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La Principessa

Drum prüfe, wer sich ewig bindet...
von

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Gianni

„Euer Gnaden.“

Unwillkürlich zuckte Heinrich ein wenig schuldbewusst zusammen als er die vertraute Stimme seines alten Lehrers hinter sich vernahm, gleichzeitig das Gesicht zu einer unwilligen Grimasse verziehend, ehe er sich doch umwandte und dem Geistlichen entgegen sah.

Hatte er tatsächlich angenommen diesem auf Dauer ausweichen, der unweigerlich seiner harrenden Predigt entgehen zu können?

Aber dieses Mal würde er sich nicht von dem alten Mann beschwatzen lassen! Was wusste der schließlich schon von Liebe?

Unterdessen hatte Fra Angelico die kurze Distanz zwischen sich und seinem Schützling geschlossen, ihn bittend: „Auf ein Wort, Euer Gnaden.“

Heinrich nickte widerstrebend, „wenn es sein muss.“

„Ich denke, dass muss es. Euch sollte nur allzu bewusst sein, wie schlecht ihr Euch in den vergangenen Tagen benommen habt.“

„Was wollt Ihr noch von mir? Ich habe sie auf Euren Rat hin mit einem Festessen willkommen geheißen. Und sie beginnt eine lächerliche Diskussion über Recht und Unrecht bei Dieben und Zauberern. Ich habe sie zur Jagd eingeladen und sie hat nicht das kleinste Wildbret geschossen, sondern wollte von mir wissen, ob ich die Natur liebe! – Sie ist dumm, starköpfig, dreist und obendrein noch hässlich! Es genügt doch, dass ich gezwungen bin sie zu heiraten. Zwingt mich nicht, mir auch noch von ihr die Zeit stehlen und die Laune verderben zu lassen!“ Die Stimme des Fürsten war während seiner Rechtfertigung immer lauter, eifernder geworden, sodass der Priester ihn sanft am Arm packte und ihn in die fürstlichen Gemächer zog, ehe er auf die Worte Heinrichs einging.

„Es freut mich, dass Ihr Euren Fehler nicht bestreitet“, begann der Pater bedächtig mit ruhiger Stimme, „aber bedenkt, dass Ihr nicht der Einzige seid, der diese Ehe eingehen wird und es der Wunsch Eures Vaters war, dass Ihr die Tochter seines Freundes ehelicht.“

„Eines Freundes, der mich beleidigt, indem er seine Tochter in meinem Haus unter den Schutz seiner eigenen Garde stellt“, konterte Heinrich bitter, „und deren Hofdamen sie in ihrem abstoßenden Verhalten auch noch bestärken werden.“

„Ich versichere Euch, dass die Damen der Prinzessin in keiner Weise schlecht raten. Im Gegenteil, erwähnte Dame Clarissa, dass sie sich zu Euren Gunsten verwenden, es angesichts Eures Verhaltens aber durchaus nicht leicht sei, die Prinzessin von Euren guten Seiten zu überzeugen.“

Heinrich hatte bereits den Mund geöffnet, um eine trotzige Erwiderung zu geben, wurde aber von der erhobenen Hand und der Bitte des Priesters „lasst mich ausreden“ aufgehalten.

„Ihr habt Euch bereits ein Urteil über Johanna gebildet, obwohl Ihr sie kaum kennen gelernt habt. Wäre es nicht möglich, dass Ihr Euch irrt, dass es Euer Unwille ist, überhaupt zu heiraten, der sie Euch in so schlechtem Licht erscheinen lässt?“

Dieses Mal ließ sich Heinrich nicht von einer Antwort abhalten, sondern erklärt beinahe trotzig: „Ich habe nichts dagegen zu heiraten.“

Verblüfft sah der alte Priester den jungen Fürsten an, diese Worte hörte er zum ersten Mal. Bisher hatte Heinrich das Thema Heirat stets abgeblockt und Ausreden dafür gefunden, warum es unmöglich wäre bereits jetzt zu heiraten.

„Im Gegenteil, wenn ich heiraten könnte, wen ich wollte, würde ich schon morgen Hochzeit halten.“

„Ihr habt jemanden kennen gelernt?“ Der Priester bemühte sich unbeteiligt zu klingen, konnte aber die aufkeimende Sorge in seiner Stimme nicht vollkommen unterdrücken.

