Zum Inhalt der Seite

Zeitlos -♠-

100 Storys -1-
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier nun der zweite Teil meiner Avery-Story. :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Einander erkennen. Einander verbrennen - Jitterbug 2

Natürlich fuhr Avery nicht ins Krankenhaus. Madison wusste es. Sein Papa würde es wissen und die vier Vollidioten, die Madison als Wachposten vor ihr Haus gestellt hatte wie Pappfiguren, wussten es auch. Jeder war sich dieser Tatsache bewusst, mit Ausnahme von Christine selbst, die keuchend und hustend auf den Rücksitzen lag. Sie hatte sich alles Mögliche gebrochen und litt höchstwahrscheinlich an inneren Blutungen. Hatte einer der Knochen vielleicht ihre Leber durchbohrt? Oder die Milz? Oder eines der anderen Organe, die da irgendwo in der Bauchregion saßen?

Avery sah in den Rückspiegel und erfreute sich an dem Anblick der ekelhaft verdrehten Beine. An Christines linkem Fuß sah er ganz deutlich den hellen, rotgetränkten Knochen, der so unglücklich aus dem Fleisch hervorstach, dass man sogar als Laie feststellen konnte, dass diese Frau in den nächsten Monaten keinen einzigen Schritt tun würde. Aber diese Chance wollte Avery ihr ohnehin nicht gewähren.

Er drehte die Musik auf und fuhr knapp eine Meile, bis er die ersten Häuser erreichte. Dann bog er ein paar Mal ab, fuhr einen Berg hinunter und später an einer anderen Stelle wieder hinauf. Er bretterte über einen Feldweg, der in tiefes Waldgebiet führte, und hielt an dessen Ende an. Sobald die Radiomusik erstarb, ging das Geröchel wieder los. Avery verdrehte die Augen. Das war ja vielleicht nervig!

Er sieg aus dem Wagen, öffnete die Hintertür und zerrte das gekrümmte Bündel Mensch heraus. Die Hure war schwerer als erwartet. Erst versuchte er, sich Christine über die Schulter zu werfen, stellte dann aber fest, dass er dafür zu schwach und zu dünn war. Beinah hätte er sich selbst unter ihr begraben. Also entschied er sich für Plan B, packte sie an den Handgelenken und schleifte sie über den laubbedeckten Waldboden.

Nach etwa fünfzig Schritten war er so aus der Puste, dass ihm der Schweiß in die Augen perlte. Er musste sich eine Weile ausruhen, bevor er sie weiter zerren konnte.

Schließlich erreichte er die kleine Holzhütte, die sich im Wald versteckte und die niemand kannte, der nicht durch Zufall daran vorbeigelaufen war oder Averys Familie angehörte.

Sein Vater hatte sie vor Jahren selbst gebaut, als Ruhepunkt in seinem Leben. Manchmal kam er hierher und setzte sich auf die Veranda. Er saß dann einfach nur da, den Hut tief ins Gesicht gezogen und ließ sich von dem Wind und der Stille und dem Vogelgezwitscher in den Schlaf wiegen. In diesem Teil Albornes war niemand, die Gegend wie ausgestorben. Deswegen kam sein Vater so gerne her. Früher aus anderen Gründen als heute. Früher kam er, um seinen Söhnen zu zeigen, dass das Leben auch ohne die geliebte Mutter weiter geht. Heute, um Abstand zu bekommen von Madison, Hy, Avery, den Mitarbeitern, die ständig ums Haus herumliefen und Wache hielten, der Arbeit und seinem eigenen Zorn.

Als Kind war Avery oft hier gewesen. Sein Vater hatte ihn, Hy und Cousin Robert immer mitgenommen, war mit ihnen Angeln gegangen oder Jagen oder hatte sie einfach nur spielen lassen. Ein Stückweit tat es Avery leid, dass er diesen schönen Ort, an dem so viele verblasste Erinnerungen hingen, entweihen würde. Entweihen mit Christine. Mit der Frau, die er nur am Leben gelassen hatte, um sie töten zu können.

