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Blauer Himmel

von

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Es kommt immer anders als man denkt

Schmerz war das Erste das er fühlte, dann begann sich eine blendend helle Welt wild um ihn herum zu drehen.

Den erneuten Schmerz, als sein Kopf auf den Boden aufschlug, spürte er schon fast nicht mehr. Vor seinen Augen wurde es dunkel. Bekam er überhaupt noch Luft? Er hatte das Gefühl, nicht mehr zu atmen. Was war das für ein Druck auf seinen Ohren? Als wäre er unter Wasser..

Stöhnend wälzte Akio sich auf den Rücken, schnappte nach Luft.

Müsste über ihm jetzt nicht der Himmel sein? Doch da war nur Schwärze.

Es war doch noch nicht Nacht gewesen, oder doch?

Immerhin, Luft strömte in seine Lungen, und Akio nahm nun auch wieder Geräusche um sich herum wahr, die durch den Nebel drangen der sich um seinen Verstand gelegt hatte.

Er hörte einen Motor laufen, ganz in der Nähe, und Schritte die sich ihm näherten.

"Scheiße! Lebt der noch?"

-"Ich weiß nicht, Sir. Doch, da! Ich glaube er hat sich gerade bewegt!"

Unnatürlich stark nahm Akio die Wärme eines Menschen wahr der sich nahe über ihn beugte, aber obwohl seine Augen weit geöffnet waren konnte er nichts erkennen als die tiefe Schwärze, die nun auch noch begann sich zu drehen. Ihm wurde schlecht.

"Das gibt eine ganz große Story wenn das herauskommt! Halten Sie das Überfahren kleiner Jungen für einen notwendigen Teil guter Fahrkünste?!" wütete die erste Stimme los.

Akio wollte protestieren: für wie alt hielten sie ihn denn?! Aber seine Lippen schienen sich zu weigern die wenigen Worte zu formen, die Akio ihnen aufzwingen wollte.

Ein leises Ächzen war alles was er herausbrachte, und mit ihm kehrte langsam das Gefühl in seine Glieder zurück die sofort Warnungen an sein geschädigtes Hirn sandten das diese nicht mehr verarbeiten konnte.
 

"Sir, ich höre Schritte aus der Gasse aus welcher der Junge gerannt kam. Sollen wir nicht lieber verschwinden?"

-"Ich hätte das große Bedürfnis Sie hierzulassen, aber dann würde vermutlich herauskommen, bei wem Sie angestellt waren! Also steigen Sie schon ein und bringen Sie uns hier heraus bevor uns noch jemand sieht - und nehmen Sie den Jungen mit!"

Die zweite Stimme war herrisch, und im Augenblick schien sie vor unterdrückter Wut fast zu zittern.

Ein stechender Schmerz drang endlich bis zu Akio's Hirn vor, als sein Körper bewegt wurde.

Er spürte, dass er unsanft auf eine weiche Unterlage geworfen wurde, dann begann die Erde zu vibrieren, was ihm noch mehr Schmerzen verursachte.

Und in diesem Moment entschied Akio sich entgültig, dass die wohltuende Dunkelheit eine wundervolle Alternative zur bösen Realität war.

Ob diese Typen ihn erwischt hatten, und was überhaupt passiert war, spielte zumindest im Moment keine Rolle mehr - Akio ließ sich fallen und versank in einer tiefen Bewusstlosigkeit.
 

Renjiro schnippte nervös ein Feuerzeug auf und zu um sich durch die Beschäftigung seiner Finger zu beruhigen, denn am liebsten würde er gerade entweder den Jungen neben sich oder seinen Fahrer erwürgen.

Er überlegte wie er den Jungen neben sich nach dem Aufwachen (falls er aufwachte) zum Schweigen über den Vorfall bewegen konnte - verschiedene Möglichkeiten wie Bestechung und Mord gingen Renjiro durch den Kopf, aber er verwarf sie alle wieder, da sie entweder das Schweigen des Jungen nicht garantierten oder die Gefahr bargen, schlimmerere Auswirkungen zu haben, falls sie an die Öffentlichkeit gelangten, als die Tatsache, dass er einen Jungen angefahren hatte, in einem Viertel, in dem er nicht sein sollte.

Die Wut auf seinen Fahrer stieg noch weiter, aber auch die auf sich selbst.

Warum hatte er überhaupt zugelassen dass sie durch dieses Viertel fuhren?!

Und vor allem - warum war er seinem ersten Impuls gefolgt und hatte den Wagen verlassen um nach dem Verletzten zu sehen?

Renjiro rieb sich gestresst über die Nasenwurzel und schloss die Augen.

Das war das eigentliche Problem.

