als fände ich es zum Brüllen komisch. Mittlerweile reagierte ich nicht mehr. Anfangs hatten meine ›Freunde‹ das noch komisch gefunden, aber ihre Skepsis hatte sich gelegt, nachdem ich beständig gesagt hatte, dass die Witze inzwischen so breit getreten und alt waren, dass sie einfach keinen Lachnerv trafen. Sie hatten sich damit abgefunden. Zum Glück.
 

Was niemand wusste: Ich bin auch schwul. Vermutlich so schwul, wie man nur sein kann. Es hatte ewig gedauert, bis ich mich endlich mit dem Gedanken angefunden und es mir eingestanden hatte. Ich wollte nicht schwul sein, damals, als es angefangen hatte. Das war uncool. Wer wollte denn gern eine Schwuchtel sein? Ein Po-Pieker? Ein Schwanzlutscher? Meine Kumpels und ich hatten uns ständig darüber lustig gemacht, über diese erbärmlichen Kerle, die Muschis und Titten nicht zu würdigen wussten.
 

Als ich irgendwann bemerkt hatte, dass eine flache Brust und Eier mich mehr anmachten als C-Cups und Vaginen, hätte ich mich im ersten Moment am liebsten übergeben. Es war wie ein Weltuntergang für mich gewesen. Ich konnte doch unmöglich zu diesen ekligen, schwanzlutschenden Fiedeln gehören, über die ich so gern herzog! Muschis und Möpse, das war es, was zählte. Aber die interessierten mich nicht. Ich hatte mir haufenweise Pornos und Magazine besorgt, aber je länger ich die entblößten Frauenoberkörper oder die Mitte der gespreizten Beine anstarrte, desto mehr stießen sie mich ab.
 

Das war vor drei Jahren gewesen. Nachdem ich meinen ersten Sex mit einem anderen Kerl gehabt hatte, war ich in einer Art Rausch gewesen. Irgendwann hatte ich aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Warum sollte ich auf etwas verzichten, das ich so unglaublich scharf fand? Es war, als hätte sich ein Schalter in meinem Kopf umgelegt. Es war gar nicht so schrecklich, schwul zu sein. Ich war immerhin kein anderer Mensch, nicht weniger wert, nicht abartig. Was war so schlimm daran, auf andere Männer zu stehen? Ich war so blöd gewesen.
 

Allerdings behielt ich dieses pikante Detail für mich. Meine Kumpels würden mir das Leben zur Hölle machen. Ich wusste es. Ich musste mir nur ansehen, wie sie Dorian ständig runterputzten. Und ich hatte einfach keine Lust darauf, mich Tag täglich damit herumzuschlagen. Manche würden es wohl feige nennen, ich nannte es Selbstschutz. Im Sommer würde ich meinen Abschluss machen, dann würde das College anfangen — und dann konnte ich mich outen. Wenn ich irgendwo war, wo mich niemand kannte und niemand mir voreingenommen gegenüber treten würde. Bis dahin würde ich mein Hetero-Image hüten und Alicia, meine Freundin, würde mir dabei helfen.
 

Es tat mir leid, dass ich Alicia ausnutzte. Ich mochte sie wirklich. Sie war ein nettes Mädchen, hatte was in der Birne, was man von mindestens achtzig Prozent ihrer Geschlechtsgenossinnen in unserem Jahrgang nicht behaupten konnte. Alicia war zwar ein Modepüppchen und zugegebenermaßen ziemlich verwöhnt, aber ihr Denken war nicht komplett umnachtet von Schminke und Klamotten. Sie interessierte sich für Mode, war immer perfekt angezogen und geschminkt und hergerichtet, aber sie rannte nicht jedem Trend nach. Ich hatte viel Zeit mit ihr verbracht, deswegen wusste ich das und auch, dass sie später mal Stylistin werden wollte.
 