Avery schleppte das leise wimmernde Bündel in die Hütte, hievte es in einen Stuhl – in den Stuhl – und fesselte es mit Klebeband aus der Küche. Als er fertig war betrachtete er sein Werk und fand sich und seine Leistung erstaunlich gut.

»Weißt du wo wir sind, Christine?« Averys Frage war unnötig. Natürlich wusste Christine es nicht und selbst wenn sie es wusste, so bekäme er nur ein nichtssagendes Röcheln als Artwort. »Das hier ist die Hütte, von der dir mein Cousin Robert nie erzählt hat. Sie ist hübsch, eh? Als Kinder waren wir total begeistert davon, ganz besonders Cousin Robert. Er hat immer auf diesem Stuhl gesessen, auf dem du heute sitzt. Das war sein Platz.«

Er sah sich in der Ein-Raum-Hütte um. Küche, Wohn- und Esszimmer in eins, nur die Toilette befand sich wie gewohnt draußen.

»Wenn wir übers Wochenende hier waren, dann haben wir alle auf dem Boden geschlafen, genau hier.« Er deutete – erneut unnötiger Weise – auf den Bereich zwischen dem breiten Sofa und dem Esstisch, vor den er Christine gesetzt hatte. Wie schön es damals noch war. So ungezwungen und leicht. Averys Mutter hatte diese Hütte und die Freiheit, die sie bot, nicht mehr miterleben können, aber er war sich sicher, dass sie es hier gemocht hätte.

Avery war in Plauderlaune. Er hatte das unbändige Bedürfnis von seiner Kindheit zu erzählen. »Weißt du eigentlich«, berichtete er, während er durch die Hütte schlenderte, »dass Roberts Eltern sehr früh starben? Deswegen hat er lange Zeit bei uns gelebt. Meine Mama hat ihn geliebt, den kleinen Robert, aber nachdem auch sie starb, da kam Madison. Und Madison hasste Robert.« Avery dachte zurück. »Manchmal hat Madison ihn in die Kühltruhe gesperrt. Manchmal hat sie abends die Haustür verschlossen, obwohl sie wusste, dass er noch da draußen war.«

Christines Augen waren zugefallen. Langweilte Avery sie etwa? Letztendlich war ihm egal, ob sie zuhörte oder nicht, er wollte einfach nur reden.

»Jedes Mal, wenn ich Cousin Robert durchs Fenster reinlassen wollte, stand Madison hinter mir und hat es verboten. Ich weiß noch, wie er bei Gewitter und Starkregen draußen war. Er hat sich vor Angst eingeschissen. Von Oben bis Unten! Er hat sich an die Haustür geklammert und geheult. Das war die Zeit in der Papa zu viel gesoffen hat. Er hat die Schreie von Cousin Robert nie mitbekommen.«

Christine bewegte sich auf dem Stuhl. Sie rutschte etwas nach vorn, soweit es das Klebeband zuließ und sah Avery mit ihren Krateraugen an. »Da… Davon hat er mir… nie erzählt.«, flüsterte sie keuchend. Avery hatte weder damit gerechnet, dass sie zuhören, noch damit, dass etwas dazu sagen würde. Das hatte ihn rausgebracht und jetzt wusste er nicht mehr recht, was er erzählen wollte. Irritiert blieb er bei dem Sofa stehen. War das Absicht gewesen? Hatte sie tatsächlich vorgehabt, ihn zu verwirren?

Er runzelte die Stirn und kratzte sich am Hinterkopf.

»E… Erzähl weiter…«

Ihm fiel auf, dass das eingebrannte Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden war. Und das gefiel ihm nicht. Es lag an Christine. An dieser dämlichen Hure, die ihn unterbrochen hatte, dreist und feige. An dieser Tussi mit den Mondkrateraugen und der schiefen Nase. Erst jetzt bemerkte Avery, wie sehr er Christine verabscheute.