„Das geht Euch nichts an. - Vater“ Heinrich klang abweisend; und auch die angefügte ehrerbietige Anrede konnte nicht über den hochfahrenden Ton hinwegtäuschen, der den Priester ebenso verletzen musste wie das mangelnde Vertrauen seines Schützlings. Dennoch bemühte sich Angelico mit bedächtiger Ruhe auf seinen ehemaligen Schüler einzuwirken: „Ich bitte Euch, überlegt Euch gut, was Ihr tut. Ihr tragt Verantwortung nicht nur für Euch selbst, sondern für jeden Einzelnen in diesem Land. Wenn Ihr einen Fehler begeht, werden am Ende alle damit leben müssen.“

Verärgert runzelte Heinrich die Stirn, „dann solltet Ihr verstehen, dass ich nicht mit einer Frau leben kann, die mir zur Plage wird. Wie soll ich für die Bewohner meines Landes sorgen, wenn ich nicht einmal für mein eigenes Wohlbefinden Sorge tragen kann?“

Angelico schien darauf keine Antwort zu wissen, musterte nur für einen Moment das Gesicht des Fürsten, das eine neue Art von Entschlossenheit erkennen ließ, die keinem Argument des Priesters zugänglich sein würde; so verneigte sich der Geistliche am Ende nur höflich, dem Fürsten eine gute Nacht wünschend, ehe er sich mit dessen Einverständnis zurückzog und Heinrich seinen eigenen Gedanken überließ.
 

Während am nächsten Morgen Fra Angelico ein weiteres Mal sein Pferd bestieg, um den Fürsten bei der Jagd zu begleiten, hatte Johanna nach vier Tagen, an denen sie Morgens ihr Pferd bestieg, den Tag über in Begleitung des Priesters, gefolgt von ihrem hauptmännischen Gardeschatten, durch den Wald ritt und schließlich am Nachmittag ermüdet und ungehalten in die Burg zurückkehrte, um den Rest des Tages zusammen mit ihren Damen in ihren Gemächern zu verbringen, schlicht keine Geduld mehr dieses Programm einen weiteren Tag durchzustehen. Wenn es ihrem Verlobten gestattet war, sich ungestraft zu absentieren, sollte es ihr ebenso gestattet sein, sich in der vor den Toren der Burg gelegenen Stadt ein wenig genauer umzusehen als das bei ihrer Anreise möglich gewesen war.

So ließ die Prinzessin an diesem Morgen die Jagd Jagd sein und begab sich stattdessen in die Stadt, es genießend nach all der Zeit auf dem Pferderücken endlich einmal wieder auf eigenen Füßen zu laufen. Noch mehr hätte sie diesen Ausflug genossen, wäre sie in der Lage gewesen ihn allein zu unternehmen, um so zumindest für kurze Zeit den mitleidigen Blicken ihrer Bediensteten zu entkommen.

Der Hauptmann hatte jedoch in ruhiger Entschiedenheit darauf bestanden sie zu begleiten, da es seine Pflicht sei für ihre Sicherheit zu sorgen. Clementia dagegen hatte die vergangenen Tage ausschließlich in der Burg verbracht, um Clarissa Gesellschaft zu leisten, der Johanna einen weiteren Ritt ersparen wollte, so war es diese der drei Damen, die am inständigsten darum bemüht war, Johanna deutlich zu machen, dass es nicht schicklich wäre, ginge sie vollkommen auf sich gestellt in die Stadt. In seltener Einigkeit stimmte Clarissa ihr bei, auch wenn ihr weniger daran lag in die Stadt zu kommen als ihrer Gesellschafterin der vergangenen Tage. Allein Carlotta, die doch sonst stets neugierig war auf alles Neue und leicht zu begeistern, schien von der Idee, die Stadt anzusehen, ganz und gar nicht angetan. Stattdessen wäre sie lieber weiter auf die Jagd geritten, scheute sich jedoch davor, ihren Wunsch offen zu äußern, sondern schwieg die meiste Zeit, während die beiden Älteren mit Johanna verhandelten, die sich schließlich mit einem Seufzen geschlagen gab und sich dem Willen ihrer Damen fügte.