Wie gesagt, ich mochte Alicia. Wirklich. Aber es war trotzdem jedes Mal eine Qual und kostete mich Überwindung, mit ihr zu schlafen. Nicht etwa, weil sie ausgesprochen hässlich war, sondern einfach … weil sie eben nicht das hatte, was mich scharf machte. Sie war beliebt, hübsch und schlau, sie hätte jeden Kerl der Schule haben können — aber sie war mit mir zusammen, dem nicht geouteten Homo, der sie hinter ihrem Rücken mit anderen Typen betrog. Mir war durchaus klar, dass ich dafür irgendwann wehleidig in der Hölle schmoren würde, aber … es sollte sich zumindest gelohnt haben.
 

»Wie war Vegas?«, holte Alicia mich aus meinen Gedanken zurück. Ich fokussierte mich auf sie. Erwartungsvoll schaute sie mich an, während sie mir sanft mit den Händen auf die Oberschenkel trommelte. Ich war am Wochenende mit meinen Eltern in Las Vegas gewesen, als Kurztrip sozusagen, aber sie hatten mir strikt verboten, mich in irgendein Casino zu verabschieden. Dabei war ich ziemlich überzeugt gewesen, dass ich beim Pokern ein paar Tausend hätte anhäufen können. Aber einmal abgesehen von dem Verbot meiner Alten hätte man mich vermutlich sowieso an keinen Tisch gelassen. Ich war einfach ›zu jung‹.
 

»Gut«, antwortete ich leicht grinsend. Meine Gedanken schweiften kurz zu Samstagnacht ab, die ich mit einem attraktiven, dunkelhaarigen Kerl verbracht hatte, der mir im Hotel vor dem Casinobereich über den Weg gelaufen war. Ich versuchte mich zu erinnern, wie sein Name gewesen war, aber wenn er ihn mir genannt hatte, dann konnte ich mich nicht mehr entsinnen.
 

»Hast du ordentlich abgeräumt?«, wollte Alicia mit schelmischem Grinsen wissen. Ich strich ihr eine Wimper von ihrem unteren Augenlid. Eigentlich sollte ich mich aus dem Fenster stürzen für das, was ich ihr antat. Wäre sie eine hohlbirnige Schickse gewesen, wäre es mir egal gewesen, ob ich sie anlog und betrog, aber Alicia … Alicia war nicht nur meine Freundin, sie war auch eine Freundin — eine sehr gute.
 

»Leider nicht«, sagte ich seufzend. »Sie wollten mich nicht lassen.«
 

»Armes Baby«, meinte Alicia mit aufmunterndem Lächeln, während sie mein Gesicht in ihre Hände nahm und mir sachte einen Kuss gab. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich wegen meiner sexuellen Gesinnung — abgesehen von meinem anfänglichen Hass — einmal so schlecht fühlen würde. Wäre ich hetero, dann wäre Alicia das perfekte Mädchen für mich gewesen.
 

Ich legte meine Hände auf ihre Handgelenke. »Irgendwann werde ich so reich sein, dass ich dir alles kaufen kann, was du dir wünschst«, versprach ich ihr milde. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, fügte ich gedanklich hinzu. Sie kicherte kleinmädchenhaft. Eigentlich bekam sie schon jetzt alles, was sie sich wünschte. Alicia war Papas Prinzessin, er trug sie auf Händen und legte ihr die Welt zu Füßen. Er war so steinreich, dass man sich neben Familie Kelso wie eine kleine Kakerlake vorkam.
 

»Das ist süß von dir, Colin«, meinte Alicia kichernd. Sie ließ mein Gesicht los und nahm stattdessen meine Hände, ehe sich ein entschuldigender Ausdruck auf ihre Züge legte. »Du, ich fürchte, unser Treffen heute Abend muss ausfallen. Kelly hat für heute Abend noch Training angesetzt und da muss ich anwesend sein.«
 

Alicia war eine Cheerleaderin und Kelly war sozusagen ihre Chefin. Aber auch ohne Kellys Machtworte ging Alicia gern zum Cheerleading. Ich verübelte es ihr nicht.
 

»Schon okay«, winkte ich ab. Sie lächelte mich erleichtert an, dann hob sie den Blick und schaute quer durch die Cafeteria zu dem ganz äußersten Tisch, der direkt neben den beiden großen Abfalleimern stand, an dem Dorian ganz allein saß. Ich folgte ihrem Blick kurz. Als Alicia sich mir wieder zuwandte, beugte sie sich weit zu mir vor.
 