Plötzlich vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Er holte es hervor und sah auf den Display. Die schwarzen Zahlen hoben sich deutlich von dem hellerleuchteten Hintergrund ab und zeigten die Kombination »2249«. Da Avery nicht lesen konnte, hatte er seine Handykontakte mit Nummern versehen, sodass jede Person nicht mehr als eine Zahlenkombination darstellte. Mit Zahlen konnte er schon immer gut umgehen, weshalb es Avery leicht fiel, jedem Kontakt eine Nummer zuzuschreiben und diese anschließend zu behalten. »2249« war Hy.

»Eh?«, meldete er sich betont genervt, nachdem er den grünen Hörer gedrückt hatte.

»Wo steckst du, Ave?«

»Wüsste nicht, was dich das angeht.«

»Du hast die Elvens getötet!«

»Und wenn schon.«

Die Stimme am anderen Ende klang mechanisch und rostig. Aber die Aufgebrachtheit, die Hy in seine Worte legte, war dennoch deutlich zu hören: »Ich war in deinem Zimmer, Ave. Da liegen zwei Tote, verdammt! Chris hast du den Kopf weggeschossen! Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht? Hast du überhaupt gedacht?«

Avery zuckte die Schultern, als ob sein Bruder das hätte sehen können. »Reg‘ dich nicht auf, Brüderchen. Es sind nur die Elvens, eh? Das war schon langsa…«

»Du hast Christine aus dem Fenster geschubst!«, unterbrach ihn Hy. Sein Tonfall hatte sich innerhalb der letzten Sekunden noch stärker ins Negative gewandelt.

»Sie ist von selber gesprungen!«

»Ja klar! Nachdem du ihr die Knarre an den Kopf gehalten und ihr die Wahl gelassen hast? Ich weiß, wie du arbeitest.«

Avery schwieg. Egal was er darauf geantwortet hätte, es wäre falsch gewesen. Also wartete er darauf, dass sein Bruder weiter sprach.

»Wo ist Christine?«

Avery schwieg.

»Wo ist sie, Ave?«, fauchte Hy mit etwas mehr Nachdruck.

»Ich wollte sie ins Krankenhaus bringen, aber sie ist Unterwegs gestorben. Hab sie vergraben.«, log er.

Avery hörte, wie Hy den Kopf schüttelte und einen Schluck trank. Vermutlich Whiskey.

»Himmel Herrgott, Avery! Ich bete für dich, dass du dir diesen Scheiß gut überlegt hast. Jetzt schwing dich ins Auto und komm gefälligst nach Hause. Wir müssen nach Chestersill und für Papa und Madison ein paar Pillen ausliefern. Also komm her und hol mich ab, klar?«

Avery verdrehte die Augen. Er legte auf, ohne sich zu verabschieden. Dann ging er auf Christine zu und beugte sich über sie. Ihr Blick war müde und ihr Geröchel nicht mehr so laut wie zuvor. Es war eher zu einem Hintergrundgeräusch geworden. Eintönig. Langweilig. Gewöhnlich.

»Hübsch hierbleiben, Christine. Ich komme bald wieder.«

Er kontrollierte, ob das Klebeband fest saß und ging anschließend zur Tür.

»Avery!«, rief Christine hinter Avery her, wobei es eher als ein leises Wispern an sein Ohr drang. »Mit diesem… Hemd… siehst du aus… wie ein… überdimensionaler Fruchtspieß.« Sie rang sich ein glucksendes Lachen ab, das so gar nicht zu ihrem schmerzverzerrten Gesicht passen wollte.

Avery winkte ihre Worte ab und ging.

 

Kaum war er Zuhause vorgefahren, da zerrte ihn Hy vom Fahrersitz und murrte, er solle sich gefälligst auf den Beifahrersitz setzten und den Mund halten.

»Ich fahre!«, protestierte Avery.