Auf dem Weg hinab in die Stadt war Carlotta deutlich stiller als sonst, sodass Clarissa versuchte sie aufzuheitern, indem sie freundlich das Gespräch auf den Grafen lenkte, der die Gedanken der jüngsten Hofdame so offenkundig gefangen hielt. Mit neuerwachtem Feuereifer begann Carlotta von den unzähligen Vorzügen Stuorra-Jounis zu berichten, wobei er selbst noch an Größe gewann, sein Pferd noch feuriger wurde, Hetzjagden gewagter und die Beute noch reicher wurde als sie tatsächlich gewesen war. „Wenn er auch noch übers Wasser wandeln könnte, wäre er zweifellos vollkommen und ich würde ihn für eine griechische Gottheit halten“, bemerkte Clementia trocken als Carlotta einmal Atem holte. „Oh, aber er kann übers Wasser laufen“, erwiderte die kleinste der Damen prompt im Brustton der Überzeugung und fügte angesichts der Skepsis in den Mienen der beiden älteren Frauen mit einem kecken Lächeln hinzu: „Solange er weiß, wo im Wasser die Steine sind.“ Das fröhliche Lachen der Drei sorgte dafür, dass Johanna sich neugierig nach ihnen umsah und wissen wollte, warum sie lachten. „Wir haben gerade herausgefunden, dass Stourra-Jounis wahrhaft vollkommen ist“ klärte Clementia die Prinzessin bereit willig auf und sorgte damit für einen verdutzten Gesichtsausdruck bei dieser, ehe sie mit einem Kopfschütteln murmelte: „Dann kann das Paradies ja nicht mehr weit sein“, sich anschließend wieder ihrem Gespräch mit dem Hauptmann widmend. Sie war der Meinung gewesen, dass, wenn dieser Mann ihr schon auf Schritt und Tritt folgte und sie kaum jemals aus den Augen ließ, sie zumindest ein wenig mehr über seine Person wissen sollte als das er auf den Namen Nikodemus hörte, eine bemerkenswert dunkle Hautfarbe und unmodisch kurzes Haar von stumpfer brauner Farbe besaß.

Waren ihre Nachfragen zunächst hauptsächlich höflicher Natur gewesen: Wie lang er schon in der Garde ihres Vaters diente, was er zuvor getan habe und woher er käme, hatten seine Antworten echtes Interesse geweckt und sie begonnen eine ganze Reihe von Fragen darüber zu stellen, wo überall er bereits gewesen war, was er gesehen hatte, welche Meinung er zu einzelnen Dingen, die er gesehen hatte, einnahm – kurz, sie zeigte eine schon beinahe unhöflich ungezügelte Wissbegierde an den Erlebnissen des Hauptmanns.

War Nikodemus zunächst über so viel unverhohlene Aufmerksamkeit sichtlich erstaunt, begann er schließlich doch ausführlich und detailliert von seinen Reisen zu berichten, als er bemerkte mit welch gespannter Neugierde die Prinzessin seinen Worten lauschte und wie sich bei seinen Erzählungen ein sehnsüchtiger Ausdruck in ihr Gesicht stahl, bis sie schließlich mit einem Lächeln bemerkte: „Gegen Ihre Reisen nehmen sich Handarbeiten und Musikstunden so langweilig aus, dass ich Sie um ihre Freiheit zu gehen, wohin der Wind Sie treibt, ernsthaft beneide.“

„Das liegt daran, dass Ihr bisher nur von den angenehmen Seiten gehört habt, Prinzessin. Wenn Ihr wüsstet wie es ist, hungrig und nass bis auf die Knochen vergeblich nach einer Herberge zu suchen, wärt Ihr sicherlich schon nicht mehr ganz so abenteuerlustig.“

„Haben Sie denn oft solche Unannehmlichkeiten auf sich nehmen müssen?“, erkundigte sich Johanna neugierig, erhielt jedoch vorerst keine Antwort darauf, da in diesem Moment eine gebeugte und in Lumpen gehüllte Gestalt, auf einen knorrigen Ast gestützt, so schnell sie konnte aus einer der schmalen Gassen heraus und an der Prinzessin und ihrem Begleiter vorüber humpelte, unwissentlich deren Aufmerksamkeit auf sich lenkend.
 