Wäre er vernünftig im Wagen geblieben hätten sie einfach davonfahren können. Er war kein Heiliger; auch wenn er sich nie selbst die Hände schmutzig machte, war ihm durchaus bewusst dass seine "Spenden" an Kaminari nicht gerade für gute Zwecke eingesetzt wurden.

Und auch in seinem eigenen Geschäft war ihm durchaus bewusst dass er schon die eine oder andere Existenz zerstört hatte, die ihm entweder in die Quere gekommen war oder sich finanziell nicht mehr für ihn lohnte.

Gedankenverloren fuhr er mit dem Daumen der linken Hand die dünne Narbe nach die seine rechte Handfläche zierte.

Das war auch so eine Leichtsinnigkeit.

Er war nicht einmal auf die Idee gekommen dass die Gruppe Männer, die er damals gerade entlassen hatte, etwas anderes im Sinn haben könnte als ihm wütend etwas vorzujammern und später zähneknirschend zu verschwinden.

Seine Bedenkenlosigkeit hätte er um ein Haar mit durchtrennten Nerven bezahlt.

Wenn zu lange alles genau so lief wie er es wollte wurde er zu leicht nachlässig, das war Renjiro's größtes Problem.

Dann begann er gute Manieren zu zeigen, den Entlassenen die Hand zu schütteln oder einem angefahrenen Bettlerjungen zu Hilfe zu eilen.

Dass solch unüberlegte Taten meist einen ganzen Rattenschwanz an Problemen nach sich zogen war ihm durchaus bewusst, und es ärgerte ihn dass er damit die Kontrolle über die Situation in die Hände des Schicksals abgab.

Aber da es nun einmal bereits passiert war und der Junge sowohl ihn als auch seinen Fahrer angestarrt hatte blieb Renjiro nichts weiter übrig als Schadensbegrenzung zu betreiben.
 

Die Nacht brach inzwischen mit aller Gewalt herein, vor allem in den schmalen Straßen zwischen den hohen Gebäuden auf beiden Seiten wurde es fast schlagartig dunkel.

Renjiro musterte den Jungen im abnehmenden Licht, der inzwischen wieder ruhig atmete und keine Schmerzenslaute mehr von sich gab.

Er war wohl irgendwo zwischen 14 und 16 Jahre alt, so genau ließ sich das nicht sagen, vielleicht war er auch einfach nur schmächtig für sein Alter. Sein wuscheliges Haar, das ihm tief in die Stirn hing und die Augenpartie verdeckte, war hell, also war der Junge vermutlich kein Japaner.

Seine Kleidung war verschmutzt und an manchen Stellen leicht zerissen, aber das war nicht verwunderlich in dem Viertel, durch das sie gerade fuhren.

Renjiro schreckte aus seiner Betrachtung auf, als plötzlich ein leises Seufzen an sein Ohr drang und der Junge sich zu regen begann.
 

Es gibt gewisse Tage im Leben, an denen man später merkt, dass man morgens besser nicht aufgestanden wäre.

So ein Tag schien heute für Akio gekommen.

Während die Schmerzen in seinem Körper langsam zurückkehrten, kehrte auch Akio's Erinnerung an die Verfolgung und seinen Zusammenprall mit etwas sehr Hartem und Schmerzhaftem zurück.

Der Tag wäre so viel schöner gewesen, wenn er heute Mittag einfach auf diesem Dach in der Sonne liegen geblieben wäre..

Leider hatte er sich entschieden aufzustehen, und diese Situation jetzt war die Folge davon.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang Akio schließlich der Kraftakt, die Augenlider in die Höhe zu stemmen und einen Blick um sich zu werfen.

Seine Umgebung erkannte er schnell als ein fahrendes Auto, leicht zu erkennen an den Türen, Sitzen, und dem Vibrieren des Motors.

Ein Krankenwagen sah jedoch anders aus.

"Wo..bin ich?"

Akio erschrak über seine eigene Stimme, die zitterte und leise und unsicher war.
 

Renjiro überlegte fieberhaft. Es machte keinen Sinn den Jungen zu belügen, wenn er sich an alles erinnern konnte, und wie er ihn zum Schweigen bringen sollte, hatte er sich auch noch nicht überlegt. Also blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als vorerst bei der Wahrheit zu bleiben..?

Renjiro gab sich Mühe, seine Stimme sanft und beruhigend klingen zu lassen.

"Du wurdest angefahren. Du bist aber nicht schlimm verletzt, und wir fahren dich jetzt nach Hause. Weißt du die Adresse noch?"
 

Nicht schlimm verletzt?