»Du hast nicht einmal einen Führerschein, Ave. Und jetzt halt die Klappe!«

Hy ließ den Wagen an und fuhr los. Er war hochgradig angespannt und kurz davor, wütend zu werden. Das erkannte man an der kleinen Ader an seiner Schläfe, die immer dann anschwoll, wenn er sich aufregte.

Avery verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte.

Nachdem sie ein paar Meilen schweigend hinter sich gebracht hatten, konnte Hy es nicht mehr ertragen und durchbrach die Stille: »Was hast du eigentlich mit den Elvens? Niemand von uns hat ein Problem mit ihnen, abgesehen von dir. Erst leihst du dir einen Haufen Geld von ihnen, dann verkaufst du ihnen Medikamente, die du anschließend klaust, was definitiv nicht Sinn des Ganzen ist, und jetzt ballerst du wild um dich und bringst gleich drei von ihnen ins Grab! Ich weiß wirklich nicht, was mit dir nicht stimmt, Ave.«

Avery kicherte. Sein Lächeln war zurückgekehrt und es tat gut, es wieder auf seinem Gesicht zu wissen. »Ich verstehe nicht, wie dich das alles so kaltlassen kann, Brüderchen.«

Hy hob fragend die dichten Augenbrauen. »Ist es wegen Cousin Robert? Kannst du die Elvens deswegen nicht leiden?« Der lebensgroße Muskelstrang trat aufs Gas und beschleunigte leicht.

»Und du findest es in Ordnung, eh?«, bemerkte Avery und starrte aus dem Fenster.

Hy nahm den Blick von der Straße und betrachtete seinen kleinen, ausgemergelten Bruder. »Du hast Christine nie gesehen, nachdem Cousin Robert sie verprügelt hat, Ave.«

»Sie hat ihn doch geheiratet!«, knurrte Avery und rieb sich die Stirn. »Scheiße, vielleicht steht die Hure auf Schläge! Aber das rechtfertigt nicht, dass sie Cousin Robert mit Benzin übergießt und anzündet, eh?«

Hy schüttelte den Kopf und bog nach links ab. Der Wagen polterte über eine Bodenwelle.

»Cousin Robert hat viel zu gerne viel zu viel getrunken. Du kennst ihn ja. Aber wenn er abends von der Kneipe nach Hause kam, dann hatte er nichts Besseres zu tun, als seine arme Frau krankenhausreif zu prügeln«, meinte Hy. »Ich kann mir gut vorstellen, dass sie das irgendwann nicht mehr ausgehalten hat. Ich finde, das ist menschlich.«

»Du erzählst Scheiße!«

Hy antwortete mit dem Mittelfinger.

Avery senkte den Kopf und sah beim Sprechen in den Fußraum. Schlechte Angewohnheit, die er nicht loswurde. »Sie hätte einfach gehen können. Stattdessen fackelt sie ihn ab, als wäre er ‘ne verschissene Kerze. Hast du ihn mal im Krankenhaus besucht?«

Hy verneinte.

»Scheiße, er sieht echt kacke aus. Er hat ein total verkohltes Gesicht, Mann, und das Obwohl er schon zwanzig Operationen – oder so – mitgemacht hat. Der kann wahrscheinlich nie wieder richtig laufen.«

»Er kann froh sein, dass er noch lebt.«

Avery hob verständnislos die Arme. »Cousin Robert gehört zur Familie, eh? Ist dir das egal? Ich verstehe nicht, warum du überhaupt hinter der Hure stehst.«

Hy holte aus und schlug seinem Bruder mit übertriebener Sachlichkeit die Faust ins Gesicht. Dann packte er ihn an den fettigen Haaren und ließ Averys Stirn mit dem Armaturenbrett kollidieren.

Während Avery sich den schmerzenden Schädel hielt und wimmerte, sein Bruder hätte ihm mindestens den Wangenknochen zertrümmert, beschloss Hy: »Wenn du noch einmal so über Christine redest, dann werfe ich dich durch die Frontscheibe und überfahre dich!«

Avery konnte den Mund nicht halten. »Hast du sie gefickt oder warum stehst du plötzlich hinter ihr?«

Hys Hand schloss sich erneut zur Faust. Avery kroch in die letzte Ecke des Autos, schmiegte sich dicht an die Beifahrertür und entging somit Hys nächstem Schlag.