Immer wieder wandte die Gestalt, trotz der Hast, mit der sie sich offensichtlich bemühte vorwärts zu kommen, angstvoll den Blick hinter sich, augenscheinlich bemüht den ihr aus der Gasse folgenden Menschen zu entkommen.

Es zeigte sich nur allzu schnell, dass die Bemühungen der Lumpengestalt vergebens waren, als sie von ihren Verfolgern eingeholt und johlend in die Enge einer Häuserecke getrieben wurde. Ängstlich kauerte sich der Krüppel zusammen, in dem Bemühen seinen Peinigern so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, im Stillen nur noch darum betend, dass es bald vorbei sein möge und er anschließend noch im Stande sich fortzubewegen, während er in einer Mischung aus Angst und Resignation auf die ersten Geschosse faulen Gemüses wartete, die stets nur den Anfang dieser Tortur darstellten.

Doch statt des erwarteten Gemüses vernahm er auf einmal eine energische Frauenstimme, die sehr bestimmt erklärte, dass seine Peiniger ihn auf der Stelle in Ruhe zu lassen hätten. Vorsichtig hob die Gestalt in Lumpen ein wenig den Kopf, um herauszufinden, wer da so verrückt war, ihm, dem verabscheuten Krüppel und Außenseiter, zu Hilfe zu kommen. Alles, was er erkennen konnte, war der Rücken einer in feines Tuch gekleideten Dame mit leuchtend fuchsrotem Haar, der es irgendwie gelungen war, sich zwischen ihn und seine Verfolger zu drängen und die nun von diesen Leuten dümmlich und ungläubig begafft wurde.

Als die Gruppe seiner Peiniger auch nach einer Weile noch keine Anstalten machte sich zu zerstreuen, sondern im Gegenteil immer noch Leute neugierig herzu strömten, um herauszufinden, was da im Gange war, und zugleich Andere es wagten der Frau zu widersprechen, indem sie murrten: „Aber das ist der Stotterkrüppel, wenn der einmal in der Stadt ist, bringt er nur Unglück!“ oder „Mischt Euch nicht ein, der Welsche ist hier nicht gern gesehen! Wir werden ihn aus der Stadt treiben, wie er es verdient!“ und ähnliches mehr, stützte die zweifellos wahnsinnige Frau herausfordernd die Hände in die Hüften, hob in herrischem Trotz das Kinn und erklärte entschlossen: „Wenn ihr es wagt, ihm etwas anzutun, dann werde ich es euch mit gleicher Münze zurückzahlen lassen!“

„Ihr beschützt den Krüppel?!?“ Johanna konnte nicht ausmachen, wer aus der Menge die Frage gestellt hatte, aber der Tonfall bereitete ihr Unbehagen. Dennoch blieb sie entschlossen bei ihrem einmal eingeschlagenen Weg, blickte in die Richtung, aus der die Frage gekommen war und erwiderte klar und deutlich: „Das werde ich.“ Bei dieser Antwort wurde unruhiges Gemurmel laut. Während sich die Einen, angesichts der Kleidung Johannas und ihrer scheinbaren Selbstsicherheit, verunsichert zurückzogen, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten, erklärten Andere laut, dass solche wie Johanna und ihre Begleiter doch gar nichts mit einem wie dem Welschen anfangen konnten. Wieder Andere meinten: „Vielleicht ist sie ja eine Hexe, die gekommen ist, ihren Satansbalg zu schützen.“ Diese letzte Bemerkung schien mehr und mehr Zustimmung unter den Leuten zu finden, denn immer deutlicher war das Wort „Hexe“ zu vernehmen, während die Stimmung zunehmend bedrohlich wurde.
 

Carlotta war zusammen mit Clarissa und Clementia ein wenig verspätet eingetroffen und hatte zunächst ebenso wie die anderen beiden Damen geschwiegen, nicht gleich wissend worum es ging. Bei dem Wort „Hexe“ schnappte die temperamentvolle junge Frau empört nach Luft, versuchte jedoch noch sich zu beherrschen als sie die mahnend beruhigende Hand Clarissas an ihrem Arm spürte. Allerdings war ihrem Bemühen nur ein kurzer Erfolg beschieden, dann siegte ihr Gerechtigkeitssinn. Sich von Clarissas Arm befreiend stellte sie sich neben die Prinzessin und erklärte den Leuten sehr energisch: „So einen Unsinn können auch nur ungebildete Bauerntrampel glauben! Prinzessin Johanna ist ganz sicher keine Hexe! Und wenn sie erst mit dem Fürsten verheiratet ist, werdet ihr schon sehen, wie ungerecht ihr euch gerade verhalten habt!“