Akio's Körper erzählte ihm etwas anderes, und der Mann, den er aus seiner liegenden Position heraus nur anhand der Stimme als solchen erkennen konnte, klang nicht gerade medizinisch bewandert.

Naja, aber immerhin wusste er jetzt, dass er aus der Gasse heraus vermutlich direkt in ein fahrendes Auto hineingerannt war.

Autsch. kein Wunder, dass ihm alles wehtat.
 

Erst da wurde ihm bewusst dass die Stimme ihm eine Frage gestellt hatte.

Akio dachte kurz nach.

Eine ziemlich dumme Frage, wie er fand.

"Natürlich! Ich wohne in der-"

In dem Moment fiel Akio ein, dass sein Ziel nicht seine Wohnung war, sondern das Haus, in dem seine Schwester lebte.

"..zur 94. Straße Nord bitte, Block 7-3."
 

Renjiro seufzte tief.

"Du musst dir den Kopf ziemlich hart angeschlagen haben, Junge. In der 94. Straße wohnst du ganz sicher nicht. Denk nochmal nach, meintest du nicht vielleicht die 91. Straße?"

Es war kein großer Abstand zwischen den beiden Straßen, aber der Unterschied könnte nicht größer sein. Menschen wie dieser Junge lebten im Gassengewirr des 91. Viertels; Arme, Ausländer, eben dreckige Menschen mit zerissenen Klamotten wie dieser Junge hier.

Die 94. Straße dagegen war selbst für die besser verdienenden Tokyoter kaum erschwinglich.

Es hatte Jahre gedauert, und ohne seine Beziehungen zu Kaminari hätte Renjiro sich eine Wohnung an der 94. Straße auch heute noch nicht leisten können.

DIESER Junge lebte ganz sicher nicht in der 94. Straße.
 

Akio schüttelte genervt den Kopf, unterließ diese Bewegung aber schnell wieder, als er spürte welche Schmerzen sie ihm bereitete.

"Ich irre mich nicht. Wenn Ihnen der Umweg zu groß ist, würden Sie vielleicht die Freundlichkeit besitzen, mir ein Taxi zu rufen? Ich glaube nicht, dass ich im Moment in der Lage bin dorthin zu laufen.."

Es war freundlich von dem Mann dass er sich um Akio kümmerte nachdem dieser angefahren worden war, aber übermäßig hilfsbereit schien er auch wieder nicht zu sein. Trotzdem hoffte Akio dass er ihn direkt zu Miu's Haus bringen würde. Erstens war er sich nach dem Reinfall mit dem Navigator nicht sicher ob ein Taxi überhaupt freiwillig ins 91. Viertel fahren würde, und zweitens konnte er sich durchaus schöneres Vorstellen als in seinem Zustand noch einmal zusätzlich das Fahrzeug wechseln zu müssen.
 

Renjiro unterdrückte ein Seufzen und gab seinem Fahrer ein Zeichen. Wenn sie an der genannten Adresse ankamen würde der Junge schon sehen, dass er sich geirrt hatte.

Aber was für ein nerviger Zeitgenosse! Die Sicherheit der Anwohner der 94. Straße wurde großgeschrieben - eine heruntergekommene Gestalt wie diesen Jungen dort einfach so herumlaufen zu lassen würde definitiv Sicherheitskräfte anziehen wie eine Kerzenflamme die Motten.

Also würde Renjiro umsonst einen großen Umweg fahren, da er den Jungen letzendlich sowieso wieder hierher zurückbringen musste.
 

Um sich abzulenken begann er auf dem Boden des Wagens, in dem es inzwischen dank der Dämmerung draußen komplett dunkel war, nach seinem Laptop zu tasten, in der Hoffnung dass der Aufprall ihn nicht beschädigt hatte - Renjiro mochte das Gerät.
 

Akio begann währendessen sich langsam und vorsichtig zu bewegen. Es funktionierte.

Natürlich würde er morgen wohl die Meinung eines Arztes einholen müssen, aber zumindest im Moment hatte Akio das Gefühl, dass er zwar so ziemlich jeden Knochen in seinem Körper geprellt hatte, aber sich sonst keine ernsthaften Verletzungen zugezogen hatte.

Nur leicht schwindlig war ihm noch, was wohl dem harten Aufprall zuzuschreiben war.

Er setzte sich aufrecht hin und drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Immerhin ansehen wollte er seinen unfreundlichen 'Retter' ja mal.
 

Was er sah traf Akio wie ein Schlag.

Nein, nicht direkt was er sah, eher seine eigenen Gedanken zu dem Mann.