»Scheiße! Flipp mal nicht gleich so aus! Ist doch eine berechtigte Frage, oder Brüderchen? So etwas muss ich doch wissen.«

Hy holte wieder aus und traf auch diesmal nicht. Stattdessen verzog er das Lenkrad und der Wagen polterte über einen Grünstreifen.

Avery fuchtelte wild mit den Händen und deutete vage auf die Straße. »Woaa! Pass doch auf wo du hinfährst.«

Mit einem Schlenker steuerte Hy den Wagen zurück auf die Straße. Er atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Die Wut-Ader wurde kleiner und verschwand nach dem vierten tiefen Atemzug. Er lehnte sich etwas zurück und entspannte sich. Jetzt konnte auch Avery aus der Ecke hervorkommen und sich vernünftig auf den Sitz setzen.

Sein Gesicht pochte. Er konnte spüren, wie es langsam anschwoll. Aber er war es gewohnt, jede Menge Schläge zu kassieren.

Avery war ohnehin schon immer der Arsch vom Dienst gewesen. Aus der Familie Bradbury war er der einzige, der nicht vollständig in die Geschäfte von Madison und seinem Vater eingeweiht war. Er durfte nicht an wichtigen Gesprächen teilnehmen, sondern musste draußen vor der Tür warten, durfte sich nicht mit neuen Medikamentenlieferungen beschäftigen oder gar die Bestandslisten prüfen. Man hatte ihm nicht einmal einen eigenen Aufgabenbereich zugeteilt, um den er sich hätte kümmern können. Hys Bereich war z.B. die Logistik: Wo wird was wie gelagert und wie kennzeichnet man das ganze am besten, damit man es schnell wiederfindet oder so ähnlich. Was machte Avery hingegen? Er fuhr mit einem Aufpasser, der meistens auch Hy war, zu diversen Kunden und sah dabei zu, wie sein Bruder die Leute zum Kauf der Medis bewegte. Manchmal erlaubte ihm Hy, sich am Überreden zu versuchen oder er durfte ein paar Leute einschüchtern, die auf eigene Faust Medikamente horteten und diese billiger unter dem Ladentisch verkauften. Dieser Teil gefiel Avery besonders und er wünschte sich, dass Madison und sein Vater ihm eines Tages zugestanden, den Bereich selbst zu übernehmen. Aber bis dato musste er sich wohl noch gedulden und sich weiterhin von seinem Bruder herumschubsen lassen.

Hy bog irgendwann nach rechts ab und fuhr eine lange Einfahrt entlang. Avery hatte inzwischen keine Ahnung mehr, wo sie sich befanden. Und das kleine Haus, vor dem Hy den Wagen parkte, sagte ihm ebenfalls nichts.

Avery wartete geduldig darauf, dass sein Bruder den Anfang machte und ausstieg, doch dieser regte sich nicht. Er blieb einfach sitzen und starrte nachdenklich auf das Haus, das sich weiß und leicht heruntergekommen vor ihnen erhob.

»Soll ich schon mal die Pillen holen?«, fragte Avery und deutete mit dem Daumen zum Kofferraum.

»Nein«, antwortete Hy kurz. »Das mache ich gleich schon selber.«

»Dann gehe ich vielleicht schon mal rein?«

Hy schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich zu Avery und sah ihn ernst und durchdringend an. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er befahl: »Gib mir deine Hand, Ave!«

Mit einem Mal wurde Avery mulmig zumute. Misstrauisch beäugte er den lebenden Muskelstrang, der eine Art von Körperkontakt von ihm verlangte, die Avery ganz und gar zuwider war. Händchenhalten? Was zur Hölle?