»Ich finde es irgendwie wirklich schrecklich, wie sie Sean behandeln«, sagte sie so leise, dass nur ich es hören konnte. Ernst lag in ihren Augen. »Die anderen Typen aus dem Footballteam versuchen ihn mit allen Mitteln wegzuekeln. Dabei waren sie mal seine Freunde und Sean ist einer der besten Spieler. Sogar einige Lehrer stellen die Entscheidung des Coachs in Frage. Sie sind der Meinung, es wäre ein Fehler, Sean sowohl im Team als auch als Captain zu behalten. Ist das nicht unfair?«
 

Ich starrte sie verblüfft an. Bisher hatte Alicia nie durchblicken lassen, dass es sie offenbar nicht störte, dass Dorian schwul war. Dass sie ihn sogar so … in Schutz nahm, wunderte mich mächtig. Aber es erleichterte mich auch. Die ganze Zeit war ich davon ausgegangen, dass sie auf der Seite aller anderen stehen und Dorian verurteilen würde. Es machte mich auf gewisse Weise sogar stolz, dass meine Freundin keine schwulenfeindliche Konservative war, aber auch sie traute sich offenkundig nicht, sich gegen die Front der hämischen Schüler zu stellen. Sonst hätte sie ihre Gedanken mir nicht leise zugeflüstert, sondern sie laut ausgesprochen. Aber gut, ich hielt auch meine Klappe.
 

»Vielleicht«, sagte ich nur. »Vielleicht ist es aber wirklich ein Fehler, ihn im Team zu behalten.«
 

Zumindest war Alicia mutig genug, um zumindest mir gegenüber ehrlich zu sein. Ich konnte nicht einmal dafür die Courage aufbringen. Sie lehnte sich wieder zurück und musterte mich kurz. Für einen Moment fragte ich mich, ob sie einen Verdacht hatte.
 

Doch dann sagte sie: »Zumindest lachst du nicht über diese geschmacklosen Witze.«
 

Als ich nach der Schule nach Hause kam, waren meine Eltern beide zu Hause und hatten offenbar Besuch.
 

»Ich bin wieder da!«, rief ich durch die Wohnung. Ich ließ meine Tasche im Flur stehen, bevor ich in die Küche ging, um nach etwas zu essen zu suchen. Die Pampe zum Mittag hatte mir den Appetit verborgen und ich hatte nichts zu mir genommen, jetzt wollte ich mich nur vollstopfen.
 

Während ich durch den Kühlschrank wühlte, lauschte ich der fremden, männlichen Stimme, die aus dem Wohnzimmer kam. Es war keiner von Moms oder Dads Freunden, sondern jemand, den ich nicht kannte. Ich bastelte mir ein Sandwich zusammen und hörte nebenbei dem Gespräch zu, das meine Eltern mit der anderen Person führten.
 

»Ein Sportstipendium?«, hörte ich meinen Dad aufgeregt fragen. Unweigerlich musste ich die Augen verdrehen. Er war ein hoffnungsloser Footballfan, hatte zu seiner Schulzeit selbst gespielt und selbst auf dem College noch, daher war er ziemlich enttäuscht, dass ich absolut nichts mit Sport anfangen konnte. Schon gar nicht mit Football. Ich war zu schlaksig, zu schmal und die Ausprägung meines Bizepses war sehr scheu. Einer dieser Schränke musste mich nur anpusten und ich segelte wie eine Feder durch die Luft.
 

»Ja«, bestätigte die fremde Stimme. »Aber dann hab ich mir das Sprunggelenk verletzt und seitdem … na ja, ich konnte es dann doch nicht annehmen. Deswegen studiere ich jetzt Jura hier in Stanford. Das ist auch in Ordnung.«
 

Mein Dad ließ ein leises, anerkennendes Pfeifen hören. Wieder verdrehte ich die Augen, als ich die zweite Sandwichbrotscheibe auf meine Kreation pappte. Von Jura war ich mindestens so weit entfernt wie von Football. Ich war mir noch nicht einmal zu hundert Prozent sicher, was ich machen würde.
 