Das erste, was Akio bemerkte, waren die beiden Hände, die neben dem Sitz herumtasteten. Sie waren deutlich größer als Akio's Hände, und die Finger waren lang und bewegten sich wie eigenständige Lebewesen. Nicht dass das Akio störte, nein, sein erster Gedanke ging in eine ganz andere Richtung:

"Wie es sich wohl anfühlen würde, von diesen Händen berührt zu werden?"

Akio riss seinen Blick geschockt in die Höhe um die Hände nicht mehr zu sehen. Offensichtlich war er von dem Unfall vorhin noch ein wenig verwirrt.

Im Halbdunkel fiel sein Blick auf ein männliches Gesicht, das sich ihm gerade zuwand. Die Wangenknochen waren ausgeprägt, das markante Kinn betonte die Männlichkeit. Einzelne dunkelbraune oder schwarze Haarsträhnen fielen dem Besitzer dieses Gesichts in die Stirn, aber das schien ihn nicht zu stören. Dunkle Augen - ihre Farbe konnte Akio in der Dunkelheit genauso wenig erkennen wie die genaue Haarfarbe - richteten den Blick auf ihn.

Akio drehte den Kopf schnell wieder in Richtung Fenster, woraufhin ihm natürlich prompt wieder schwindlig wurde.

Aber er war zu geschockt von seiner eigenen Reaktion. Er hatte dieses Gesicht gerade als attraktiv eingestuft!

Nicht wie jeder sich selbst hin und wieder mit anderen Männern verglich und feststellte, wer besser bei Frauen ankam, sondern in Akio's ganz eigener Kategorie von "attraktiv".

Ganz offensichtlich hatte er sich den Kopf doch schlimmer verletzt als bisher angenommen.
 

"Na, geht's dir wieder besser?"

Ein Schauder überlief Akio. Vorhin hatte er die Stimme einfach wahrgenommen, jetzt stellte er sich vor, wie die Lippen, die er eben noch gesehen hatte, diese Worte formten.

Verdammt, was war nur mit ihm los?

Da saß ein MANN neben ihm!!

Also absolut kein Grund, auf irgendeine Art und Weise auf ihn zu reagieren. Auf ihn zu reagieren? Oh Gott, was dachte er da?

Er reagierte doch nicht auf diesen Typen - sein Hirn schien nur durch den Unfall ein paar grundlegende Unterschiede zwischen männlich und weiblich vergessen zu haben!
 

"Geht es dir nicht gut? Sollen wir direkt zu einem Arzt fahren?"

Schon wieder diese Stimme! Offensichtlich verhielt Akio sich so, dass man sich Sorgen machen musste..?

Ja, natürlich tat er das! Man musste sich definitiv Sorgen machen, wenn man einen wildfremden Mann plötzlich attraktiv fand!

Trotzdem antwortete Akio:

"Nein nein..es ist schon in Ordnung. Danke dass sie mich doch noch hinfahren."

Den Kopf ließ er dabei gesenkt, er traute sich nicht, noch einmal in dieses Gesicht zu blicken.
 

Renjiro war etwas verwirrt von dem Verhalten des Jungen.

Warum schaute er ihn nicht an? Das war doch unhöflich! Nicht dass er von dem Bengel soetwas wie Höflichkeit erwartet hatte..aber bisher hatte er sich auch noch nicht so schlimm verhalten, wie Renjiro es eigentlich von ihm erwartet hätte.

Er hatte nicht nicht einmal angefangen über die Höhe des Schweigegeldes zu verhandeln - und das, obwohl sie ihr Ziel bald erreicht hatten!

Außerdem dieses fast schon schüchterne Verhalten..Renjiro verstand den Jungen nicht.

Aber wenn dieser das Gespräch nicht bald auf den Unfall brachte, würde Renjiro selbst darauf zu sprechen kommen müssen, und das passte ihm ganz und gar nicht.
 

Der Wagen wurde langsamer und rollte aus - sie standen vor einem Tor. Während sie mit laufendem Motor dort standen, gingen draußen plötzlich ein paar Lampen an und ein Mann in Uniform trat an das Fenster des Fahrers heran.

Nach einem kurzen Austausch und einem neugierigen Blick des Wachmannes auf den Jungen auf dem Rücksitz öffnete sich das Tor und sie fuhren weiter.

Ärger stieg in Renjiro auf.

"Was denkt sich dieser Typ eigentlich?! Wen ich in meinem Auto mitnehme geht ihn doch einen Dreck an, also was starrt er so!", knurrte er gereizt.

Sein Fahrer warf ihm im Rückspiegel einen beruhigenden Blick zu, und sagte:

"Es ist eben selten, dass jemand außer Ihnen in diesem Wagen sitzt. Sie trennen Beruf und Privatleben sehr stark."