Da war etwas in Hys Blick, in diesen kleinen dunkelbraunen Augen, das Avery nicht genau identifizieren konnte. Etwas, das der Grund für sein Unbehagen war.

»Ich fordere dich kein zweites Mal dazu auf, Ave.«

Widerwillig und sehr langsam wanderte Averys linke Hand von seinem Körper weg und Richtung Hy. Und gerade, als er es sich anders überlegt hatte und die Hand zurückziehen wollte, ergriff Hy sein dünnes Handgelenk.

»Scheiße! Was soll denn das?«, fluchte Avery, der vergeblich versuchte, seinen Arm zurückzuerobern.

Der Hüne kramte mit der freien Hand in seiner Jackentasche und holte ein silberglänzendes Handschellenpaar hervor. Das eine Ende umklammerte Averys linkes Handgelenk, das andere das Lenkrad. Entgeistert starrte Avery auf die Handschellen, die ihn unweigerlich an das Auto fesselten.

»Wenn ich hier warten soll, dann mache ich das freiwillig, Mann! Du brauchst mich doch nicht hier mit diesen Dingern festhalten!« Dergleichen hatte er noch nie mitmachen müssen. »Scheiße, jetzt mach mich wieder los! Ich bin doch kein scheiß Köter den du einfach anbinden kannst, wenn du einkaufen gehst.«

Hy erwiderte nichts. Er ließ den Kleinen quatschen, überhörte gekonnt jeden seiner Sätze, die vorzugsweise alle mit »Scheiße!« begannen, und stieg aus. Avery sah, wie er sein Handy aus der Tasche holte und eine Nummer wählte. Aus dem Auto bekam er nicht viel mit, doch das Telefonat gestaltete sich äußerst kurz. Und kaum hatte Hy aufgelegt, ging er unbeirrt die Einfahrt in die Richtung entlang, aus der sie gekommen waren.

»Scheiße, Mann, komm zurück!«, schrie Avery und drückte mit der freien Rechten auf die Hupe. Als er merkte, dass das nicht den gewünschten Effekt erzielte, kurbelte er das Fenster runter und brüllte so laut er konnte hinter Hy her.

Plötzlich sah er etwas aus dem Augenwinkel. Eine Regung an dem Haus. Er hörte auf, seinem Bruder hinterherzurufen und wandte stattdessen den Kopf nach vorn. Die Haustür war aufgegangen und auf der Veranda fanden sich nun einige Gestalten ein.

»Gottverdammte Scheiße!«, entfuhr es Avery, der jetzt erkannte, in was für einem Schlamassel er gelandet war. Panisch rüttelte er an den Handschellen, versuchte sich irgendwie zu befreien, doch das einzige, was er erreichte war, dass er sich das Handgelenk wundschürfte. Er schlug auf das Lenkrad und die Hupe ein und bog seine Hand zusammen, dass es schmerzte. Er musste da rauskommen, irgendwie diese verdammten Schellen loswerden, die sich jedes Mal tief durch seine Haut bohrten, wenn er sich losreißen wollte.

Draußen sah er sechs Personen stehen, die nun mit bedächtigen Schritten auf ihn zukamen. Jemand löste sich von ihnen und ging etwas schneller als die anderen, sodass er wenige Sekunden eher die Beifahrerseite des Autos erreichte. Er sah Avery durchs offene Fenster mürrisch an. Sein pickliges Gesicht war von Falten durchzogen und die Hasenscharte war nur eine seiner vielen Entstellungen.

»Avery Bradbury«, flüsterte der alte Knacker, der so unglaublich viel Ähnlichkeit mit seiner Tochter Christine hatte, dass es schon beinah gruselig war. Er legte seine Hände auf das halb heruntergekurbelte Fenster und beugte sich zu Avery hinab. Papa Hasenscharte-Elven betrachtete Avery einen Moment aufmerksam. Dann zückte er wortlos sein Handy und tippte ein wenig auf dem Touch-Display herum, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Er drehte den Bildschirm zu Avery. Mit zusammengekniffenen Augen, weil die Sonne blendete, begutachtete er das Foto, das ihm Hasenscharte-Elven zeigte. Durch die Lichtreflexion konnte er es nicht direkt erkennen, doch nach genauerem Hinsehen, erkannte er sein Zimmer. Das Foto zeigte die blutige Szene, die Avery erst vor ein paar Stunden – wenn überhaupt – angerichtet hatte.

