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Das Mollproblem

Dreiklang
von

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Januar 1888

Das Chez Jean war eines der am besten besuchten Speiselokale Londons. Wer hier speisen wollte, musste tief ins Portemonnaie greifen können, etwas, das Leon an diesem Abend wieder würde tun müssen und zwar für zwei Personen. Er freute sich ungemein darauf, Louise wiederzusehen. Ihre Gesellschaft war angenehm, ihr Auftreten so entzückend. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen als er an sie dachte und noch deutlicher wurde es als die Kutsche an dem Anwesen der Familie Ellis hielt. Schwungvoll stieg er aus dem Gefährt, schloss die Tür, während sein Blick auf das vornehme Haus gerichtet war, ehe er auf dieses zuzustolzieren begann. Mit einer eleganten Handbewegung öffnete er das kleine Tor, welches er, wenn es nach seinem Befinden ginge, glatt hätte überspringen können. Mittlerweile hatte der Opernleiter sich in seine neue Arbeitsumgebung eingelebt und sich an viele seiner Tätigkeiten gewöhnt. Sein Aufgabengebiet erschien ihm bereits um einiges übersichtlicher und die nervenaufreibendsten Angelegenheiten waren endlich überstanden. Wahrscheinlich würde sich das jedoch bald wieder ändern, wenn die Oper mit einer Premiere anlockte, bei der sich auch gleich deren neuer Star würde beweisen müssen. Aber daran vermochte der junge Mann noch nicht tiefergehend zu denken, schon gar nicht an einem Abend wie diesem. Mit einer geraden Körperhaltung und gespannter Erwartungen, läutete er an der Tür, deren Aufmachung freundlich und einladend wirkte. Nicht nur sie zeugte mit ihren aufwendigen Verzierungen und hochwertiger Verarbeitung von Wohlhaben und apartem Geschmack. Balustraden schmückten die Fassade und erinnerten ihn an sein eigenes Heim. Prüfend fuhr er sich mit seiner Hand durch sein helles Haar. Als sich die Tür schließlich öffnete, hob er seinen Blick und sah der jungen Hausdame direkt ins Gesicht. „Guten Abend.“ Sein Lächeln wurde sofort, wenn auch mit höflicher Zurückhaltung, erwidert. In seinen Augen hatte die junge Frau ihm gegenüber etwas Scheues an sich, sie traute sich ja noch nicht einmal, ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Aber ein schüchternes Lächeln schien immer ihre Miene zu besetzen, soweit er das beurteilen konnte. Es war jetzt das fünfte Mal, dass er Louise von Zuhause abholte.

„Guten Abend, Mr. Kennedy… Miss Ellis ist gleich soweit. Bitte, kommen Sie doch einen Moment herein.“ Sie machte einen Schritt zur Seite und öffnete die Tür noch ein weiteres Stück.

„Danke sehr.“ Warmherzig lächelnd betrat er das Gebäude, dachte sogar noch daran, vorher seine Schuhe ordentlich an der Fußmatte abzutreten.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

Unmissverständlich schüttelte er seinen Kopf. „Aber danke, das ist sehr reizend von Ihnen.“ Nachdem er ihr schüchternes Lächeln sehen konnte, schweifte sein lebendiger Blick von ihr ab und überflog guter Stimmung die schicke Einrichtung des Hauses. Wenige Sekunden später, also noch bevor Leon sich nach Louise‘ Eltern erkundigen konnte, hörte man, wie sich eine Tür öffnete und geschlossen wurde. Der junge Mann sah sich über die Schulter, damit seine Augen aufmerksam nach oben zu der breiten Treppe schnellen konnten, wo Louise in schicker Garderobe gerade ihre Hand ans Geländer legte. Mit einem ihrer strahlendsten Lächeln schaute sie zu ihm hinunter. Eine Reaktion, die ihn förmlich ansteckte und ihn nicht anders handeln ließ als von Ohr zu Ohr zu grinsen.