‚Ach du liebe Güte’ fuhr es Johanna durch den Kopf als sie diese zu ihren Gunsten gehaltene Rede hörte und verzog unwillkürlich das Gesicht zu einer Grimasse aus Unbehagen und Verlegenheit, ehe sie erleichtert feststellte, dass der empörte Ausbruch Carlottas die Leute nicht nur zum Schweigen gebracht hatte, sondern sich erneut einige der Leute auf und davon machten, um keinen Ärger zu bekommen.
 

Der Hauptmann unterdessen behielt misstrauisch die versammelten Städter im Auge, die Hand griffbereit am Schwert. Im Laufe des Geschehens hatte er sich so nah wie möglich neben die Prinzessin gestellt, um sie im Ernstfall rechtzeitig verteidigen zu können. Zugesagt hatte ihm die ganze Sache von Anfang an nicht und die unerfreuliche Entwicklung von schlecht zu katastrophal schien ihm Recht zu geben. Nikodemus konnte nur hoffen, dass es ihm im Notfall gelingen würde, die Prinzessin in Sicherheit zu bringen, ohne dass sie ernsthafte Blessuren davontragen würde.

Unterdessen schien es jedoch, als würden seine schlimmste Befürchtungen doch nicht eintreten, sondern sich die Städter eines Besseren besinnen. Das kurze ungläubige Schweigen hatte sich in verunsichertes, halblautes Murmeln gewandelt, während sich wieder Einige verlegen entfernten, andere von Johanna eine Bestätigung wollten, dass diese tatsächlich die Verlobte des Fürsten sei. Auf Johannas ein wenig gequält wirkende Bestätigung hin, entschuldigten sich die Bürger wortreich und mit tiefen Kratzfüßen bevor sich auch die Letzten von ihnen zielstrebig davonmachten, um nicht doch noch den Zorn der Prinzessin auf sich zu ziehen, man wusste ja nie, wie diese Aristokraten im nächsten Moment reagieren würden.
 

Johanna atmete erleichtert auf, als die Menge sich allmählich zerstreute, und drehte sich anschließend zu dem im Staub liegenden Bündel Lumpen herum, dessentwegen sie sich mit den Städtern angelegt hatte, betrachtete das sich noch immer verängstigte gegen die Hauswand drückende Häufchen Elend unschlüssig und fragte schließlich mit einem Seufzer ihre Begleiter: „Was machen wir jetzt mit ihm?“

Vier Augenpaare sahen sie gleichermaßen verblüfft an, ehe sich Nikodemus behutsam erkundigte: „Habt Ihr Euch das nicht vorher überlegt?“

„Nein, habe ich nicht“, erwiderte Johanna ein wenig ruppig. Verärgert über die, ihrer Meinung, unnötige Nachfrage, gleichzeitig verlegen angesichts ihrer eigenen Gedankenlosigkeit und bemüht sich diese Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Dennoch fügte sie als entschuldigende Erklärung hinzu: „Dafür blieb keine Zeit.“

„Nun, Ihr habt den Leuten gesagt, dass er zu Euch gehört. Also sollten wir ihn wohl besser mitnehmen, bis Ihr eine Entscheidung getroffen habt, was Ihr mit ihm zu tun gedenkt“, schlug Clarissa mit sanfter Stimme und freundlichem Blick vor, bemüht einen Streit zu verhindern. Zustimmend nickte Johanna, dachte einen Augenblick nach, den Blick wieder auf das zerlumpte Bündel Mensch vor sich gerichtet, und erteilte gleich darauf Anweisungen wie ein General. Clementia sollte in die Burg vorausgehen und dafür sorgen, dass genug Wasser heiß gemacht wurde, um den Jungen gründlich zu reinigen, stank er doch zum Gotterbarmen. Carlotta und Clarissa sollten unterdessen einen Eselskarren oder Ähnliches auftreiben, in dem der Krüppel zur Burg gefahren werden konnte, ohne dass er seine Wohltäter unnötig auf dem Rückweg aufhielt. Nikodemus schließlich blieb, ganz im Sinne seines Auftrages, den er von Fürst Georg erhalten hatte, an der Seite Johannas, damit diese für den Fall, dass die Städter es sich anders überlegten und zurückkehrten, um die Hexe und ihr Balg zu jagen, nicht schutzlos ausgeliefert wäre.

