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Zeitlos -♠-

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HalfWay (Geschichten eines Aussteigers)

Fred atmete tief durch. Er stand ganz oben auf einem Berg und konnte von dort aus seine Umgebung betrachten. Um ihn herum war alles still und das einzige, was er hörte, war sein eigenes atmen. Mit Zufriedenheit blickte er hinab auf das riesige Waldstück, welches er bereits durchquert hatte. Seine braunen Haare waren lang geworden und hingen ihm jetzt ständig in den Augen. Er schob sie mit der Hand zurück. Der Berg, auf dem er nun stand, hatte ihm einige Mühen abverlangt, als er diesen erklomm, und seine Kräfte vollends verbraucht. Doch so schweißgebadet er auch war, in ihm herrschte absolute Zufriedenheit. Er hatte eine weitere Hürde auf seiner Suche nach sich selbst überwunden und das erfreute ihn. Mit einem Lächeln schaute er hinunter und stellte fest, wie weit er bereits gegangen war. Er konnte kaum das Ende des Waldstückes sehen. Dann drehte er sich um und sah in die entgegengesetzte Richtung. Ein ebenso weites Waldstück erstreckte sich vor ihm und ihm wurde bewusst, dass er es noch zu gehen hatte. Doch er fasste es mit Freude auf. Schließlich hatte er schon die Hälfte geschafft.

Ermüdet legte er seinen großen, grünen Rucksack ab, trank einen Schluck aus der Feldflasche, die an seinem Gürtel befestigt war und ließ sich in das weiche Gras fallen. Plötzlich tippte ihm etwas auf die Schulter. Fred schrak auf, denn das letzte, womit er gerechnet hatte war ein menschliches Wesen, hier, an diesem verlassenen Ort.

»Du sitzt auf meiner Saat!«, meinte der alte Greis, der soeben hinter Fred aufgetaucht war.

»E- Entschuldigung!«, stammelte er und stand verwirrt und zügig auf. Der alte Mann reichte Fred die Hand zum Gruß und meinte freundlich: »Peter Stenson.«

»Angenehm. Fred O´Neil.«

Der Alte lächelte und zeigte alle seine Falten. Fred versuchte ebenfalls ein Lächeln, während er seinen Rucksack aus der Saat hob und ihn erneut schulterte.

»Komm doch mit hinein«, begann Peter und deutete in Richtung Osten, wo eine kleine Holzhütte stand, »Du siehst aus, als könntest du einen Tee gebrauchen.«
 

So fand sich Fred auf einer schlecht gepolsterten Bank im Innern der Hütte wieder. Er nippte genüsslich an seinem Pfefferminztee. Fred und Peter unterhielten sich angeregt, sprachen über dies und das. Der Alte berichtete von seinen Beeten, seiner Saat und der Ziege, die er sich als Nutz- und Haustier hielt. Fred hatte das Gefühl, er spräche mit seinem Vater, nicht mit einem alten Greis, den er soeben erst kennengelernt hatte.

»Also, Fred, was sucht so ein Jungspund wie du am Ende der Welt?«, fragte Peter plötzlich.

Der 26-Jährige stellte seine Tasse ab und sah seinen Gegenüber fragend an. »Das Gleiche könnte ich Sie fragen«, entgegnete er und hob die Augenbrauen. Der Alte räusperte sich und strich sich durch seine kurzen, grauen Haare.

»Nun ja. Ich habe einst beschlossen, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Ich glaubte mal, ich könne mich selbst wiederfinden, wenn ich nur weit genug von allem Einfluss weg ging. Doch irgendwann landete ich hier, auf diesem wunderschönen Berg. Und ich brach meine Suche ab und wurde sesshaft.«

»Sie haben aufgegeben?«, fragte Fred erstaunt und nahm einen weiteren Schluck Tee. Peter zuckte mit den Schultern, doch sein trauriger Gesichtsausdruck verriet, dass er tatsächlich aufgegeben hatte.

»Als ich 34 Jahre war ging ich fort, mit dem unsterblichen Glauben, ich könnte es schaffen. Doch dies war nur eine Illusion. Sechs lange Jahre bin ich umhergereist, aber irgendwann ist mir aufgefallen, dass meine Knochen müde wurden. Ich konnte nicht mehr weiter gehen und heute bereue ich, dass ich mich nicht doch dazu durchgerungen habe. Nun bin ich 65 und für mich steht fest, dass ich diesen Berg niemals mehr verlassen werde. Der Abstieg wäre tödlich.« Der Alte sah zu Boden. Seine faltigen, zitternden Hände umklammerten die Tischkante. Fred wusste nicht, was er sagen sollte. Peter tat ihm aufrichtig leid, doch wie sollte er, der kleine, junge Aussteiger ihm helfen?

»Und was suchst du hier, Jungspund?«

Ich suche das, was Sie nie finden konnten, dachte Fred, sprach es jedoch nicht aus, sondern formulierte es anders. »Dasselbe, was Sie damals versuchten zu finden.«

Der Alte nickte anerkennend und lächelte matt. Dann erhob er sich mühselig und ging zu einer kleinen Kommode neben dem Esstisch. Er öffnete die oberste Schublade und kramte darin. Mit zittrigen Fingern nahm er einen handgroßen Gegenstand heraus, schloss die Schublade wieder und setzte sich erneut zu Tisch. In seiner Hand befand sich, wie Fred erkannte, ein uralter Fotoapparat.