Mit einem Knurren ließ Renjiro sich zurück in den Sitz fallen und warf dem Jungen einen schnellen Blick zu.

Er ärgerte sich, überhaupt etwas gesagt zu haben.
 

Akio unterdrücken ein Lächeln, dass ihm gerade unverständlicherweise in die Mundwinkel kriechen wollte.

Dieser beeindruckend wirkende Geschäftsmann, der tagsüber vermutlich immer völlig gefasst war, verhielt sich also wie ein kleines trotziges Kind, sobald er nicht mehr arbeitete?

Die Vorstellung hatte etwas Belustigendes.
 

Der Gedanke daran, was ein offenes Lachen über dieses Thema für Folgen haben konnte jedoch nicht, also hielt Akio sich zurück.
 

Akio hatte sich inzwischen beruhigt und die wirren Gedanken über diesen Mann in weite Ferne geschoben. Alles was er jetzt noch wollte, war endlich anzukommen und sich dann von Nancy und Miu versorgen zu lassen.

Verdammt...in diesem Zustand konnte er unmöglich zum Arbeiten gehen, und nach 20 Uhr war es sicher sowieso schon längst. Aber das ließ sich jetzt auch nicht mehr ändern..er durfte nur nicht vergessen, seinen Chef gleich anzurufen und zu sagen, dass er heute nicht kam.

Das war ihm allerdings eigentlich überhaupt nicht Recht.

Akio hatte den Job gerade einmal seit ein paar Wochen, jetzt gleich krank zu machen würde nicht gerade einen guten Eindruck hinterlassen, und da es hier in Japan keine bezahlten Krankentage gab würde er vermutlich gleich alle Urlaubstage für das kommende Jahr aufbrauchen.

Nicht dass die Zahl dieser nicht sowieso schon alles andere als zufriedenstellend war..

Akio war nun wirklich nicht der motivierteste Mitarbeiter den man sich wünschen konnte, aber er nahm seinen Job in dem kleinen Nachtclub relativ ernst, weil er ihm eine gewisse Unabhängigkeit von seinem Vater ermöglichte. Mit solchen Startschwierigkeiten hatte er nicht gerechnet.
 

Ein leiser erleichterter Seufzer entschlüpfte Renjiro, also der Junge endlich auf das Thema zu sprechen kam.

Verpasste Arbeit also, so so..Renjiro bezweifelte ja, dass der Junge überhaupt irgendwo angestellt war, aber darum ging es nicht.

Der Satz war ja nur eine Hinleitung zu dem Thema, wieviel Geld ihm zustand, dafür, dass er jetzt tagelang seiner vermeintlichen Arbeit nicht nachgehen konnte.

Daher fragte Renjiro in einem beiläufigen Ton:

"Wieviel hättest du denn pro Nacht verdient?"
 

Akio zuckte zusammen als er die Frage hörte.

Hatte er etwa laut gedacht? Und was ging diesen Typen eigentlich sein Gehalt an?

Aber gleich beruhigte Akio sich wieder. Warum sollte er NICHT mit dem Mann darüber reden? Es war ja nicht so als ob er sich schämen müsste. Dieser Geschäftsmann war auch vermutlich mal ein Student gewesen und hatte irgendwo gejobbt bevor er in irgendein Unternehmen eingetreten und zum gutverdienenden Anzugträger mit tollem Wagen geworden war.

Also antwortete Akio wahrheitsgemäß:

"Oh, keine Ahnung. Nicht viel vermutlich. Der Chef ist ganz nett, aber da er zu einer größeren Kette gehört, kann er nicht entscheiden, wieviel er uns zahlt. Wer mich aufregt, ist der knausrige Opa, dem die ganzen Läden gehören und der meint für's nachts Arbeiten sei es nicht angemessen ein bisschen mehr springen zu lassen als für Jobs die tagsüber zu erledigen sind. Dabei ist es ja wohl absolut nicht vergleichbar! Und ich hab gehört in großen Unternehmen bekommen die Mitarbeiter einen Zuschuss wenn sie nachts arbeiten...das wäre toll. Naja. Der Job ist auch nicht wirklich vergleichbar, geb ich schon zu...ah, ich arbeite übrigens an vier Abenden die Woche...und verdiene im Monat so um die 28.000 Yen." endete er seine Erklärung schließlich ein wenig verlegen.

Sich einem Fremden gegenüber so in Rage zu reden war...peinlich.
 

Renjiro starrte den Jungen an.

Was genau war sein Ziel? Es war absolut bescheuert, so eine geringe Summe zu nennen! 28.000 Yen waren nichts, und der Junge deutete sogar an, nur bestenfalls ein Viertel davon zu wollen, für die Woche, die er vorraussichtlich nicht arbeiten konnte. Für 7000 Yen konnte ein typischer Jugendlicher sich ja grade einmal einen schönen Abend machen!

