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Zeitlos -♠-

100 Storys -1-
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Pause

»Jayden Archer, FBI Datenanalyse«, meldete sich der einunddreißigjährige Mann am Telefon und verdrehte sogleich die Augen, als er erkannte wen er am Apparat hatte. Warum nur rief sie ihn ständig auf der Arbeit an und belästigte ihn mit Belanglosigkeiten?

»Nein, Schatz, ich kann jetzt nicht eben mal so nach Hause kommen!« Er atmete tief ein und ließ die Worte seiner Frau über sich ergehen. »Nein, Schatz!«, fauchte Jayden nun und stützte genervt den Kopf auf seine Hand, »Frag doch deine Schwester ob sie die Spinne auf der Arbeitsplatte entfernt, wenn du es selbst nicht möchtest, aber ich werde sicherlich nicht zu dir hinfahren und das erledigen!«

Sein Kollege Taylor Jones sah von seinem Bildschirm auf und warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Wie Jayden es hasste, dass alle seine Kollegen darüber Bescheid wussten, dass Grace jeden Tag anrief und ihn irgendeinen Blödsinn fragte. Und er hasste es, dass sie anrief. Wenn sie wenigstens wegen Wichtigkeiten anrufen würde… Stattdessen waren es jedoch Nichtigkeiten, mit denen sie Jayden den Tag vermieste und ihn unnötig von der Arbeit abhielt. Nach einigen Minuten hatte Grace wutentbrannt aufgelegt, nachdem sie nicht erreicht hatte, was sie zu erreichen gedachte, nämlich, dass Jayden zu ihr am und die Spinne beseitigte. Anfangs hatte er ihr immer nachgegeben und war nach Hause gefahren, doch inzwischen konnte er es sich nicht mehr erlauben. Schließlich wollte er keine Verwarnung erhalten oder gar gekündigt werden.

Erschöpft und genervt stand er auf und wandte sich an Taylor: »Ich brauch ´ne Pause!«

»Grace?«, fragte er. Und obwohl Jayden genau wusste, dass sein Kollege die Antwort bereits kannte nickte er.

»Willst du eine Zigarette?«

Jayden bejahte und nahm dankend den Glimmstängel entgegen.

»Wenn sie noch einmal anruft, dann drück sie weg, ja?«, sagte er und Taylor hob die Hand, um ihm zu zeigen, dass er es tun würde.

Dann verschwand er zur Vordertür hinaus in den Raucherbereich. Die kühle Luft, die ihm draußen entgegenschlug ließ ihn frösteln, doch es fühlte sich gut an. Er hatte das Gefühl, die Kälte würde ihm die Sorgen nehmen, die ihn einmal wieder überrannten. Dies war nicht wirklich der Fall, doch das wollte er sich selbst nicht eingestehen. So konnte er sich wenigstens einreden, dass es etwas bewirkte und ihn wieder hochzog. Ein wenig traurig betrachtete er den weißen, grellen Schnee, der sich über ganz Washington DC gelegt hatte. Wie ruhig er dalag und die Hauser, Straßen und Bäume zudeckte. So sanft und rein. So unschuldig. Genau wie seine Frau.

Er zündete sich die Zigarette an und nahm einen heftigen Zug, der ihm sogleich in der Lunge brannte. Doch das störte ihn nicht. Vielmehr half es ihm endlich abzuschalten. Zumindest ein bisschen. Dennoch zermarterte er sich das Hirn darüber, wie er seiner Frau endlich helfen konnte, ohne immer bei ihr zu sein. Er liebte sie und daran bestand kein Zweifel, doch andererseits konnte er seinen Job nicht aufgeben. Wer sollte denn dann das Geld in Haus bringen, wenn sie schon nicht arbeiten gehen konnte? Jayden senkte den Kopf und zog erneut an dem Stummel. Warum nur hatte es ausgerechnet sie erwischt? Warum nur wurde ausgerechnet Grace von dieser psychischen Krankheit geplagt? Warum die Paranoia? Warum die Panikattacken? Warum die starken Depressionen? Hätte es nicht irgendjemand anders treffen können? Noch ein Zug. Er atmete weißen Rauch aus, der noch einen Moment in der Luft schwebte, bevor er mit dem Wind verschwand.

Pause, dachte er, ich brauche mal ´ne Pause. Eine Pause von diesem ganzen Mist! Eine Pause von seinen Kollegen, die ihn immer wieder schief ansahen, wenn er seine Frau am Telefon hatte. Eine Pause von der stumpfen Arbeit eines Datenanalysten, auf die er sich kaum mehr konzentrieren konnte. Eine Pause von den Problemen seiner Frau. Eine Pause von Grace selbst. Und vor allem brauchte er eine Pause von seinen Gedanken, die ihm keine Ruhe ließen.

Er zog an der Zigarette, atmete tief ein und genoss für einen winzigen Moment die Stille, die hier draußen herrschte. Beinah glaubte er, er habe eine solche Pause gefunden. Doch sie hielt nur für einen winzigen, fast ungreifbaren Augenblick an, bis ihn seine Gedanken aufs Neue quälten. Er nahm einen letzten Zug. Dann trat er den Glimmstängel aus, sah noch einmal auf den glänzend weißen Schnee und ging wieder hinein.

Mit der Gewissheit, dass Grace ihn wieder anrufen würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  w-shine
2012-08-24T17:50:36+00:00 24.08.2012 19:50
Eine wirklich sehr traurige und niederschmetternde Geschichte.
Du hast das Leben der beiden gut beschrieben, wie Grace durch die psychische Krankenheit nicht mehr wirklich allein zurecht kommt und immer die Hilfe von Jayden braucht, die dieser ihr aber nicht geben kann.
Seine Verzweiflung und Hilflosigkeit hast du ebenfalls richtig gut rüber gebracht, genauso wie die Liebe zu Grace.

Eine wirklich gute, aber sehr traurige Geschichte. Gerade die Alltäglichkeit dieser Geschichte und dass es keinen Ausweg gibt, macht sie so traurig - nur durch die kleine Zigarettenpause für einen Moment unterbrochen.

Hat mir gut gefallen - Daumen hoch!

LG Shine
Von: abgemeldet
2011-06-14T21:21:55+00:00 14.06.2011 23:21
Eine sehr traurige Geschichte, finde ich.
Jayden wirkt so schrecklich ausgelaugt und fertig. Er liebt seine kranke Frau, ist aber selbst so überlastet, dass er ihr nicht helfen kann. Im Gegenteil er schreit sie auch noch an, was ihrem Zustand sicherlich nicht besonders zu Gute kommt.
Ein elender Teufelskreis.

Auch die Flucht in die Zigarette, hast du gut dargestellt und auch die Tatsache, dass diese Flucht nur von sehr kurzer Dauer ist, und ihn die Realität nur zu schnell wieder einholt.

Auf Dauer wird der arme Mann das vermutlich nicht durchhalten :(

Nur eine Fragehab ich dazu:

Wenn sie wenigstens wegen Wichtigkeiten anrufen würde… Stattdessen waren es jedoch Nichtigkeiten,
ist das mit den Wichtigkeiten und Nichtigkeiten beabsichtigt?
Klingt irgendwie komisch, wobei ich eben grad am überlegen bin, ob das so gewollt war, weil es seine Not und die Abwärtsspirale irgendwie zusätlich hervorhebt.





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