„Guten Abend.“

„Guten Abend… Du siehst hinreißend aus…“, gestand er ihr als sie auf Augenhöhe war und ihm die Hand reichte, die er nonverbal forderte. Es war ehrlich gemeint, auch wenn sie nicht unbedingt das erste Mädchen war, von der er so etwas behaupten konnte. Offensichtlich geschmeichelt senkte sie mit einem lieblichen Lächeln für einen Augenblick ihre Augenlider, ehe sie beide einen dezenten Handkuss wie aus dem Bilderbuche und einige Worte später das Gebäude verließen. Leon hatte großen Gefallen daran, sie zum Essen auszuführen, ihre Hand zu halten und sie zu führen, so als könnte nur er sie auf dem richtigen Weg halten. Es fühlte sich gut an, der Gentleman an ihrer Seite zu sein, ihr die Gartentür zu öffnen und ihr beim Einstieg in die Kutsche zu helfen. Louise war unkompliziert und vielschichtig zugleich. Zu tiefgründig durfte eine Frau auch nicht sein, denn dem jungen Mann fehlte es an Interesse und Neugier für derlei Belange. Er brauchte eine Frau, die er einfach lieben und versorgen konnte, genauso wie sie ihn lieben und umsorgen konnte. In seinen Augen waren es die einfachen Dinge im Leben, die man am meisten schätzen konnte und die eindeutige Gefühle und Reaktionen herbeiführen konnten und Louise schien ihm genau in dieses Bild hineinzupassen. Er spürte es einfach.

Nachdem sich nun auch Leon in die Kutsche gesetzt hatte, fuhr das Gefährt langsam los. Mit einem aufmerksamen Blick wandte er sich ihr zu. „Du wirkst müde.“

Ihr Mund schwang sich zu einem charmanten Lächeln und ihre Augen kreuzten die seinen. „Kein Grund zur Sorge. Ich bin nur von der heutigen Probe erschöpft. Das ist alles.“

„Wie läuft es eigentlich?“

„…gut.“ Als hätte draußen etwas ihre Aufmerksamkeit erregt, blickte sie von seinem Gesicht weg und nun aus dem Fenster.

„…“ Schweigend betrachtete Leon sie weiterhin und er musste sich nicht lange wundern, bis er wusste, dass es draußen absolut nichts Spannendes geben konnte. Ihm schien es deutlich, dass sie nicht über die Proben reden wollte, was auch immer die Gründe dafür sein mochten. Er sprach um ehrlich zu sein auch nicht gerne über seine Arbeit, wenn sie wieder mal stressige Eigenschaften annahm. Leon ließ es bei Gedanken sein und hackte nicht nach. Lange währte das Schweigen jedoch nicht.

„Wie läuft es eigentlich?“, hörte er sie sagen und selbst in ihrer Stimme konnte er ihr Schmunzeln heraushören.

„…?“

„Ja, du hast mir doch erzählt, dass du eine Menge Unterlagen durchzuarbeiten hast? Dein Vater war doch Chaot. Deine Worte.“

Sofort steckte sie ihn mit ihrem Lächeln an. „Ja, das war er. Aber sein Chaos hat mich noch nie in die Knie gezwungen.“

„Sondern in nächtelange Arbeit?“

Ein dezentes Lachen ließ sich seinerseits nicht lange vermeiden. „Ich wusste gar nicht, dass du auch frech sein kannst…“

„Was hast du denn erwartet?“, hörte er nun auch sie etwas lachen und die Unbeschwertheit war nahezu greifbar.

„Dass du mich für meinen Intellekt und meine Arbeitsmoral lobst?“

„Wer sagt, dass ich das nicht auch tun kann?“

„Beides auf einmal geht nicht, Louise.“, machte er ihr in verschmitztem Ton klar und erheiterte sich an ihrer erfrischend leichten Art.

„Sagt dir das dein Intellekt?“

„Die Lebenserfahrung.“

Schließlich gab sie ihm die beste Antwort, die eine Frau ihm nur geben konnte: Sie lachte ein Lachen, das ihn alles um sich herum vergessen ließ.
 

Etwa zwei Stunden später fanden die zwei jungen Engländer sich wieder in der Kutsche. Es war ein Abend guten Essens und erquickender Gespräche gewesen. Die Zeit war vergangen als wäre der Sand vom Teufel durch die Sanduhr gejagt worden, viel zu schnell und dennoch prägnant genug, um in schöner Erinnerung zu bleiben.

„Oh, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viel gegessen habe.“, beklagte Louise sich mit einem amüsierten Gesichtsausdruck, nachdem Leon die Tür der Kutsche hinter sich geschlossen hatte.