Ich nahm den Teller, auf dem mein Sandwich lag, holte meine Tasche und schwang sie mir über die Schulter, bevor ich durch den kleinen Torbogen ins Wohnzimmer spazierte.
 

»Hast du gehört, Colin?«, fragte mein Vater gerade. »Jura!«
 

Er kam mir gerade ins Sichtfeld, als ich meinte: »Vergiss es, Dad, ich werde sowieso Pokémon-Trainer.«
 

Als ich erkannte, wer da in unserem Wohnzimmer mit meinen Eltern saß, ließ ich fast den Teller fallen. Mit einem Mal spürte ich, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich und zeitgleich mein Puls in die Höhe schnellte.
 

Es war nur die eine Nacht gewesen, aber ich erkannte ihn. Die dunklen Haare, die breiten Schultern, der schelmische Zug um den Mund, die eindrucksvolle Statur. Es war der Typ aus Vegas, mit dem ich Samstagnacht verbracht hatte. Das konnte unmöglich wahr sein! Wie war das möglich? Vegas war doch ein ganzes Stück von Palo Alto entfernt, wie konnte er dann hier sein? Was zum Teufel machte er in diesem Wohnzimmer? Das musste ein Traum sein. Wahrscheinlich war ich im Unterricht eingeschlafen und träumte mir diesen Blödsinn zusammen.
 

Sein Gesicht fror für einen Moment, als er mich ansah. Offenbar erkannte er mich ebenfalls. Für drei ewig lange Herzschläge starrten wir einander fassungslos an, bis er sich wieder fing und mir ein freundliches Lächeln schenkte. Dieses stumme Erkennen war so schnell verflogen, dass meine Eltern nichts Verdächtiges merkten.
 

»Das ist unser Sohn Colin«, stellte meine Mutter mich ihm vor. »Colin, das ist Ned Fox, er ist nebenan eingezogen.«
 

Kein Traum.
 

Der Teller schwankte gefährlich in meiner Hand. Ned. Richtig. Jetzt fiel es mir wieder ein. Meine Katze Bonne lag auf seinem Schoß, etwas, was sie sonst nur bei mir tat. Sonst blieb sie bei niemandem liegen.
 

Mir wurde im Sekundentakt abwechselnd siedend heiß und eisig kalt.
 

»Hi«, sagte ich mechanisch. »Willkommen in der Nachbarschaft.«
 

Bevor Ned antworten konnte, sagte mein Dad: »Ned studiert Jura. Du solltest dich vielleicht von ihm beraten lassen, bevor du dir irgendwas—«
 

»Wohl kaum«, schnappte ich sauer. Was fiel diesem Ned eigentlich ein, nebenan einzuziehen? Konnte er sich nicht eine andere Bleibe suchen? Das hier war mein Haus! Ich konnte ihn hier nicht gebrauchen! »Ich hab noch zu tun.«
 

Ich steuerte mein Zimmer an, stieß die Tür mit dem Fuß auf und stellte den Teller auf meinem überladenen Tisch ab, ehe ich sie wieder schloss. Ich hatte nicht übel Lust, den Kerl jetzt zusammenzustauchen, aber das ging vor meinen Eltern schlecht. Erstens, weil sie nicht wussten, dass ich schwul war, und zweitens, weil sie vermutlich einen Aufstand machen würden, wenn sie erfuhren, was zwischen Ned und mir geschehen war. Und den Aufstand würden sie nicht machen, weil ich schwul war — bei mir lag Homosexualität nahezu in den Genen —, sondern weil ich minderjährig war und Ned nicht. Da hatten sie ihre Prinzipien. Dass ich bereits Sex hatte, damit hatten sie sich abgefunden (die Kleinigkeit, dass ich auch Sex mit Kerlen hatte, wusste sie allerdings — logischerweise — nicht), doch was für sie gar nicht in die Tüte kam, war jemand, der nicht in meinem Jahrgang war. Und dass Ned definitiv nicht in meinem Jahrgang war, sondern einige darüber, war nicht zu übersehen.
 