War er ganz besonders schlau und wollte auf Umwegen zu seinem Geld kommen, oder war er tatsächlich einfach so dämlich und ehrlich und Renjiro hatte nur ein unglaubliches Glück gehabt, gerade DIESEN Jungen anzufahren?
 

Renjiro schrak auf als das Auto plötzlich anhielt.

"Wir sind an der genannten Adresse angekommen." erklärte der Fahrer.

Renjiro lehnte sich leicht nach links in Richtung des Jungen, um aus dessen Fenster sehen zu können.

Eine dunkle, meterhohe Hecke erstreckte sich weit nach links und nach rechts, direkt vor ihnen jedoch befand sich ein massives, aber schön verziertes Holztor.

Von dem Haus, dass sich irgendwo dahinter befinden musste, war nur das Dach zu sehen.

Renjiro warf dem Jungen einen Blick zu.

"Kommt dir das irgendwie bekannt vor?" fragte er spöttisch.
 

Akio stieß einen erschrockenen Laut aus, als er die Stimme des Mannes plötzlich so nahe an seinem Ohr wahrnahm.

Eine Gänsehaut legte sich über seinen Körper.

Was war nur mit ihm los?

Akio nahm sich zusammen und versuchte völlig normal zu antworten, obwohl seine Stimme leicht zitterte:

"Natürlich nicht. Also dann, vielen Dank für's Herbringen.

Einen schönen Abend wünsche ich noch."

Ohne seinen 'Retter' noch einmal anzusehen - das Risiko, damit wieder eine seltsame Reaktion hervorzurufen, war ihm zu groß - öffnete er die Tür und stieg aus.
 

Renjiro starrte ihm perplex nach.

"Natürlich nicht"? Diese Antwort hatte er ja eigentlich erwartet. Aber warum stieg der Junge dann aus? Er konnte ihn doch schlecht einfach frei hier rumlaufen lassen, wer wusste schon ob er nicht gleich ins nächstbeste Haus einbrach? Zurückfallen würde es schließlich auf ihn, Renjiro, der ihn durch die Kontrolle am Beginn der Straße gebracht hatte!

Ah, und nebenbei - was war denn jetzt überhaupt mit dem Geld?

Er musste den Jungen doch davon abhalten, irgendjemandem etwas zu erzählen!

Noch bevor Renjiro es schaffte einen sinnvollen Satz zu bilden, schloss sich die Tür wieder und er konnte nur noch durch die Scheibe beobachten, wie der Junge auf das Holztor zuging, die Türglocke betätigte, und sich das Tor vor ihm öffnete.
 

Einen Spiegel hatte er nicht, aber Akio hoffte, nicht ganz so schlimm auszusehen wie er sich fühlte, Miu würde sonst einen Schock für's Leben kriegen.

Die Kamera über dem Tor richtete sich auf sein Gesicht - offenbar war er noch nicht so entstellt dass er nicht mehr erkannt wurde, denn das Tor vor ihm öffnete sich.

Akio machte ein paar wackelige Schritte hindurch, dann wurde er fast von den Füßen gerissen, als ihm etwas in die Arme flog. Es war warm, weich und duftete nach Lavendel. Helle Haarsträhnen, erleuchtet von dem Licht über dem Tor, kitzelten ihn an der Nase.

Etwas Heißes und Feuchtes drang durch die Kleidung an seiner Schulter.

"Ja ich freue mich auch dich zu sehen, Miu." sagte er in einem beruhigenden Tonfall.

Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie sich das Tor hinter ihm schloss.
 

Das Mädchen, das sich dem Jungen an den Hals warf, hatte Renjiro noch gesehen, bevor sich das Tor schloss. Hieß das der Junge lebte wirklich hier? Unmöglich..andererseits würde das erklären, warum er kein Interesse an Schweigegeld gezeigt hatte - jemand der in einem solchen Haus wohnte, konnte mit so geringen Summen nicht bestochen werden. Andererseits passte das wiederum nicht zu seiner Geschichte über seinen schlecht bezahlten Job...

Renjiro fuhr sich unruhig durch die Haare. Was sollte er jetzt nur tun?

"Bringen Sie mich nach Hause!" befahl er harsch seinem Fahrer.

Im Moment konnte er hier sowieso nichts mehr ausrichten.
 

Akio strich seiner kleinen Schwester sanft über den Kopf.

"Nun hör schon auf zu weinen.