Während die Prinzessin anschließend zusammen mit dem Hauptmann auf die Rückkehr Clarissas und Carlottas wartete, versuchte sie etwas über den jüngsten Zuwachs ihres Gefolges in Erfahrung zu bringen. Da die Städter den Krüppel einen Welschen genannt hatten, galt es zunächst einmal herauszufinden, welche Sprache er verstand und ob er überhaupt sprechen konnte oder ob sie einen anderen Weg finden mussten, sich mit ihm zu verständigen. Zu Johannas Erleichterung nickte der Junge nach einer Weile vorsichtig auf die Frage, ob er verstünde, was sie sagte. Auf diese Weise ermutigt, erkundigte sich die Prinzessin als nächstes, wie der Junge heiße. Wieder starrte der Krüppel die junge Frau aus großen Augen eine Weile an, ohne irgendwie zu reagieren, dann jedoch öffnete er den Mund und bemühte sich die Frage zu beantworten.
 

Er gab sich alle Mühe so gut zu sprechen wie er konnte. Er verstand nicht, warum diese Dame beschlossen hatte ihn, ausgerechnet ihn, zu beschützen und hatte zugleich eine unbestimmte Angst davor, was wohl nun mit ihm geschehen würde. Vielleicht hatten sie vor ihn bei lebendigem Leib zu kochen? Warum sonst sollte eine der Frauen Wasser heiß machen lassen? Andererseits wirkte die Frau mit den fuchsroten Haaren kein bisschen böse oder gemein. Sie sah ihn tatsächlich freundlich an und schien geduldig darauf zu warten, dass er ihr antwortete, ohne darüber in Wut zu geraten, dass er nicht sofort etwas erwiderte und ihn dafür zu schlagen.

Sie hatte ihn vor der Quälerei der Städter beschützt. Ihr seinen Namen zu nennen, als Dank dafür vor faulem Gemüse, harten Schlägen und schmerzhaften Tritten bewahrt worden zu sein, konnte doch sicher nicht falsch sein. Und so bemühte er sich. Bemühte sich so sehr, dass sein unter dem Schmutz bleiches, eingefallenes Gesicht bei dem Versuch rot anlief, während er schmerzlich darum kämpfte seine Zunge dazu zu bekommen, dass zu tun, was er wollte. Aber sie machte ihm schon das Leben schwer, wenn er nicht verfolgt wurde. Jetzt, wo er noch die letzten Nachwehen der Angst in seinem Körper spürte, zugleich von dem Handeln der feinen Dame verwirrt war und verunsichert darüber, was nun mit ihm geschehen sollte, gehorchte ihm dieses launische Stück Fleisch in seinem Mund erst recht nicht. Seine Zunge verhedderte sich allein bei dem Versuch seinen Namen zu formen bereits zwischen seinen Zähnen, während er schließlich mühsam das Wort „Gianni“ herausbrachte, dass durch sein Stottern beinahe zur Unkenntlichkeit entstellt wurde und regelrecht in den Ohren schmerzte. Erschöpft und gedemütigt ließ Gianni den Kopf hängen, sicher, dass die rothaarige Dame ihn nun ebenso verachten würde wie die Städter es taten. Stattdessen schob sich plötzlich zunächst die Spitze eines ledernen Schuhs und dann der dunkle Saum eines kostbaren Kleides in sein Blickfeld, während er gleich darauf eine Hand auf seiner Schulter spürte, die in unwillkürlich zusammenzucken ließ, ehe die Dame mit leiser Stimme erklärte, die nur für ihn bestimmt war und in der ein freundliches Lächeln mitschwang: „Es muss wohl Schicksal sein, dass wir uns begegnet sind. Du trägst den gleichen Namen wie ich.“

