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Kain und Abel

von

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III. Akt: Die Motivation.

Es verging einige Zeit, bis Iruka wieder seinen angestammten Platz im Haus der Hokage einnahm. Er hatte Tsunade vom Verschwinden Narutos unterrichtet und sich dann zurück an die Arbeit begeben, wenn auch seine Kompetenz, darüber zu entscheiden, welches Team für welchen Auftrag am geeignetsten war und wer überhaupt Teil eines Teams sein sollte, im Moment zu wünschen übrig ließ. Alles, was er derzeit wahrnahm, waren bedeutungslose Namen und Ränge, die er las und doch überhaupt nicht erfasste. Er hätte es nicht einmal bemerkt, ständen die Wörter in seinen Notizen nicht für Menschen sondern Lebensmittel, die irgendjemand unbedingt noch für das Abendessen kaufen musste.

Müde fuhr sich Iruka mit den Händen übers Gesicht und bemerkte nicht, wie Shizune an ihn herantrat, bis sie ihm eine Hand auf die Schulter legte, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Als der Shinobi aufschaute reichte sie ihm einige Schriftrollen.

"Ich weiß, du hast wahrscheinlich gerade keinen Nerv hierfür, aber Tsunade-sama möchte, dass du dich um die Berichte der heutigen Missionen der Genin kümmerst. Die Aufmerksamkeit der anderen Mitarbeiter wird für… wichtigere Sachen gebraucht."

Der Chūnin nahm die Dokumente entgegen, legte sie vor sich ab und versprach, sich umgehend darum zu kümmern. Shizune machte jedoch keine Anstalten, wieder zu gehen.

"Ist Naruto wirklich verschwunden?" fragte sie, aufrichtige Sorge in ihrer Stimme.

"Ich habe persönlich Konoha und seine nähere Umgebung mehrere Male erfolglos durchkämmt" antwortete er schließlich. "Bei einigen der außerhalb des Dorfes stationierten Teams habe ich schon anfragen lassen, ob sie ihn gesehen haben, aber bisher kam nichts zurück." Dass er zudem auch einige Genin-Reservisten und Schüler der Akademie auf die Suche geschickt hatte, verschwieg er lieber.

"Wir müssen wohl davon ausgehen, dass Naruto auf eigene Faust losgezogen ist" sagte Shizune nachdenklich. Er widersprach ihr nicht.
 

Zuweilen machten sich die Mitglieder der Anbu-Einheiten einen Spaß daraus, ihre allseits bekannte und gepriesene Fähigkeit, sich vollkommen lautlos einem Gegner zu nähern und wie aus dem Nichts irgendwo aufzutauchen, auch dann anzuwenden, wenn es eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Tsunade erinnerte sich daran, dass sie diese Angewohnheit als absolut nervtötend empfunden hatte, als sie noch ein Kind und nur die Enkelin des Hokage gewesen war und selten direkten Umgang mit Anbu-Mitgliedern pflegte. Sie hatte es als eine unpässliche Charaktereigenschaft empfunden, die jedem die Überlegenheit der Anbu demonstrieren sollte. Erst später, als sie im Krieg notgedrungen hin und wieder mit der Spezialeinheit zusammenarbeiten musste und schließlich auch die Menschen hinter den Masken kennen lernte, änderte sich ihre Meinung diesbezüglich, auch wenn sie noch immer die Augen verdrehte, wenn sie beim unangekündigte Erscheinen eines Anbu erschrocken zusammenzuckte.

Als eine der legendären Sannin und nicht zuletzt Hokage und damit Kommandeurin der Anbu war der regelmäßige Kontakt zur Alltäglichkeit geworden. Mittlerweile hatten sich ihre Sinne so weit sensibilisiert – oder vielleicht hatte sie auch eine Art sechsten Sinn dafür entwickelt –, dass sie die Ankunft eines Anbu schon im Voraus wahrnahm und entsprechend darauf reagieren konnte. So bemühte sie sich nicht einmal, von ihren Dokumenten aufzublicken, als sich eine maskierte Gestalt in ihrem Büro materialisierte.
 

"Jemand ist hier eingebrochen" informierte sie den Anbu etwas brüsk. Sie versuchte, sich ihre Müdigkeit nicht allzu sehr anmerken zu lassen, doch das geringe Schlafpensum trug nicht gerade zu einer Besserung ihrer sonst schon anstrengenden Launen bei. Dass sie ihren Schreibtisch vor wenigen Minuten verwüstet vorgefunden hatte machte alles nur noch schlimmer.