»Damals habe ich meine Reise auf dieser Fotokamera festgehalten«, begann Peter und schob das Gerät über den Tisch in Richtung Fred, »Ich konnte den Film leider nie entwickeln lassen. Außerdem sind noch dreizehn Fotos übrig, die noch gemacht werden können.«

Der Alte senkte den Kopf und Fred bemerkte, dass er an seine Reise zurückdachte. Für einen kurzen Moment funkelten seine Augen auf, als wünschte er sich, wieder jung und abenteuerlustig zu sein. Doch das Funkeln verschwand so schnell, wie es gekommen war.

»Ich möchte, dass du die Fotos für mich entwickeln lässt und den Zweiten Teil deiner Reise, den ich nie gehen konnte, auf diesem Film festhältst.«

Fred nahm die Kamera entgegen und betrachtete diese. Dann stellte er sie zurück auf den Tisch und meinte »Warum tun Sie es nicht selbst? Ich kann doch nicht den letzten Teil Ihrer Reise fotografieren!«

»Es ist auch deine Reise, die du festhalten sollst, nicht mehr meine. Außerdem weißt du ja gar nicht, wie schmerzhaft es für mich ist zu gehen, Jungspund! Ich bin froh, wenn ich es zu meinen Beeten hinüber schaffe, aber diesen Berg hinunterklettern? Unmöglich!«

Der 26-Jährige wollte etwas erwidern, ein paar aufmunternde Worte sagen, doch er wusste, dass Peter Recht hatte.
 

Die Nacht über blieb er in Peters Behausung. Nach langem schlief er endlich wieder auf einem weichen Untergrund. Am nächsten Morgen schien die Sonne hell und warm durch ein kleines Fenster. Fred war schon auf den Beinen, packte seine Habseligkeiten zusammen und stopfte sie in den Rucksack. Als er die Hütte verließ, entdeckte er Peter einige Meter weiter, der mit einer aus Steinen und Stöcken gebauten Hacke auf die Erde einschlug. Er legte anscheinend ein neues Beet an. Fred schlenderte zu ihm herüber. Die Sonne schien ihm warm ins Gesicht, sodass er die Augen zusammenkneifen musste, um Peter zu sehen. Schließlich war er neben ihm angelangt und legte dem Alten seine Hand auf die Schulter. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. Der Alte drehte sich langsam um, setzte ein Grinsen auf und entgegnete mit traurigem Unterton: »Ja, ich weiß. Und dieser Ort soll dich nicht aufhalten. Nicht so, wie den alten Peter!«

»Eines Tages werde ich zurückkommen und Ihnen die Fotos bringen.«

Fred wandte sich zum Gehen, doch dann sah er noch einmal zurück. Der alte Mann stützte sich auf seine Hacke und winkte. Seine grauen Haare glänzten im Sonnenlicht. Es fiel Fred schwer, ihn zurückzulassen, doch er wusste auch, dass Peter den Abstieg des Berges nicht überleben würde.

Er kramte in seiner Hosentasche und zog die Kamera hervor. Und er machte ein letztes Foto von Peter.

»Wir sehen uns, mein Freund!«, rief Fred noch, bevor er den steilen Berg hinunterkletterte und den alten Greis zurückließ.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2011-05-18T09:10:32+00:00 18.05.2011 11:10
Sehr schön, ein bisschen melancholisch.
Ich habe viel über Peter und Fred nachgedacht und ich glaube er hat unrecht.
Ich glaube nicht, dass man sich nur finden kann, indem man alles hinter sich lässt und herum wandert.
Was wird es denn jenseits des Berges anderes geben, als auf der anderen Seite?

Ich weiß, das Bild das du hier zeichnest, ist wohl eher symbolisch gedacht. Aber im Grunde genommen, lernt man sich nicht kennen indem man alles andere verlässt, man findet sich selbst, seine Bestimmung nicht irgendwo da draussen.
Nur in sich selbst, egal wo man gerade steht.
Mag sein, dass man dafür einen gewissen Abstand zu den anderen Menschen benötigt, um sich selbst "hören" zu können.
Zeit und innere und äußere Ruhe, aber im Prinzip müsste man sich selbst auch in der Rush Hour mitten in NY finden können, wenn man nur weiss worauf man lauschen muss.

Die Einsamkeit hat Peter schliesslich gefunden, an einem Ort, der vermutlich schöner und stiller nicht sein könnte, aber glücklich ist er damit nicht geworden, vielleicht hätte er nur wieder zurück gehen müssen, um den Sinn hinter seiner Reise zu ergründen und sich selbst zu finden? Nicht weiter fort, wie Fred es tun will.
Irgendwie erscheint es mir diese zwanghafte Art zu reisen, wie eine Flucht.
Aber vor sich selbst kann man nicht davonlaufen.

Ich schätze, du hast die Geschichte ganz anders gemeint, aber das war was mir nach näherem überlegen so durch den Kopf ging.
Aber auf jeden Fall, wieder sehr schön geschrieben, sehr tiefgründig und regt wie immer sehr zum nachdenken an.
Besser kann es nicht sein :)


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