Völlig überrumpelt hob Gianni bei diesen Worten ruckartig den Kopf und starrte die Frau vor sich an. Wie konnte sie noch so vergnügt wirken, wenn sie doch den Namen mit einer verabscheuungswürdigen Kreatur wie ihm teilen musste? Sie konnte einfach nicht bei klarem Verstand sein, anders ließ sich das nicht erklären. Aber, oh wie inständig hoffte Gianni plötzlich, dass diese Frau ihren Verstand für immer verloren hatte, dann könnte er vielleicht bei ihr bleiben und brauchte nicht mehr auf der Flucht zu sein. Die aufkeimende Hoffnung Giannis erhielt neue Nahrung, als zwei der Damen, die seine Retterin begleitet hatten, tatsächlich mit einem kleinen Karren, vor den ein Maultier gespannt war, zurückkehrten und der Mann, der offenbar ihr Beschützer war, Gianni dabei half in den Karren zu klettern.

Im nächsten Augenblick setzte sich der kleine Tross in Richtung Burg in Bewegung, heimlich mit der größten Verwunderung von den Städtern beobachtet: Eine Prinzessin, die neben einem Eselskarren herlief, in dem ein Krüppel saß. So etwas hatte diese Stadt noch nicht gesehen – und wohl auch sonst niemand.
 

Im Schloss angekommen, trug Clementia nicht nur dafür Sorge, dass Gianni ausgiebig und gründlich geschrubbt wurde, bis er vor Sauberkeit fast schon glänzte, sondern auch dafür, dass er bessere – und vor allem saubere – Kleidung erhielt, während die alte, zusammen mit dem knorrigen Ast, ein Opfer des Feuers im Küchenherd der Burg wurde. Als krönenden Abschluss des Unternehmens den Krüppel vorzeigbar zu machen und als weiterer Beweis für das umsichtige Organisationstalent Clementias, erhielt Gianni eine vom Schreinermeister der Burg nach Maß angefertigte Krücke. Ehrfürchtig bewunderte der Junge diese zunächst, bevor er sie schließlich so vorsichtig ausprobierte, als wäre sie aus Glas und könnte jeden Moment unter seinem Gewicht zerbrechen. Noch ganz verwirrt und verunsichert von der ganzen neuen Pracht, in der er nun erstrahlte, wurde Gianni schließlich zu den Gemächern Johannas geführt und betrat mit trockener Kehle und nervös klopfendem Herzen auf Clementias Aufforderung hin das Zimmer der Prinzessin.
 

Geduldig hatte Johanna auf die Ankunft Giannis gewartet, nachdem sie mit ihrer eigenen Toilette fertig war und sah mit einer gewissen Neugier zur Tür, als Clementia ihr ankündigte, der Junge wäre nun so weit. Verblüfft starrte die Prinzessin im nächsten Moment in das engelsgleiche, von dichten, dunkelbraunen Locken umrahmte Gesicht des Jungen. Man sah ihm die Entbehrungen, die er gelitten hatte, noch immer an, aber der Schönheit des Antlitzes konnte das keinen Abbruch tun. Es ließ sich wohl kein größerer Gegensatz zwischen Kopf und Körper denken, als dieser Junge ihn aufwies. Es schien, als hätte die Natur sämtliche Makel des Körpers versucht mit einem Gesicht auszugleichen, dessen Vollkommenheit in der Lage war zu Tränen zu rühren.

Es dauerte einen Augenblick ehe sich Johanna von diesem unerwarteten Anblick erholt hatte, während Clementia dem Jungen die Anweisung zu raunte, er solle sich verneigen. Mit einem freundlichen Nicken nahm Johanna die linkisch abgehackt wirkende Referenz entgegen, ehe sie auf einen Hocker wies und befahl: „Setz dich.“

Zögernd folgte Gianni der Aufforderung, verunsichert zwischen seiner unerwarteten Gönnerin und den anderen vier Frauen im Zimmer hin und her sehend.