"Ich habe von keinem Fremden gehört, der Konoha in den letzten zwei Tagen betreten hat" sprach der Anbu, dessen Stimme aufgrund seiner Katzenmaske gedämpft klang.

"Das ist auch nicht, weswegen ich dich hergerufen habe. Es geht um den Bericht deiner Einheit. Er wurde gestohlen." Für einige Sekunden starrte sie gedankenversunken auf den Wust an Schriftrollen und Papierstapeln auf ihrem Tisch.

"Die genauen Angaben sind nach wie vor unbekannt" versuchte der Anbu die Besorgnis der Hokage zu mindern, von denen er wusste, dass sie ihr in diesem Moment durch den Kopf gehen mussten. Seine Einheit hatte zwar Orochimarus Spur aufgenommen, aber noch nicht den genauen Standort seines derzeitigen Versteckes ausfindig gemacht.

"Ich werde Nara Shikamaru mit der Untersuchung der Angelegenheit beauftragen. Seid aber dennoch vorsichtig, bis der Täter gefunden ist. Ich würde dich bitten, auch die anderen Einheiten von dem Vorfall zu unterrichten." Der Anbu verbeugte sich knapp. Auf die gleiche lautlose und mit den Augen kaum zu verfolgende Art und Weise, wie er es betreten hatte, verließ er das Büro wieder.

Tsunade machte sich derweil auf den Weg zum Falkner-Turm, wo sie einen kleinen Zettel in einem dünnen Röhrchen an den Fuß eines der wartenden Greifvögel band. Von innerer Unruhe befallen blickte sie dem Falken nur kurz hinterher, als er seinen Flug über die Dächer Konohas antrat.
 

Shikamaru befand sich in einem moralischen Dilemma. Nach dem Tod Sakuras hatte er sich wie ganz Konoha in einem Zustand innerer Zerrissenheit wieder gefunden, war es doch einer von ihnen, der das Dorf verraten und das Mädchen auf dem Gewissen hatte. Die Suche nach den nunmehr schon drei Verrätern Konohagakures hatte sämtliche Ninja des Ranges Chūnin und höher in den letzten Wochen auf Trab gehalten und ihm kaum eine Minute Ruhe gegönnt. Dank seiner überragenden analytischen und strategischen Fähigkeiten – und nicht zuletzt der Position seines Vaters in der Gokeiban – war er von Tsunade zu einer Art persönlichem Berater gemacht worden. Nicht, dass er sich nicht geehrt fühlte, von Godaime so viel Vertrauen entgegengebracht zu bekommen, doch seine träge Natur sehnte sich nach etwas weniger Arbeit, etwas weniger Zeitaufwendigem – er wollte sich wieder an seinem üblichen Platz in die Sonne legen, den Himmel beobachten und, auch wenn nur für kurze Zeit, an nichts denken müssen. Es war zermürbend, ständig die Zukunft vor Augen gehalten zu bekommen, denn egal, welches Szenario er spann, es endete immer auf die gleiche Weise: Sasuke musste sterben.

Und so verspürte er nicht unbedingt das Bedürfnis, vor Freude in die Luft zu springen, als er Godaimes Falken am Himmel entdeckte, den er seit einiger Zeit öfter, als ihm lieb war, begrüßen durfte. Resigniert seufzend schaute er auf die beiden Einkaufstüten in seinen Händen – ein Gefallen für seine Mutter, die sich in regelmäßigen Abständen darüber beschwerte, seine Arbeit hielte ihn davon ab, ihr hin und wieder zur Hand zu gehen. Etwas unentschlossen verließ Shikamaru erst einmal die unmittelbare Straße und stellte seine Tüten an einer Hauswand ab. Einen Fuß ausgestreckt, um einen der Beutel am umkippen zu hindern, reckte er seinen linken Arm dem Falken entgegen, damit sich dieser auf ihn setzen konnte. Gehorsam streckte der Greifvogel genau wie Shikamaru seinen Fuß aus, an dem sich ein kleines Röhrchen mit einem zusammengerollten Zettel befand, was für einen Außenstehenden einen amüsanten Anblick bieten musste. Da Tsunade ihm grundsätzlich nur Befehle sandte und kein Antwortschreiben erwartete entließ der Chūnin den Falken sogleich wieder, noch ehe er den Zettel überhaupt gelesen hatte. Wie er es vermutete enthielt die Nachricht lediglich die Aufforderung, sich umgehend in ihrem Büro aufzufinden. Widerwillig beeilte er sich, die Einkäufe abzugeben.
 