Der junge Mann grinste sie an. „Vor eineinhalb Wochen?“

„Ja, das könnte hinkommen.“, lachte sie vergnügt und dachte offenbar auch an die letzten Male zurück als sie es sich bei Kerzenschein und traumhaften Ambiente hatten gut gehen lassen. Leon war froh, dass sie nicht zu den Mädchen gehörte, die sich im Restaurant nur mit Wasser und Salat begnügten, weil sie sich so Sorgen um ihre Figur machten. Louise schien einfach das zu essen, was ihr schmeckte und das ohne jegliche Bedenken. Schließlich fuhr die Kutsche langsam los. Draußen schienen die Sterne, es war frisch und selbst in dem überdachten Gefährt war man nicht vor der Kühle geschützt. Ein sichtbares Schaudern Louise‘ wollte dem blonden Mann nicht entgehen und wortlos wandte er sich der offenbar frierenden Person mehr zu. Es wirkte als wollte er etwas Bestimmtes von ihr, jedenfalls sah Louise ihn fragend an.

„Dir ist kalt.“, stellte er lediglich fest und schien sie mit seinem Blick stillschweigend zu etwas auffordern zu wollen. Sie sagte daraufhin nichts – wozu sollte sie diese Tatsache auch abstreiten wollen? – und rutschte nach kurzem Zögern zu dem Briten. Mit aller Selbstverständlichkeit legte er daraufhin seinen Arm um sie. Wirklich nervös sollte ihn dieser Körperkontakt nicht machen, schließlich war es nicht das erste Mal, dass er eine Frau zumindest so im Arm hatte und dennoch war es schon ein seltsam… aufregendes Gefühl diesem Mädchen so nahe zu sein und es auf diese Weise vor der Kälte zu schützen. Es fühlte sich gut an. Doch trotz dieses angenehmen Stillschweigens und Sinnierens über diverse Dinge, gab es noch etwas, das er momentan unbedingt wissen wollte. Er hatte es Louise angesehen. Im Restaurant. Irgendetwas beschäftigte sie gedanklich und das in Verbindung mit ihrer Müdigkeit brachte Leon auf eher sorgenvolle Gedanken. „Willst du mir nicht jetzt vielleicht sagen, was dich so nachdenklich stimmt?“

„…“ Er ließ sie noch nicht mal zur Antwort ansetzen, da er irgendwie ahnte, dass sie wieder behaupten würde, alles wäre in Ordnung. Mit ruhiger und verständnisvoller Stimme fuhr er fort: „Komm, ich bin doch nicht blind. Ich kann eins und eins zusammenzählen. Es sind die Proben, ich weiß es.“

Nun entwich ihr ein leises Seufzen. Wie sie sich leicht auf die Unterlippe biss, konnte er nicht sehen, doch ihre leise Stimme vernahm er dafür allzu deutlich. „…es ist nicht gerade einfach mit Mister Sauvignon…“

Dacht ich’s mir… „Ja, er ist sehr… eigen.“, umschrieb er ihn mit Bedacht, obwohl er eigentlich auch gleich damit herausrücken könnte, dass dieser Mann ihm selbst nicht der angenehmste war. Dennoch wollte er nicht schlecht über ihn sprechen. Sauvignon hatte ihm schließlich nichts angetan, er tat nur seine Arbeit und das auch sehr gewissenhaft und mit einer Leidenschaft, wie man sie sich für Sauvignons Posten nun mal wünschen konnte.

„Eigen? Nette Umschreibung.“

Nun musste Leon leicht seufzen. „Er ist der Beste in seinem Fach. Außerdem: Sind nicht alle Genies irgendwie… verschroben?“ Sicher waren die Proben nicht einfach mit dem Mann. Aber Leon wusste, dass eine Zusammenarbeit mit der Zeit nur besser werden konnte, so wie auch er selbst sich nun mit dem Mann und dessen Eigenheiten zu arrangieren wusste. Die Erfahrung hatte ihm in seinem jungen Leben gezeigt, dass man allen Dingen auf der Welt seine Zeit geben musste und wenn man geduldig wartete, ausdauernd dran blieb, dann wurde man reich belohnt.

„…ja, da magst du Recht haben.“, verließ es ihre Lippen, auch, wenn sie ihm damit noch immer nicht den Eindruck vermittelte, dass die Sache erledigt für sie war.