Nachdem Johanna sich dem Jungen gegenüber niedergelassen hatte, erklärte sie: „Du wirst als Page bei mir bleiben. Ruth wird dir alles Notwendige beibringen und dir helfen. Solang du dir Mühe gibst und nicht versuchst mich zu hintergehen, denke ich, werden wir gut miteinander auskommen.“

Wieder starrte Gianni eine Weile die Prinzessin mit großen Augen ungläubig an, während Ruth, die bei der Nennung ihres Namens ein wenig vorgetreten war, damit der Krüppel wusste, wer sie war, ihm ungeduldig zu zischte: „Sag was! Du musst dich bedanken!“ Statt dieser Anweisung zu folgen, nickte Gianni nur so heftig mit dem Kopf, dass es beinahe wirkte, als würde dieser jeden Moment herunterfallen. Johanna lächelte bei diesem Anblick belustigt, bevor sie freundlich ergänzte: „Gut, dann sind wir uns einig“, sich während ihrer weiteren Worte erhebend und bereits Richtung Tür gehend: „Du wirst zusammen mit Ruth essen, bevor sie dir zeigt, wo du schläfst.“ Sie hatte bereits die Tür erreicht und wollte das Zimmer gerade zusammen mit ihren drei Damen verlassen, als Gianni all seinen Mut zusammennahm und in einer Mischung aus Neugier und Sorge mühsam hervor stotterte: „W-w-w-wohin?“ Ruth hatte bereits den Mund geöffnet um den Jungen erneut zurecht zuweisen, während Johanna einen Moment brauchte, um herauszufinden worauf ihr neuer Page hinaus wollte, dann jedoch hob sie für Ruth bestimmt beschwichtigend die Hand und fragte an Gianni gewandt: „Wohin ich gehe?“ Und als ihr das Nicken des Jungen bewies, dass sie richtig vermutet hatte, erwiderte sie mit einem Lächeln: „In die Halle. Ich werde dort zum Abendessen erwartet“, damit endgültig den Raum verlassend.
 

Sobald auch die drei Hofdamen gegangen waren, Ruth und Gianni allein lassend, baute sich das Mädchen in voller Größe vor dem noch immer auf seinem Hocker sitzenden Jungen auf, stemmte die Hände in die Hüften und starrte Gianni aus zornig blitzenden Augen an. „Du hast vielleicht ein hübsches Gesicht, aber glaub bloß nicht, dass sie dir alles durchgehen lassen wird! Tu was ich dir sage und du wirst vielleicht bei uns bleiben können, aber trau dich bloß nicht mir meinen Platz streitig zu machen! Ich bin ihre Zofe und du nur ein Krüppel, also leg dich ja nicht mit mir an!“

Schweigend hatte Gianni diesem wütenden Ausbruch zugehört, ohne sich zu verteidigen oder auch nur den Versuch zu machen etwas zu erwidern.

Sobald Ruth ihre Tirade beendet hatte, verschränkte sie trotzig die Arme und starrte Gianni grimmig an, der verunsichert und eingeschüchtert den Blick senkte, sich verängstigt fragend, ob er es nun statt mit bösartigen Stadtbewohnern mit einer teuflischen Zofe zu tun bekäme.

Statt der erwarteten Hasstiraden und Schikanen, hörte er plötzlich wie Ruth ruhiger geworden in brummiger Ungeduld erklärte: „Komm schon, Hinkebein. Die Prinzessin hat gesagt, du sollst was essen.“

Überrascht sah Gianni auf, wann war sie denn zur Tür gegangen? Angesichts der griesgrämigen Miene Ruths und seines knurrenden Magens, schob er die Frage unbeantwortet zur Seite und beeilte sich nur auf die Füße zu kommen, um der Zofe zu folgen, die sich auf den Weg in die Küche gemacht hatte, zu hungrig um noch länger auf den offenbar nur langsam begreifenden Jungen zu warten.

Ihm alles Notwendige beizubringen, würde ganz schön schwierig werden. Was hatte sich die Prinzessin nur dabei gedacht ihr diesen Krüppel aufzudrängen? Wenn sie mit der Arbeit ihrer Zofe nicht zufrieden war, hätte sie es doch auch sagen können und ihr nicht einfach einen dahergelaufenen Vagabunden aufhalsen müssen, der mehr Ärger als Nutzen bringen würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Teilchenzoo
2011-02-27T16:14:48+00:00 27.02.2011 17:14
Achje, die Geschichte gewinnt ja immer mehr an Vielschichtigkeit und damit auch an Problemen.

Mir gefällt sie immer mehr, und du kannst liebend gern noch heute das nächste Kapitel fertig schreiben ;).

Eine interessante Entwicklung, die die Geschichte da nimmt, und ich bin gespannt, was noch folgen wird.

Es gefällt mir, wie du die Probleme, Charaktere und Handlung sich langsam entfalten lässt.

Lg neko


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