Ist ja gut..ruhig, ruhig..wenn ich gewusst hätte,

dass du die ganze Zeit nur heulst, wäre ich nicht gekommen..

Hey, Miu..Miu, ist gut jetzt.

Es reicht.

Miu, du tust mir weh!!"

Erschrocken löste Miu sich von ihrem Bruder. Sogar die Tränen hörten auf zu fließen.

"Es tut mir leid, Akio-nii! Das wollte ich nicht!"

Akio seufzte. Das konnte ja noch heiter werden.
 

Nancy trat nun aus dem Hintergrund hervor.

"Willkommen, Master Akio. Auch ich freue mich aufrichtig, Euch zu sehen. Das Essen ist fertig, aber ich nehme an, dass Ihr zuvor noch ein Bad nehmen möchtet?"

Miu blickte ihren Bruder fragend an, dann plötzllich erschrocken. Sie schien erst jetzt zu bemerken, dass er ein wenig derangiert aussah.

Akio musste über Nancy's Begrüßung grinsen.

Das war dann wohl die höfliche Art zu sagen: Wo hast du dich denn rumgetrieben? So dreckig und zerissen kommst du mir aber nicht an den Tisch!

Also erklärte er:

"Ja, das halte ich definitiv für eine gute Idee. Der Weg hierher war..nicht so sanft. Über ein heißes Bad würde ich mich sehr freuen."

Und ein gutes Schmerzmittel, fügte er in Gedanken hinzu.
 

Renjiro hing rückwärts über die Lehne der Couch in seiner Wohnung herab und starrte in Richtung der großen Fenster. Abgesehen davon, dass es inzwischen stockfinster war und draußen sowieso nichts zu erkennen war, stand die Welt durch Renjiro's Haltung auch noch Kopf.

Die Dunkelheit und Stille im Appartment hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Diese hatte er im Moment auch dringend nötig - er bebte vor Wut auf seinen Fahrer, der darauf bestanden hatte durch das 91. Viertel zu fahren, auf diesen dämlichen Jungen, der sich nicht so leicht zum Schweigen bringen ließ und vor allem auf sich selbst, dass er nicht auf eine andere Route bestanden hatte, dass er den Jungen mitgenommen hatte, und dass ihm keine wirkungsvollere Methode als Bestechung einfiel.
 

Er seufzte leise und legte den Arm über die Augen; in der Stille, die im Raum herrschte, klang dieser kleine Laut unnatürlich laut.
 

Plötzlich fuhr er wie von der Tarantel gestochen hoch.

"Oh verdammt..!" stieß er aus.

Er hatte den Auftrag völlig vergessen! Dabei gab es eigentlich nichts Wichtigeres!

Renjiro hetzte in die Gaderobe, wo er sein lädiertes Notebook abgelegt hatte, drückte den POWER-Knopf und atmete erleichtert auf, als ein kleines grünes Licht aufblinkte und ihm so zeigte, dass alles in Ordnung war.

Er trug das arme Gerät vorsichtig ins Wohnzimmer zurück und legte es auf dem Tisch ab.

Um sich zu beschäftigen bis es fertig hochgefahren war ging er in die Küche und fütterte die Kaffeemaschine mit Wasser und Kaffeebohnen.

Während es in der Maschine verheißungsvoll brodelte, kehrte Renjiro in das dunkle Wohnzimmer zurück und schaute nach dem Notebook.

Erfreut stellte er fest, dass es bereits fertig hochgefahren war und anscheinend alle Funktionen noch intakt waren, zumindest die Grundlegenden.

Er stellte eine Verbindung zum Internet her, tippte "Black Ribbon" in die Adresszeile, und wurde zu einer nett designten Seite eines Stripclubs weitergeleitet.

In der Navigationsleiste klickte er auf "Unsere Angestellten" woraufhin sich ein Pop-Up-Fenster öffnete und ihn nach einem Mitgliedspasswort fragte, um "die Privatsphäre der Angestellten zu wahren".
 

Ein schmallippiges Lächeln huschte über Renjiro's Gesicht.

Natürlich war er kein geiler alter Mann, der sich Bildchen von halbnackten Jungen und Mädchen anschaute, weil es sonst in seinem Leben nichts mehr gab.

Es war einfach eine wunderbare Möglichkeit, Bilder zu verstecken und gleichzeitig offensichtlich zu machen.

Der Stripclub "Black Ribbon" existierte nicht, an der angegebenen Adresse stand zwar ein Haus mit diesem Namen, doch es war immer geschlossen.

Die Frage nach dem Mitgliedspasswort war die Frage nach einem Passwort, das er von der Organisation erhalten hatte, und selbst wenn ein fähiger interessierter Jemand sich um dieses Passwort herummogelte, entdeckte er nichts weiter als Bilder von verschiedenen hübschen Jungen und Mädchen; den angeblichen "Angestellten" des "Black Ribbon".