Das mit den Genen war eine fast witzige Geschichte. Meine Oma mütterlicherseits (möge sie in Frieden ruhen) war eine Lesbe gewesen und der Bruder meines Dads war schwul. Homosexualität war in meiner Familie also kein Thema. Meine Eltern hatten sich damit abgefunden und inzwischen keine Probleme mehr damit. Mein Dad hatte sogar einen erstaunlich guten Draht zu meinem Onkel, wohingegen seine Eltern den Kontakt zu ihm völlig abgebrochen hatten.
 

Ich atmete ein paar Mal tief durch. Der Appetit war mir schon wieder vergangen. Lustlos starrte ich mein Sandwich an, während ich fieberhaft überlegte, was ich jetzt tun sollte. Ich würde jetzt Tür and Tür mit einem Kerl leben, mit dem ich in Las Vegas geschlafen hatte. Mit einem Kerl, von dem ich gedacht hatte, ich würde ihn nie wiedersehen. Mit einem Kerl, der mich jederzeit mit Leichtigkeit auffliegen lassen konnte. Der mir Streit mit meinen Eltern einbringen konnte. Verdammt.
 

Später am Abend, als es draußen ganz langsam zu dämmern begann, rauschte ich aus meinem Zimmer, durch das Wohnzimmer, durch die Küche in den Hausflur. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe an der gegenüberliegenden Tür zu klingeln, sondern griff erst einmal probehalber nach dem Türknauf. Die Tür glitt lautlos auf. Ich schlüpfte in den kleinen Flur, der in die mit Kisten zugestellte Küche führte.
 

Ein Rumpeln verriet mir Aktivität im Wohnzimmer. Hastig schlängelte ich mich an den Kartons vorbei und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Ned saß mit dem Rücken zu mir auf einem kleinen Hocker und kramte in einer Kiste herum. Sein schwarzbraunes Haar bedeckte in sanften Wellen seinen Nacken. Ich holte tief Luft, während mein Hirn wieder die Empfindungen von Samstagnacht auspackte. Die Küsse, die Berührungen, die Hemmungslosigkeit und die Ekstase, die mir durch den Körper gerauscht war. Es wallte wieder auf.
 

»Kannst du mir mal verraten, was du hier machst?«, keifte ich sauer, nachdem ich die Erinnerungen zurückgekämpft hatte. Ich konnte sehen, wie ein Ruck durch Neds Körper ging, als er sich erschreckte. Blitzschnell drehte er sich zu mir um, einen irritierten Ausdruck in den Augen. Als er mich erkannte, beruhigte er sich ein wenig.
 

»Kündigt man sich hier nicht mit einem Klingeln oder Klopfen an?«, fragte er mich unbeeindruckt. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, während ich versuchte, ihn sauer in Grund und Boden zu starren. Als ich ihm keine Antwort gab, seufzte er kurz.
 

»Ich ziehe hier ein«, erklärte er mir nüchtern.
 

»Zieh woanders ein!«, zischte ich aufgebracht. »Hier wohne ich!«
 

Er erhob sich und überragte mich fast um einen ganzen Kopf. Doch er blieb stehen, bewegte sich kein Stück, sondern starrte mich nur mit einem belustigten Ausdruck in den Augen an. Es machte mich fuchsteufelswild, dass er mich scheinbar nicht ernst nahm. Was dachte er sich? Nur weil er älter war als ich, hieß das noch lange nicht, dass ich weniger ernstzunehmend war als er.
 

»Das konnte ich auch nicht wissen«, erwiderte er gelassen. »Glaubst du, ich hätte gewusst, dass ich dich hier treffe?«
 

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als mir keine passende Antwort einfiel. Ned wandte seine Aufmerksamkeit von mir ab, ging hinüber zu einem anderen Karton und holte eine kleine Lampe behutsam daraus hervor. Er marschierte zielstrebig durch den Raum und stellte sie auf eine kleine, quadratische Kommode, die mehr an einen Nachtschrank erinnerte.
 