Shikamarus übliche, Missfallen ausdrückende Haltung – die Hände in den Hosentaschen vergraben und die Schultern so weit hochgezogen, dass er etwas krumm lief – hielt seine Mutter davon ab, ihn mit unnötigen Fragen ob seines sofortigen erneuten Aufbruchs zu belagern. Doch sobald er Tsunades Büro erreichte zwang sich Shikamaru, eine professionellere Haltung anzunehmen; seine Position brachte viel Verantwortung mit sich, ob er sie nun wollte oder nicht.

Tsunade musste schon seit einiger Zeit in ihrem Zimmer auf- und abgelaufen sein, da sie mit vor der Brust verschränkten Armen mitten im Raum stand, als Shikamaru eintrat. Sein Blick viel sofort auf das untypische Chaos auf dem Schreibtisch, der zwar immer überladen und augenscheinlich unaufgeräumt war, tatsächlich aber einer strikten Ordnung folgte, über die Tsunade nie den Überblick verlor. Wer immer in ihren Unterlagen gewühlt hatte wusste offensichtlich nicht – oder kümmerte sich nicht darum –, nach welchen Kriterien diese Anordnung geschah. Wobei dies zugegebenermaßen nur äußerst wenige durchschauten.
 

Die Hokage sparte es sich, Shikamaru von dem für ihn offensichtlichen Einbruch zu unterrichten, und sagte ihm lediglich, was gestohlen worden war. Augenblicklich zeichneten sich mögliche Situationen in Shikamarus analytischem Verstand ab, die Motiv, Gelegenheit und Fertigkeit mit in Betracht zogen. Wer würde von dieser Information profitieren? War ein Otonin der Einbrecher?

Es dauerte einen Wimpernschlag, um zu determinieren, wer definitiv nicht hinter diesem Diebstahl steckte. Und wenn Shikamaru die Hokage näher betrachtete, wie sie mit einer tiefen Falte zwischen den Augenbrauen auf ihrer Unterlippe kaute, war er sich sicher, dass sie schon ganz genau wusste, an wen sie sich zu wenden hatte.

"Wo ist Naruto?" fragte er unvermittelt.

Tsunade tippte mit der einen Hand auf ihren verschränkten Oberarm. "Weg" sagte sie nur.

Shikamaru stieß geräuschvoll die Luft aus. "Sind die Anbu-Einheiten informiert?" Tsunade bestätigte mit einem knappen nicken.

"Der Großteil ist auf dem Weg. Ich hatte gehofft, dass sie die Sache ohne weitere Störungen über die Bühne bringen könnte."

Shikamaru blickte an Tsunade vorbei aus dem Fenster, durch das er einen Großteil des sich im Halbkreis um das Haus ausdehnenden Dorfes sehen konnte. Er konnte es von seinem Standpunkt aus nicht erkennen, doch er wusste ungefähr, wo das Haus lag, dessen obere Wohnung Naruto sein Zuhause nannte. Iruka hätte sie unangetastet vorgefunden: Ninjaausrüstung, Kleidung und Stirnband wären noch da. Wenn sie Glück hatten, kam er noch einmal zurück. Er würde nicht gehen, ohne sich von Sakura zu verabschieden.

"Ich werde ihn aufhalten" sagte Shikamaru mit der Bestimmtheit, die er sich angewöhnt hatte, nachdem Tsunade ihn zum ersten Mal als Teamleiter zu einer Mission schickte und er hatte lernen müssen, mit Autorität hinter seiner Überzeugung zu stehen. Doch er wusste auch, dass er es allein nicht schaffen würde.

"Ich werde Kakashi Bescheid geben" erriet Tsunade, was Shikamaru auf der Zunge lag.

"Was ist mit Jiraiya-sama?"

"Ist auf dem Weg von Otogakure hierher. Er war seit über zwei Wochen nicht mehr in Konoha, sollte aber noch heute Nachmittag eintreffen."

Shikamaru nickte. Viel Zeit würde ihnen nicht bleiben.
 

Vor der Tür zu Tsunades Büro huschte eine kleine schwarze Maus entlang, hangelte sich zu einem der offenen stehenden Fenster, die den Flur säumten, hoch und balancierte einen dünnen Ast eines Baumes entlang, der direkt neben dem Fenster stand, auf eine schwarz gekleidete Person zu, die geduldig in ihrem Versteck inmitten der dichten Baumkrone wartete. Sie saß vollkommen still, bis sie das winzige Nagetier auf sich zutrippeln sah, und streckte ihm den offenen Handteller entgegen. Wortlos übermittelte die Maus ihre Botschaft, bevor sie sich in einem Wirbel schwarzer Tinte auflöste. Sai lächelte zufrieden und machte sich auf den Weg gen Nordwesten.
 