Nur wenn man den Auftrag kannte, machte die kleine Bildergalerie Sinn - die Jungen und Mädchen hatte alle ein Alias, das aus zwei Buchstaben bestand. Zielperson war diejenige, deren Alias mit dem Inhalt des Auftrags übereinstimmte - C.B. stand für "Caged Bird".

Das Versteck war perfekt - selbst wenn aus irgendeinem Grund sein Notebook beschlagnahmt und durchsucht werden sollte, konnte er jederzeit behaupten, nur nach der Konkurrenz geschaut zu haben.

Aus diesem Grund war die Seite exklusiv für ihn eingerichtet worden.

Die Organisation war schließlich nicht durch Zufall so mächtig geworden, wie sie es heute war.

Während die Bilddatei geladen wurde, lehnte Renjiro sich mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen zurück. Wenigstens eine Sache sollte heute genau so ablaufen, wie er es sich vorstellte.
 

Akio gab einen schnurrenden Laut von sich, streckte alle Glieder von sich und gähnte.

Wundervoll, auf so einem riesigen, weichen Bett zu liegen und einfach nichts um sich zu haben, das in irgendeiner Art und Weise störend war.

Seine Haut war noch warm vom Badewasser und die Kleidung, die Nancy ihm vorsorglich hingelegt hatte, schmiegte sich weich an ihn.

Dank Schmerzmittel und heißem Bad fühlte er sich schon viel besser als zuvor; auch das Essen mit Miu hatte seinen Teil dazu beigetragen.

Sie mochte ja mit ihrem oft übertriebenen Verhalten manchmal nervig sein, aber sie war trotzdem seine Schwester, und er war über ein Alter hinaus, in dem man jüngere Geschwister nur aus dem Grund heraus nicht mochte, dass sie eben jüngere Geschwister sind.
 

Akio versuchte sich wieder aufzurichten, er hatte sich vorgenommen die Nacht nicht hier zu verbringen sondern trotz allem nach Hause zu fahren, aber im Moment fiel ihm die Umsetzung dieser Entscheidung wirklich schwer.

Sein geschundener Körper wollte nicht so ganz einsehen, warum er aus seiner wohlverdienten Ruhe gerissen werden sollte und tatsächlich AUFSTEHEN sollte.

Akio gab nach, ließ sich wieder vollends fallen und schloss die Augen.

Nur einen Moment lang...

Sein ruhiger Atem verriet bald darauf, dass er tief und fest schlief.
 

Das zufriedene Lächeln auf Renjiro's Lippen war wie weggefegt.

Das Fleisch unter seinen Fingernägeln erschien weiß, so fest umklammerte er den Rand des gläsernen Couchtisches.

Er zitterte.

Seine Augen schienen vor Überraschung leicht aus ihren Höhlen hervorzutreten und ihr Blick war voller Ungläubigkeit und Schock auf das Bild gerichtet, das sein kleines Notebook ihm zeigte.

Er KANNTE diesen Jungen!!

Ein wenig dreckiger, ja, mit zerissener Kleidung und das Gesicht war halb von Haaren verdeckt gewesen, aber das Bild, das einen Jungen zeigte, der gelangweilt in die Kamera blickte, mit einem Vorlesungssaal im Hintergrund, zeigte definitiv die gleiche Person, die Renjiro bis vor ungefähr einer halben Stunde noch neben sich im Auto sitzen gehabt hatte!!

Was für ein kranker Wink des Schicksals war das denn bitte?!
 

Doch in dem Moment wurde Renjiro etwas klar:

Ein Vögelchen im Käfig hatte keine Möglichkeit, bei den Medien zwitschern zu gehen.

Ein gefangenes Vögelchen war ein stummes, ein gutes Vögelchen.

Und zum ersten Mal seit er am Mittag den Auftrag erhalten hatte, verschwanden Renjiro's Zweifel an der Richtigkeit dieser Aktion. Wenn der Junge Ziel des Auftrags war, hatte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, denn das Schweigen des Jungen war gesichert wenn er erst einmal in die Fänge der Organisation geraten war.
 

Renjiro klappte das Notebook zu, legte die Füße hoch, lockerte die Krawatte und genoss das Gefühl, langsam aber sicher wieder Herr der Situation zu sein.

Das zufriedene Grinsen von vorhin kehrte langsam zurück.


Nachwort zu diesem Kapitel:
7000 Yen entsprechen umgerechnet ca. 50 Euro, falls es jemanden interessiert :) Komplett anzeigen

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