»Du kannst nicht hier bleiben«, sagte ich schließlich. »Das geht nicht. Du musst wieder ausziehen.«
 

Ned warf mir wieder einen belustigten Blick zu. »So? Ich hab den Vertrag schon unterschrieben. Außerdem, warum sollte ich ausziehen? Weil jemand, den ich nicht kenne, es mir sagt? Ich bitte dich. Du bist sicherlich alt genug, um zu begreifen, dass das nicht geht. Was ist überhaupt dein Problem?«
 

Es dauerte wieder ein paar Augenblicke, bis ich meine Sprache wiederfand. »Du bist mein Problem! Was wohl sonst?«
 

Ein süffisantes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. Er kam zu mir, näher und näher und ich wich unwillkürlich vor ihm zurück. Solange, bis ich irgendwas im Rücken hatte. Ned blieb direkt vor mir stehen, stützte seine Hände rechts und links von mir ab, sodass er mir damit jede Fluchtmöglichkeit nahm.
 

»Deine Eltern wissen wohl nichts davon, was?«, fragte er mich. Die dunklen Haare fielen in sein Gesicht. Er sah so verteufelt gut aus, dass ich mich am liebsten wieder auf ihn gestürzt und geküsst hätte. Die Erinnerung an seine Küsse und Berührungen brannte sich auf meinen Mund und meine Haut. Ned war so nah, dass ich die Wärme seines Körpers spüren konnte. Ich konnte kaum noch klar denken. Meine Reaktion war ihm wohl Antwort genug.
 

»Fürchtest du, ich könnte dich auffliegen lassen?«, wollte er wissen und senkte seinen Kopf auf meine Augenhöhe. Sein kühler Atem streifte mein Gesicht. Er kam noch näher, sein Gesicht schob sich aus meinem Blickfeld. Ich war wie erstarrt. »Oder denkst du an Samstagnacht zurück? An uns? An das, was wir getan haben? An mich?«
 

Seine Lippen streiften beim Sprechen meine Ohrmuschel. Ein heißer Schauer rieselte meinen Rücken hinab.
 

»Woher … weißt du …?«
 

»Dass du ganz offensichtlich schwul bist und deine Eltern noch offensichtlicher keine Ahnung haben?«, beendete er meine Fragen, die Lippen immer noch an meinem Ohr. Ich nickte schwach. Ned lachte leise. Beinahe wäre ich umgefallen, aber ich zwang mich, aufrecht stehen zu bleiben.
 

»Ich hab die Phase auch durch. Du würdest wohl nicht so aufgebracht reagieren, wenn deine Eltern es wüssten«, antwortete er wissend. »Ich kenne das Spiel. Erfahrung.«
 

Ich musste ein paar Mal tief durchatmen, um mein wummerndes Herz zu beruhigen. Das war zu viel für mich. Eigentlich machte ich mir keine weiteren Gedanken über einen Kerl, mit dem ich eine Nacht verbracht hatte, aber wie hätte ich ahnen sollen, dass ich Ned wieder begegnete? Die Gefühle unserer gemeinsamen Nacht rauschten wie eine Welle über mich hinweg.
 

»Es war schön«, murmelte Ned seltsam heiser. »Mit dir. Und es ist schön, dich wiederzusehen.«
 

Mein Herz flirrte. Ja, es war schön mit ihm gewesen und irgendwie freute ich mich auch, dass ich ihn wiedersah. Aber es war nicht gut. Ned brachte mit seiner Anwesenheit alles durcheinander. Ich konnte das nicht. Bisher hatte ich keinen einzigen Kerl, mit dem ich im Bett gewesen war, öfter als einmal getroffen. Mit Ned hatte ich in Vegas auch nur geschlafen, weil ich überzeugt gewesen war, dass unsere Leben sich nie wieder kreuzen würden.
 

Die Versuchung, die Erlebnisse von Samstagnacht zu wiederholen, war unbeschreiblich groß, doch ich schaffte es irgendwie, mich aus der Sackgasse von Neds Armen zu winden.
 