Shikamaru stand auf der Balustrade, von dem aus Naruto so gerne das Treiben im Dorf beobachtete. Durch eines der zu beiden Seiten der Wohnung hinausblickenden Fenster spähte er in Narutos Küche und wurde zu seinem Erstaunen von Sais Anblick begrüßt, der rechts von ihm vor einem mit Kräutertöpfen beladenen Regal stand. Am ganzen Körper verteilte Verbände unterstützten Shikamarus Annahme, nach der Sai sich eigentlich nach wie vor im Krankenhaus hätte befinden müssen.

Sais Gesicht, das sonst immer dieses aufgesetzte Lächeln trug, war nun ernst, fast sorgenvoll, als er ihn bemerkte und sich ihm zuwandte. Am anderen Ende des Zimmers wühlte Naruto gerade in seinem Küchenschrank herum und schien Shikamaru noch nicht bemerkt zu haben. Der Chūnin hob den Falken von seiner Schulter, der ihm vor Kurzem noch die Nachricht Godaimes überbracht hatte, holte zwei fingernagelgroße Kugeln, eine rote und eine grüne, aus seiner Hosentasche und hielt dem Vogel letztere hin, der sie mit dem Schnabel packte und sicher zu Tsunade bringen würde.
 

Sai hatte es satt, den lieben langen Tag im Krankenhausbett zu verbringen, abgeschnitten von der Außenwelt, deren Neuigkeiten nur Bruchstückhaft zu ihm drangen. Nach Kyūbis Ausbruch hatte er zwei Tage im Koma gelegen, und auch jetzt, einige Heilungseinheiten später, mit noch immer nicht komplett verheilten Rippen, Nähten und unzähligen Überbleibseln von Prellungen und Blutergüssen am ganzen Körper zu kämpfen, die weder das Laufen noch Liegen angenehm gestalteten. Sie waren allerdings auch lange kein Grund, weiter seine Zeit untätig zu verschwenden. Er wusste, dass er vorerst nicht damit rechnen konnte, für Missionen eingesetzt zu werden – weder als Anbu noch Teil der Nijū Shōtai –, weshalb ihm die essentiellen Informationen derzeit vorenthalten wurden. Also war er auf eigene Faust losgezogen. Sai hatte sich in den Kopf gesetzt, den Bund Narutos und Sasukes zu schützen, und er würde nicht zulassen, dass Naruto sein Versprechen brach.

Er fühlte sich nicht wohl dabei, seine Gaben gegen die eigenen Verbündeten einzusetzen, doch nur dank seiner zahlreichen kleinen Spione erfuhr er von Irukas Sorge um Narutos Verschwinden und dem Einbruch in Godaimes Büro – nicht zuletzt Grund genug, sich kurzerhand selbst zu entlassen.

Er erreichte Narutos Wohnung nur Kurz vor ihrem Bewohner. Aus Richtung des Friedhofes kommend hatte Naruto den Weg über die Dächer gewählt, um so allzu neugierigen Blicken zu entgehen.

Sai beobachtete mit großem Interesse die Veränderung in seiner Körpersprache. Der sonst so extrovertierte, vor Energie übersprudelnde Shinobi wirkte nun zurückhaltend, regelrecht abweisend. Sein Blick war argwöhnisch, seine Haltung angespannt; die Mimik spiegelte sein aufgewühltes Inneres wieder. Naruto war nie gut darin gewesen, seine Gefühle zu verbergen. Sein Gang wirkte etwas gestelzt, als er die Dachterrasse entlang und an Sai vorüber zu seiner Wohnungstür lief.
 

Naruto ignorierte den Anbu geflissentlich, während er den kleinen Flur betrat und nach rechts abbiegend das Zimmer durchquerte, das ihm als Wohn- und Schlafraum diente, nebenbei seinen Rucksack, den er bei längeren Missionen immer bei sich trug, mit einigen auf dem Boden liegenden Kleidungsstücken und Waffen füllend.

Sai blieb neben Narutos hoffnungslos überladenem Tisch auf dem Teppich stehen und sah sich in dem Chaos um ihn herum um. Er wusste nicht, wie Naruto aufgewachsen war, doch der fehlende Einfluss elterlicher Fürsorge schlug sich sehr in der Einrichtung wieder. Für Naruto mochte es ausreichen, doch es war ersichtlich, dass er nicht auf Besuch vorbereitet war. Das auffallende Fehlen von Bildern deutete Sai als Relikt seiner sozial ausgegrenzten Vergangenheit, in der es keine Gelegenheit für Fotos mit Freunden und Familie gegeben hatte. Den einzigen Fotorahmen, den Sai auf der Kommode neben Narutos Bett erblickte, war von diesem mit der Bildseite nach unten aus seinem Blickfeld verbannt worden. Er betrachtete das Foto von Team 7 eine Weile interessiert, ehe er es, nun wieder aufrecht, zurückstellte.
 

Naruto war so sehr damit beschäftigt, den anderen zu ignorieren und demonstrativ seinen Rucksack nun in der Küche weiter mit allem voll zu stopfen, was ihm für seine bevorstehende Reise nützlich erschien, dass er nicht einmal bemerkte, wie Shikamaru von außen durchs Fenster schaute. Sai trat an die Glasscheibe heran, doch der Nara-Sprössling war da schon aus seinem Blickfeld verschwunden.

"Was ist aus deinem Versprechen geworden?" brach Sai schließlich unvermittelt die Stille und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand zwischen Fenster und Herd, die Arme vor der Brust verschränkt und Naruto bei seinem Treiben beobachtend. Der schien jedoch unberührt von seinen Worten, wühlte aber auffällig lange im Kühlschrank herum, der außer ein paar Packen sich in unterschiedlichen Stadien zwischen Sahne und Rahm befindender Milch und undefinierbaren Essensresten nichts beinhaltete.

"Ich dachte, du hältst immer deine Versprechen. Ich dachte, das wäre Teil deines Nindō…"

Wütend fuhr Naruto aus seiner hockenden Position hoch und schlug dröhnend die Kühlschranktür zu. "Das geht dich einen Dreck an!" schrie er, von einem Zorn gepackt, den Sai von ihm nicht kannte. Seine ruhige Stimme stand in starkem Kontrast zu Narutos.

"Du sagtest, du würdest nicht eher ruhen…"

"Und nun werde ich nicht eher ruhen, bis ich den Mörder Sakuras zur Strecke gebracht habe!"

Das Schellen der Klingel drang durch die kurze Stille, die auf seinen Ausbruch folgte. Naruto ballte die Hände zu Fäusten und stampfte regelrecht zu seinem auf dem Esstisch platzierten Rucksack, während Sai sich ein wenig nach vorn beugte, um einen Blick durch den Durchgang zum Flur auf die noch einen Spalt offen stehende Wohnungstür zu werfen. Als Naruto sein Gepäck schulterte streifte sein Blick das Stirnband, das in seinem Wüten aus dem Rucksack und unter den Tisch gefallen war. Ein Klopfen am Schuhschrank neben dem Eingang ließ ihn herumfahren.

"Lange nicht gesehen, Naruto" sagte Shikamaru, eine Hand zum Gruß erhoben, betont gleichgültig, als bemerke er die Aufbruchsstimmung, die der Blonde versprühte, überhaupt nicht. Naruto tat es ihm gleich und stopfte sein Stirnband zwischen seine anderen Habseligkeiten, ohne ihm Beachtung zu schenken.
 

Fast fluchtartig schlug Naruto den Weg zur Wohnungstür ein, nicht gewillt, sich aufhalten zu lassen oder noch einmal zurückzusehen. Er hatte einen Entschluss gefasst, und er würde davor nicht mehr zurückschrecken. Sasuke würde für seinen Verrat bezahlen.

Ohne einen Blick stürmte er an Shikamaru vorbei und schreckte zurück, als Iruka keuchend vor ihm auftauchte. Er hatte Shikamaru hektisch aus Tsunades Büro stürmen sehen und war sofort aufgebrochen, nachdem er hörte, was passiert war, während Godaime nach Kakashi schickte. Tsunade hoffte inständig, Narutos Lehrer und Vormünder würden ihn wieder zur Vernunft bringen können. Seit Sakuras Tod hatten die Ältesten sie ununterbrochen dazu aufgefordert, den Jinchūriki endlich in Gewahrsam zu nehmen. Verbittert kämpfte sie noch immer darum, ihm nach allem, was geschehen war, nicht auch noch seine Freiheit zu nehmen, doch Danzō hatte ihr angedroht, darüber abstimmen zu lassen, ob Tsunade nach Meinung des Rates noch die für einen Hokage nötige Objektivität besaß, wenn sie sich weiter quer stellte. Sie konnte sich nur zu gut die Reaktionen auf die neueren Entwicklungen vorstellen.
 

"Du darfst nicht gehen" schmetterte Iruka seinem Schützling entgegen, der ihm mit Ablehnung begegnete.

"Ich weiß jetzt, wo Sasuke sich verkrochen hat" antwortete Naruto und es klang, als wolle er sich rechtfertigen.

"Du bist in Godaimes Büro eingebrochen!" schrie Iruka einfach weiter und warf unbeholfen seine Hände in die Luft, wie damals, als er Naruto Woche um Woche neue Standpauken halten musste, weil der Junge wieder irgendeine Dummheit begangen hatte.

"Meine Kagebunshin" verbesserte Naruto.

Iruka fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er atmete tief ein, um sein aufgewühltes Inneres, die nagenden Schuldgefühle, zu beruhigen.

"Wo bist du gewesen? Ich… Wir haben dich überall gesucht. Ich habe mir Sorgen gemacht."

Naruto winkte ungeduldig ab und schob seinen ehemaligen Lehrer grob zur Seite, als Iruka nicht den Anschein machte, dies in nächster Zeit von sich aus zu tun.

"Naruto!" rief der Chūnin und packte den Jungen am Ärmel seiner Jacke. "Was willst du Godaime sagen?"

Naruto drehte sich noch einmal um. "Ich habe nicht vor, Baa-chan irgendetwas zu sagen."

"Du willst also ohne Erlaubnis gehen?"

Naruto riss sich los. "Ich brauche keine Erlaubnis. Nicht für das hier."

"Es ist deine Pflicht als Ninja, deinem Kage Rechenschaft abzulegen! Er allein erteilt dir Aufträge, ob du willst oder nicht!"

Naruto wandte sich abrupt zum Gehen.

"Naruto!"

"Ich werde zuerst zu Tsunade baa-chan gehen" räumte der Junge ein. "Versprochen."

Iruka atmete erleichtert auf, das Rumoren in seinem Inneren dämpfend. Anscheinend besaß sein Schützling noch genügend Verstand, um es nicht Sasuke gleich zu tun. Tsunade würde ihm hoffentlich klar machen, dass sie eine Kamikaze-Mission wie diese nicht erlaubte.

Er spürte eine Hand auf seiner Schulter.

"Ich passe auf, dass er auch tatsächlich zu ihr geht" sagte Shikamaru, während er sich an ihm vorbeischob. Auch Sai wollte den beiden folgen, doch Iruka hielt ihn bestimmt zurück, argwöhnisch die Verbände betrachtend.

"Bist du sicher, dass du schon wieder fit bist?"

Sai schenkte ihm sein typisches Lächeln. "Ich habe gelesen, dass man diejenigen, die einem nahe stehen, in schweren Zeiten unterstützen soll. Ich habe nicht vor, meine Zeit im Krankenhaus zu verschwenden."
 

Naruto hielt sich nicht lange mit Höflichkeiten auf sondern stürmte ohne anzuklopfen in Tsunades Büro, in dem die Hokage erschrocken von einem Stapel Papiere aufsah, den sie soeben ordnete.

"Naruto!" rief sie überrascht. Der Junge ließ sich keine Form von Reue anmerken und entschuldigte sich nicht.

"Ich werde zu ihm gehen" sagte er stattdessen. Hinter Naruto traten Shikamaru und Sai durch die Tür. Tsunades Blick blieb etwas länger auf Sai hängen, doch sie sagte nichts zu seiner nicht weniger unerwarteten Anwesenheit.

"Und was willst du tun, wenn du ihn gefunden hast?" fragte Tsunade sachlich.

"Meine Pflicht als Ninja erfüllen und den Verräter eliminieren."

"Das ist jetzt Aufgabe der Anbu, Naruto."

"Nukenin hin oder her – er ist mein Teammitglied, also ist es auch meine Verantwortung."

Godaime runzelte die Stirn über Narutos Tonfall. Sie hatte befürchtet, dass Sakuras Tod Veränderungen nach sich ziehen würde, doch mit diesem Extrem hatte sie nicht gerechnet. Entgegen den üblichen Stufen der Trauer hatte er den Unglauben ausgelassen und war direkt zum Zorn übergegangen, die Verzweiflung hatte einer grimmigen Entschlossenheit Platz machen müssen. Der Verlust seines Teammitglieds schien all seine Überzeugungen in den Grundfesten erschüttert zu haben.

"Du musst mich gehen lassen!" rief Naruto, und dieses Mal hatte seine Stimme wieder etwas von ihrer gewohnten Trotzigkeit, Sturheit.

"Ich muss überhaupt nichts" widersprach Tsunade kategorisch. "Auch wenn du es oft zu vergessen scheinst bin ich Kage dieses Dorfes; ich erteile dir deine Aufträge, ich entscheide, welche Missionen du begleitest."

"Aber-"

"Du bist ein Ninja, Naruto! Du bist ein Werkzeug Konohagakures, das allein meinen Befehlen zu gehorchen hat! Ich könnte dich für dein Vergehen schwer bestrafen lassen!"

Naruto ballte die Hände zu Fäusten, die Zähne so fest aufeinander gepresst, dass sein Kiefer schmerzte. Tsunade war, als wirkten die narbengleichen, an Schnurhaare erinnernden Male auf Narutos Wangen etwas präsenter, als sei die blaue Farbe seiner Augen von einem schwachen, rötlichen Schimmer überzogen. Sie konnte seine Wut förmlich spüren. Es tat ihr weh, ihn so zu sehen, seinen Schmerz durch ihre Entscheidung noch verstärken zu müssen, doch selbst, wenn sie nicht dem Druck der Ältesten nachgeben müsste, wäre Naruto der Letzte gewesen, den sie auf diese Mission geschickt hätte. Nicht nur, weil er kein Anbu – ganz im Gegenteil sogar nur ein Genin –, sondern weil sie sicher war, dass ein Zusammentreffen mit Sasuke unter diesen Umständen auch noch den letzten Rest des Narutos, wie sie ihn kannte, vernichten würde.
 

Ungewollt richtete Tsunade sich ein wenig auf, als Naruto näher an ihren Tisch herantrat, fast, als würde sie tief in ihrem Inneren einen Schritt rückwärts tun wollen. Der Junge zog seinen Rucksack vor sich, griff seitlich in ihn hinein, ohne auch nur für einen Moment den Blickkontakt mit ihr zu brechen, und warf sein Stirnband vor ihr auf ihre Papiere. Tsunade musste sich dazu zwingen, nicht danach zu greifen, den Blick zu halten, auch wenn sie nicht verhindern konnte, dass sich eine Furche zwischen ihren Augenbrauen bildete.

"Ich habe Sakura versprochen, Sasuke zurückzubringen. Ich habe ihr auf meinen Nindō geschworen, ihn nicht zu einem Verräter Konohas werden zu lassen. Ich konnte mein Versprechen nicht halten, also darf ich mich auch nicht mehr einen Shinobi nennen. Wenn ich sie rächen will, kann ich kein Ninja mehr sein."

Naruto war schon auf halbem Weg zurück zur Tür, vor der Shikamaru und Sai in Schweigen gehüllt verweilten, als Tsunade schließlich "Die Ältesten werden dich nicht gehen lassen" hervorpresste, etwas atemlos, da sie diesen ohne es zu merken angehalten hatte.

"Das ist mir egal."

"Du wirst wie Sasuke enden."

"Dann sei es so!"

Naruto stieß Shikamaru mit der Schulter an, als dieser sich ihm in den Weg stellen wollte. Der Chūnin schien nicht sicher, ob er ihn mit Gewalt aufhalten sollte, doch Naruto ließ ihm nicht die Zeit, sich zu entscheiden, und verschwand ohne ein weiteres Wort, Godaime perplex und ein wenig hilflos zurücklassend. Sie nickte Shikamaru zu, der daraufhin sofort die Verfolgung aufnahm, Sai dicht an seinen Fersen.
 

Naruto steuerte direkt auf die Tore des Dorfes zu, weshalb Shikamaru befürchtete, dass sie ihn vielleicht verlieren könnten, sobald er den Wald erreichte; er wusste seine Kagebunshin mittlerweile meisterhaft einzusetzen. Das Schicksal war dem Flüchtenden jedoch alles andere als hold. Jiraiya hatte Konoha erst vor wenigen Minuten erreicht und auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude Naruto über die Dächer huschen sehen. Trotz seines Alters war der Sannin noch immer schneller als sein Schüler und erreichte den Dorfeingang Augenblicke vor dem Jungen, der – trotzdem sich alles in ihm sträubte – noch einmal vor seinem Lehrer halt machte, seine beiden Verfolger an den Flanken.

"Fehlt euch eine Person?" begrüßte Jiraiya die drei scherzhaft, obwohl er sofort spürte, dass etwas nicht in Ordnung war.

"Wo ist dein Stirnband?" wollte der Sannin sogleich mit ernster Stimme wissen.

"Ich habe es abgelegt" sprach Naruto die Worte, die Jiraiya bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihn die Nachricht von Sakuras Tod erreichte, noch für unmöglich gehalten hatte, jemals aus seinem Mund zu hören.

"Was soll das bedeuten?" verlangte Jiraiya zu wissen, doch Shikamaru nahm Naruto die Antwort erstaunlich gefasst ab.

"Es bedeutet, dass Uzumaki Naruto vom heutigen Tag an aus freien Stücken den Weg der Ninja Konohagakures verlässt, um Uchiha Sasuke zu folgen. Und zu richten."

Die gezwungene Ruhe in Jiraiyas Innerem wandelte sich über einen kurzen Ausflug in die Richtungen Entsetzen und Hysterie zu einem Ausbruch von Rage und Unverständnis, als er seinem regungslosen Schüler all dessen Idiotie entgegen schrie. Für einen Moment schien es, als wolle der Sannin ihm eine Ohrfeige verpassen, doch auch dann blieb Naruto still, wo er war. Er hätte sie verdient. Verbissen mied er jeden Blickkontakt, starrte stattdessen auf die erhobene Hand seines Meisters, während in ihm ein Sturm tobte, der jedes Wort, das zu ihm durchdrang, auffraß und nichts als Leere zurückließ.
 

Jiraiya packte den Kragen von Narutos Jacke und zog ihn zu sich heran, spie ihm regelrecht "Ist dir dein Versprechen nichts mehr Wert?!" ins Gesicht.

"Ich werde Sasuke zurückbringen" widersprach Naruto tonlos. "Wenn er nicht aus freien Stücken mitkommt, dann in anderen."

Unwillkürlich schreckte Jiraiya vor den dämonischen Zügen Kyūbis zurück, die sich für einen kurzen Augenblick auf Narutos Gesicht legten, und ließ ihn los. Jetzt war er sich sicher, dass er nicht mehr nur seinen Schützling vor sich hatte. Die mentale Sperre zwischen dem Jinchūriki und seinem Bijū schien gebrochen, der Dämon siegreich.

"Ist es das, was Sakura-san gewollt hätte?" fragte Sai auf einmal, den Naruto schon völlig vergessen hatte. Sein Teammitglied studierte seine Mimik, als suche er nach einem letzten Funken Zweifel, doch Naruto schien alle Vernunft aufgegeben zu haben, an deren Stelle nun seine zerstörerische und endgültige Entschlossenheit getreten war.

"Lass etwas Zeit vergehen, Naruto" bat Jiraiya. "Du weißt ja nicht, was du tust. Was ist mit deinem Traum, Hokage zu werden?"

Sein Schüler konnte ihm noch immer nicht in die Augen sehen, doch seine Wut erreichte ihn auch so. Naruto blickte auf seinen linken Handrücken, auf dem die verblasste Narbe einer Wunde zu sehen war, die er sich einst selbst zufügte, die Worte auf den Lippen, nie wieder Hilfe zu brauchen, sich nie zu fürchten, nie vor irgendetwas davonzulaufen und niemals wieder gegen Sasuke zu verlieren; und der Überzeugung, dass dies seine Wahrheit war und Teil seines Ninjaweges und dass er ihn niemals verlassen würde.

"Ich konnte nicht einmal Sakura-chan retten" wiederholte er die Worte, die das Erste waren, an das er dachte, wenn er am Morgen aufstand und das Letzte, wenn er des Nachts wach lag und die Zeit verfluchte. Er würde niemals Hokage werden. Alles, was ihm blieb, war, denjenigen zur Rechenschaft zu ziehen, der Sakura – und ihm selbst – das Leben genommen hatte. Das war sein letzter Wille. Das war seine letzte Motivation.
 

Der erste Schritt war der schwerste. Mit ihm verschloss er sein Herz und meißelte in es den Willen, dieses Dorf, das er so sehr liebte, wie er es seit Sakuras Tod hasste, und all jene, die ihn bis zu diesem Punkt begleitet hatten, zurückzulassen und zu vergessen.

Mit dem zweiten Schritt trat er vor sein zweites Ich, das in seinem Inneren verschlossen war und schon sein ganzes Leben lang ungeduldig auf diesen Moment gewartet hatte.

Der dritte besiegelte ihr Abkommen.

Mit dem vierten Schritt durchtrat er die Tore von Konohagakure no Sato als Genin Uzumaki Naruto.

Mit dem fünften verließ er seine Heimat als bloßer Schatten seiner selbst.
 

"Es ist sinnlos" sagte Jiraiya zu Sai und Shikamaru, die im Begriff waren, dem Jungen zu folgen. "Er ist längst fort."

Erfüllt von Enttäuschung und Bitterkeit schaute er seinem Schüler hinterher. Er wandte seinen Blick erst ab, als der Kagebunshin das Jutsu löste.



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