„Du gewöhnst dich schon noch an ihn. Irgendwo ist jeder Mensch umgänglich.“

„Nun, aufgeben werde ich schon mal gar nicht und das schränkt meine Handlungsmöglichkeiten auch schon auf eine einzige ein, nämlich: weiter machen.“

Diese klare Antwort brachte ihn zum Lächeln. Nicht erst jetzt kam ihm wieder der Gedanke, dass Louise eine kleine Kämpfernatur war – das musste man an dieser Stelle einfach erwähnen –, sie hatte bei ihren bisherigen Treffen schon oft dieses gewisse Etwas herausblitzen lassen, das ihm diesen Eindruck beschert hatte. Sie war ein hübsches Mädchen mit einer liebevollen Art, freundlich zu ihren Mitmenschen und hilfsbereit. Keinesfalls schien sie ihm ängstlich in neuen Situationen zu sein – allenfalls vorsichtig und wachsam. Doch was man wohl nicht auf den ersten Blick vermuten würde, wäre, dass sie eigentlich auch stark war. Nicht körperlich, sondern charakterlich. Geistig. Mit ihrem Willen würde sie vieles erreichen können. So wie ihre Vorgängerin. Etwas, das ihn auch als Opernleiter positiv in die Zukunft blicken ließ.

Schweigsame Minuten verstrichen, während die angezogene Kutsche sich Louise‘ Zuhause näherte und die Sterne am Himmel immer noch so unverändert weit entfernt schienen, wie zu Beginn der Reise. Leons Kopf war frei von schlechten Gedanken und Anstrengungen. Eine harte Zeit war es, die er hinter sich liegen hatte. Der Tod seines Vaters, die Übernahme der Opernleitung, neue Verantwortung, dutzende Menschen, die unzufrieden waren und den jungen Mann regelrecht mit ihren Klagen überfallen hatten. So viele neue Ereignisse und Probleme, mit denen er erst hatte zurechtkommen müssen. Er hatte sich wie ins kalte Wasser gestoßen gefühlt, doch am Ende hatte der Mann es geschafft. Dass der Tod seines Vaters ihm dabei noch nicht einmal so sehr zu schaffen gemacht hatte, wie alles andere, war eine Feststellung, die er interessant, jedoch nicht beunruhigend fand. Leon hatte seinen Vater geliebt und das würde er auch weiterhin. Bis in alle Ewigkeit.

Erst nach einigen Augenblicken fiel ihm auf, wie er Louise‘ Oberarm streichelte. Ein wenig gedankenverloren, doch dann ganz bewusst. Sein Gefühl sagte ihm, was zu tun war und er ergab sich diesen kleinen Befehlen in seinem Innern gerne. Sachte zog er sie noch ein wenig weiter zu sich – sie sollte sich wohl bei ihm fühlen und keine Befangenheit verspüren müssen, nur weil sie sich auch körperlich näher kamen. Sie legte ihren Kopf mit der Schläfe leicht an seinen und in jenem Moment musste der sonst so selbstsichere Mann sich eingestehen, dass er es mit dezenter Anspannung zu tun bekam. Er wusste ganz genau, wieso. Ihre Hand war kalt als er sie sanft in seine nahm und sie schließlich langsam an seine warmen Lippen führte, um sie zu küssen. Schon begann ihr Blick seinen zu suchen und somit befand sich ihr Gesicht seinem gegenüber. Ganz direkt konnte er ihr in ihre schönen klaren Augen sehen. Auch wenn es dunkel war, so konnte er sie klar vor sich sehen. Es war, wie wenn man seine Augen schloss, aber nicht nur Schwarz, sondern mit genügend Vorstellungskraft durchaus farbige Bilder sehen konnte.

Sein Gegenüber sah ihn schweigend an. Louise schien ihm so vertraut und so als kannte er sie schon seit Kindheitstagen. Das spürte er mit tiefverwurzelter Überzeugung und mit einem mindestens so tiefen Verlangen machte er auf einmal jegliche Distanz allmählich zunichte, um das Mädchen zu küssen, das Gefühle in ihm auslöste, die er sonst nur für Traumgespinste gehalten hatte. Doch sie war der Beweis, dass es wirklich möglich war: Ein so liebliches Geschöpf konnte jeden Mann, wie Leon einfach nur verzaubern. Jeden. Ihre Lippen auf seinen ließen ihn träumen und er wollte nicht mehr aufwachen.



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