»Es war ganz okay«, sagte ich schulterzuckend. Dann drehte ich mich um und verließ Neds neue Wohnung. Ned war auch nur ein Bettkontakt gewesen. Ich hatte noch nie mehr als nur Lust verspürt für jemanden, mit dem ich geschlafen hatte.
 

Was in Vegas geschah, sollte in Vegas bleiben. Das war besser für alle Beteiligten. Vor allem für mich.
 

___

tbc.



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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  2you
2010-08-17T18:50:16+00:00 17.08.2010 20:50
cool, sehr schön.. schöne Geschichte, tolle Typen und hoffentlich eine heiße Nacht mehr und vorallem LIEBE ich bin echt gespannt darauf!!!!!!!!1
Von:  Samrachi
2010-08-14T15:30:04+00:00 14.08.2010 17:30
hui ♥
das gefällt mir wirklich sehr gut bisher^^
dass ned ins selbe haus wie colin zieht ist ja mal ein zufall~ xD
also was colin da mit seiner freundin abzieht ist so ne grenzwertige sache... wäre es nicht besser wenn er einfach single bleiben würde?! alicia hats eigentlich wirklich nicht verdient so verarscht zu werden..

die sache mit dem football-captain ist echt krass.. besonders als captain (die position kriegt man normalerweise sowieso nur dann, wenn man geachtet ist und mit dem team gut zurechtkommt - jedenfalls scheint das hier ja der fall gewesen zu sein). dass sie ihn so stutzen ist wirklich beschissen >.<

vllt spielt er ja noch ne rolle im verlauf der geschichte? ^^

bis zum nächsten kapitel,
lg Samra
Von:  Heartsbane
2010-08-13T11:26:32+00:00 13.08.2010 13:26
Oh, ich mag das <3
Die Story ist echt brutal interessant, ich möchte unbedingt weiterlesen!
Dein Schreibstil ist toll, die Charaktere unheimlich sympathisch...
Besonders Ned hat es mir angetan mit seiner etwas spöttischen, erwachsenen Art ;)

Was mich etwas schockiert hat war die Sache mit Alicia. Mich wunderte schon der Kuss, aber da dachte ich mir 'Ach, nur so ne Freundschaftsnummer' und auch, als Colin sagte, dass sie im helfe sein Geheimnis zu hüten, war ich davon überzeugt, dass sie einfach nur auf Paar machen. Aber als er dann sagte, dass er miut ihr schläft ... O____O War ich schon bisschen geschockt...
Falls das mit seiner Homosexualität später auffliegt, dann denke ich zwar nicht, dass sie sooo böse seine wird (mehr enttäuscht), aber ihr Daddy, etc... Oh Oh :O

Nun ja, das mit Ned ist ja dann mal mehr als schief gelaufen xD Aber wer konnte das ahnen... Ich finde Colins Reaktionen sind echt gut gelungen, sehr nachvollziehbar. Und ich mag die Szene sehr gerne, in der Ned Colin an die Wand drückt <3 Woohoo!

Iyaaah, noch eins: Ich werde auch Pokémon-Trainer! Dafür liebe ich Colin ♥ x3

Freu mich aufs nächste Kapitel!
Liebe Grüße,
Core.
Von: abgemeldet
2010-08-12T18:29:01+00:00 12.08.2010 20:29
also die story ist ja echt mal hammer und die charas gefallen mir auch sau gut :D deine ff's sind zurzeit sowas wie balsam für meine Seele. bzw lenk ich mich damit wunderbar ab und freu mich jedesmal wenn was neues zu lesen gibt. Bin zwar nicht die fleißigste Kommi schreiberin aber eindeutig fan! :]
Hast da mal wieder was tolles hergezaubert und freu mich wenns weiter geht!
Von:  Marubis
2010-08-12T14:27:25+00:00 12.08.2010 16:27
Huhu.
Deine Fanfics sind einfach immer der Hammer und ich hab alle gelesen.
Aber ich lass jetzt erstmal bei dem neune ein Kommi.
Also ich finde ihn extrem spannend und ungewöhnlich.
Sprich anders als die anderen, weil ja beide schwul sind und es schon miteinander gemacht haben.
Das Pferd von hinten aufgezäumt quasi.
Das macht mich echt gespannt wie es weiter geht.
Wie sie zusammen kommen, wie Colin das mit Alice klärt oder wie der rest später mal reagieren wird.
(Ich nehm jetzt einfach mal an das es noch passieren wird^^)
Naja egal.
Ich freu mich schon auf das nächste Kapitel.
Kiri
Von:  Myrin
2010-08-12T08:21:15+00:00 12.08.2010 10:21
Erstmal drei Sachen, die mir aufgefallen sind:

begann ihn mit großen Löffelportionen ihn zu leeren. -> Einmal "ihn" reicht.

ich auf etwas verzichten, dass ich so unglaublich scharf -> "das" mit einem "s".

Vielleicht ist aber wirklich ein Fehler, -> "es" nach "ist"

Aaalso, erstmal muss ich sagen, dass die Situation ganz anders ist, als ich gedacht hätte. Irgendwie hab ich nämlich gemeint, Alicia wäre Neds Freundin. Tja, grober Fehler, schätze ich.

Da ist Colin aber wirklich in einer beschissenen Situation. Naja, wobei ich mir natürlich auch die Frage stelle, warum er überhaupt eine Beziehung mit Alicia eingegangen ist. Wenn er Single wäre, würde daraus ja nicht automatisch die Schlussfolgerung kommen, dass er schwul ist, oder? Dann müsste er Alicia auch nicht betrügen, was ich generell nicht gutheiße, irgendwie aber auch etwas verstehen kann.

Allerdings frage ich mich, ob Alicia nicht vielleicht akzeptieren würde, wenn er ihr einfach die Wahrheit sagen würde (oder zumindest gesagt hätte, jetzt wäre sie wahrscheinlch schon sauer). Sie scheint ja ein ganz liebes Mädchen zu sein, ihn wirklich zu mögen und auch kein Problem mit Schwulen zu haben.

Und der arme Sean, Mann, der tut mir irgendwie noch mehr leid als alle anderen. Ich mein, Football-Captain, man kennt das ja, und dann schneiden ihn alle, weil er schwul ist? Ich hoffe echt, dass sich auch für ihn noch was ändert. *ihn pat*

Tjaha, plöt, wenn dann der eigentlich als One-Night-Stand gedachte heiße Typ nebenan einzieht. Doofer Zufall, aber vielleicht wird Colin (den ich irgendwie im Moment noch etwas unsympathisch finde; Gott, ich hab keine Ahnung, warum, ist nur so ein Gefühl) sich dann endlich mal seinem "Problem" stellen müssen.

Warum er's seinen Eltern nicht gesagt hat, ist mir allerdings ein Rätsel. Wenn Homosexualität bei ihnen sozusagen in der Familie liegt und die beiden das akzeptieren, dann müsste das bei ihrem Sohn doch erst recht so sein, oder? Naja.

Ned find ich jetzt schon super, er gefällt mir sehr!~♥

Bin schon sehr gespannt, was als nächstes kommt (es sind ja "nur noch" drei Kapitel, wenn ich mich richtig erinnere?), ich könnte mir so einige Szenarien vorstellen, aber wahrscheinlich trifft wieder mal keine davon ein. Ich freu mich schon!^^

Ach ja, hab grad vorher bemerkt, dass ich zum letzten BL&HL-Kappi noch gar nix geschrieben hab. Das muss sich sofort ändern! *davonzuckel*
Von:  Khaosprinzessin
2010-08-11T21:18:16+00:00 11.08.2010 23:18
Sehr geil! Der arme kleine Colin...hihi selbst schuld! Man sieht sich immer zweimal im Leben, ne?!
bin schon ganz kribbelig, wie's weitergeht. Was ich hier lesen konnte, find ich schonmal sehr sehr gut. Gefällt mir. Auch dein Schreibstil. Den mag ich besonders^^
Danke für die ENS *knuschel*

See ya in hell, beast


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