Averys Hände begannen zu zittern. Seine Kehle wurde trocken und seine Beine schlaff. Er hatte das Gefühl, alles in ihm würde zu Staub zerfallen.

Papa Hasenscharte-Elven steckte das Handy weg und beugte sich noch tiefer zu Avery.

»Du hast meine Kinder getötet«, stellte er nüchtern fest, als wäre das eine lächerliche Kleinigkeit. »Jetzt bist du am Arsch!«

Avery wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Also sagte er nichts darauf, sondern schrie wie am Spieß nach seinem Bruder, der ihn nicht nur im Stich gelassen, sondern regelrecht ausgeliefert hatte. Ausgeliefert an die vermaledeiten restlichen Elvens, die wie wilde Hunde in einer Schar auf ihn zukamen, um ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen.

In seiner Angst kurbelte Avery das Fenster hoch, bedachte dabei aber nicht, dass der Wagen an sich nicht abgeschlossen war. Sogleich öffneten sich Fahrer- und Beifahrertür und jemand – vermutlich ein Cousin oder ein Onkel – pflanzte sich neben Avery auf den Fahrersitz. Der Kerl grinste breit und entblößte seine gelben Zähne, als er den Schlüssel, den er zwischen seinen Fingern tanzen ließ, in das Handschellenschloss steckte und das eine Ende vom Lenkrad löste.

Jetzt, wo er wieder halbwegs frei war, startete Avery einen weiteren Fluchtversuch, wurde aber von Hasenscharte-Elven am Genick gepackt und in seine Schranken gewiesen.

Jetzt ist es vorbei, dachte Avery, dessen Halswirbel knirschten. Die Elvens würden ihn fertig machen. Sie würden mit ihm das gleiche machen, was er mit Christine vorhatte. Sie würden ihn Stück für Stück auseinandernehmen, wenn er nicht…

Die Elvens scharten sich um ihn und betrachteten ihre Beute mit gierigem Wahn. Wohin Avery auch sah, er erblickte nichts als die grausamen Fratzen der Elvens, eine entstellter als die andere. Und nachdem sie ihn eingehend gemustert hatten, warfen sie sich auf ihn, wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe, bereit, ihn in Fetzen zu reißen.

Er erhielt einen kräftigen Schlag in die Magengegend und ging zu Boden. Und jetzt, wo die wütende Meute erst einmal Blut geleckt hatte, traten sie ungebremst auf ihn ein. Aus allen Richtungen schnellten Schuh- und Stiefelspitzen hervor und zielten vor allem auf seinen Kopf. Ein ohrenbetäubendes Knacken signalisierte, dass Averys Nase brach. Heißes Blut strömte über sein ebenso heißes Gesicht. Es schoss wie ein Sturzbach aus seiner Nase. Schützend hielt er die Hände davor, erntete dadurch aber nur mehr Tritte ins Gesicht. Erneut ertönte ein krachendes Geräusch, als ihn ein Stiefel in die Rippen traf.

Avery spuckte Unmengen von Blut. Auf dem Erdboden befand sich inzwischen so viel von dem roten Lebenselixier, dass man glauben musste, die Elvens hätten dort jemanden abgeschlachtet. Und schlachten würden sie ihn, das stand fest! Wenn er nicht…

»Sie lebt!«, schrie er Blut spuckend und mit aller Kraft. Die Tritte stoppten so schnell, wie sie begonnen hatten. Avery holte noch einmal tief Luft und spie den Elvens seine Lebensversicherung entgegen: »Christine lebt noch!«



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück