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Die Geister die wir riefen...

von

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Wo immer Galux sie jetzt auch hinführte, es wurde zunehmend kälter. Bald zog sich über die harten, kantigen Felsen eine feine Eisschicht und da die Gruppe schon einmal in der Fugaku Höhle gewesen war, ahnten sie, dass der Ausgang nicht mehr weit sein konnte. Tyson erinnerte sich, dass sie bei ihrem Ausflug dorthin, rutschfeste Schuhe tragen sollten. Etwas das sie jetzt auch hätten gebrauchen können. Es kam nicht selten vor, dass einer von ihnen auf seinem Hinterteil landete. Das erschwerte ihr vorankommen. Zudem nagte auch noch die Gewissheit an ihnen, dass jene Kammer, welche sie hinter sich gelassen hatten, bald überflutet sein könnte und die Wassermassen dann eine Etage steigen würden. Allein der Gedanke jagte Tyson eine Gänsehaut über den Rücken. Der Gang den sie jetzt durchmaßen, war glücklicherweise weitaus größer, als der beengende Stollen, der Tyson zuvor den Atem abgeschnürt hatte. Zwar fühlte er sich noch immer eingezwängt, doch es war im Bereich des erträglichen. Irgendwann fiel Tyson jedoch auf, dass eine Person fehlte.

Die fliesende Geistergestalt…

Sie war nicht mehr bei ihnen. Ihm ging durch den Sinn, wie verängstigt ihre Gestik gewirkt hatte, als der Stollen überflutet wurde. Bei der Erinnerung an diesen Geist, biss er sich auf die Unterlippe. Er hätte gerne mit seinen Freunden darüber gesprochen, doch so hektisch wie sie durch die verwinkelten Höhlengänge stolperten, war dafür einfach keine Zeit mehr.

Momentan war alles reine Spekulation – und für die wollte er niemanden in Gefahr bringen.

Galux hielt plötzlich vor ihnen inne. Ihr glimmender Schein, ließ das Eis um sie herum, das Licht reflektieren. Als die Gruppe bei ihr ankam, endete auch dieser Gang in einer weiten Kammer. Vor ihnen fiel der Weg steil ab. Die glänzende Eisschicht ließ den Pfad wie eine natürliche Rutschte aussehen, welche im Nirgendwo weiterging. Alles außerhalb von Galuxs Schein, lag im Dunkeln verborgen.

„Man sieht kaum das Ende.“, stellte Ray fest. Das Klappern seiner Zähne war zu vernehmen. Ihnen allen war furchtbar kalt. Kai hatte bereits blaue Lippen und sah ziemlich müde aus. Einige Male mussten sie das Kind bestärken wach zu bleiben, bis Tyson ihn von seinem Arm nahm und ihm befahl selbst zu laufen. Es war nicht böse gemeint, aber in einer solchen Kälte wegzunicken, konnte tödlich enden.

„Ich habe kein gutes Gefühl dabei da hinunterzurutschen.“, Max begann zitternd seine Arme durch die Enden seines Overalls zu schieben. Für gewöhnlich hielt er die Ärmel immer um seine Hüften geschlungen. „Die Oberfläche ist spiegelglatt und wenn wir bei voller Fahrt hinuntersausen, können wir uns nirgends festhalten.“

„Euch bleibt keine andere Wahl.“, stelle Galux klar.

„Aber wir können nicht einmal sehen, wo der Weg endet. Alles dort unten ist Zappen duster.“

„Ihr werdet mir vertrauen müssen.“

Max blickte unsicher zu Tyson, schlug dabei mehrmals mit überkreuzten Armen auf seine Schultern, um die Kälte aus seinen Gliedern zu treiben.

„Was… Was meinst du?“

„Sie hat uns so weit gebracht und ich vertraue ihr.“, auch Tyson bibberte. Es gelang ihm kaum das Zittern aus seiner Stimme zu verjagen.

„Ein wahres Wort, mein Junge.“, pflichtete Allegro bei. „Nun habt ihr es auch soweit geschafft, also lasst euch nicht von einer kleinen Rutschpartie einschüchtern.“

Sie blickten sich an, da kam von seinen Freunden ein zögerliches Nicken zurück.

„Ich gehe zuerst hinab.“, sprach Galux. Sie tippelte vorsichtig an den Rand, denn auch ihr schien die glatte Oberfläche nicht ganz geheuer. „Versucht in einer geraden Bahn hinunterzugleiten. Ich werde dort unten auf euch warten.“

Damit tat sie einen Satz vorwärts. Als das Bit Beast hinabsauste, erhellte ihr Schein die Umgebung, wie eine Laterne, die auf einem Schlitten einen Berg hinunterschlitterte. Tyson wagte nicht zu blinzeln, als er ihr nachstarrte, dabei versuchte er abzuschätzen, wie tief es hinabging. Seine Pupillen verfolgten den Lichtkegel. Es dauerte beunruhigend lange, bis er endlich als kleiner Punkt in der Ferne, still verweilte.

„Sie schaut aus wie ein winziger Leuchtturm.“, stellte Kai kindlich fest. Darauf ging ein kurzes Schmunzeln durch die Gruppe, da der Vergleich tatsächlich sehr treffend war.

„Okay, also es bringt nichts es weiter vor sich her zu schieben.“, sprach Ray schließlich leicht nervös. „Wenn ihr nicht unbedingt wollt, mache ich den Anfang.“

„Pass bloß auf, mein Junge. Bemüh dich wirklich dieselbe Bahn wie Mademoiselle Galux einzuschlagen.“

„Ich fürchte darauf habe ich kaum Einfluss, aber versuchen kann man es ja mal.“

Damit trat er vor und setzte sich an den Rand. Es brauchte eine Weile bis er sich getraute, dann sahen sie ihn einen tiefen Atemzug nehmen und kurz darauf, stieß er sich von der Kante ab. Rays Gestalt sauste die Oberfläche herab, sein langer Zopf wehte ihm hinterher und anders als bei Galux, verschmolz seine Silhouette irgendwann mit der Finsternis um ihn herum. Die Verbliebenen hielten inne, horchten genau, ob ein Schmerzensschrei kam, doch kurz darauf vernahmen sie lediglich Rays Stimme, die aus der Ferne verkündete, dass er in Ordnung war. Max wandte sich Tyson zu.

„Einer von uns sollte den Kleinen nehmen.“

„Ich mache das.“

„Dann gehe ich zuerst. Falls ihr ungeschickt aufkommt, können wir euch unten auffang-…“

„Still ihr zwei!“

Augenblicklich verstummten sie. Tysons Blick huschte auf Maxs Schulter, wo Allegros winzige Mäuseohren wie verrückt zuckten. Er legte den Kopf auf die Seite und begann sich zu sträuben.

„Oh oh! Seht zu das ihr beide hinabsaust!“

Noch bevor einer von ihnen fragen konnte, weshalb, hörten sie es. Etwas kam Schlag um Schlag näher. Es folgten Erschütterungen auf jedes Dröhnen, was den Wänden mit jedem Folgebeben, eine kleine Erdschicht entriss. Sie fiel in einem kleinen Rinnsal von der Decke. Der Untergrund vibrierte.

„Los runter!“, sprach Tyson.

„Etwa alle zusammen?“

„Ja doch! Schnell!“

Max setzte sich an die Kante und stieß sich ohne weitere Umschweife ab. Gleich danach schwang Tyson seine Beine über den Rand und folgte ihm mit Kai. Der kühle Fahrtwind rauschte an seinen Ohren vorbei. Er fühlte die eisige Höhlenluft auf seinen Wangen, sah Maxs Rücken weniger Meter vor sich und fühlte wie kalt sein Hosenboden, durch die rutschige Oberfläche unter ihm wurde. Kai klammerte sich auf seinem Schoss an ihm fest. Er fühlte wie die kleinen Finger sich in die Ärmel seiner Jacke vergruben. Gleich darauf kam ein finaler Schlag von oberhalb, der die Erde erzittern ließ. Noch bevor Tyson etwas sah, spürte er es…

Feine Steinbrocken die auf seinen Körper regneten, gefolgt von einem Lärm, der unangenehm in der Kammer schallte. Er riskierte einen Blick hinauf und erspähte zwei grelle Gestalten, die durch die Wand hinter ihnen brachen. Offensichtlich hatten die kämpfenden Uralten es nun doch riskiert, sich der klammen Enge ihrer menschlichen Hüllen zu entledigen. Dabei brachten sie die Höhlenwand zum Einsturz, wie zwei unkontrollierte Abrissglocken. Dragoons bläuliche Silhouette flog über den Raum hinweg, wand sich schlangenhaft zwischen den herabhängenden Tropfsteinen hindurch, um so viel Abstand, wie irgendwie möglich von Draciel zu gewinnen.

Max Bit Beast war dagegen schwieriger auszumachen. Zwar ging von den Konturen der Schildkröte ein violetter Glanz aus, doch ansonsten war der Körper der massigen Schildkröte, mit einer pechschwarzen Panzerung umsäumt. Tyson hörte ein beunruhigendes Donnern hinter sich, spürte wie die Erde bebte, da schnellte sein Kopf nach vorne und er erblickte endlich die Gestalt von Galux, der sie sich rasant näherten. Sofort als Max auf dem Boden aufkam, rollte er sich weg, damit Tyson nicht in ihn hineinsauste. Gleich danach fühlte er unter seinen Füßen eine rutschige Oberfläche. Gemeinsam mit Kai, schlitterte er zunächst einige Meter weiter, bis auch er endlich Halt fand. Dann spürte Tyson auch schon ein paar kräftige Hände, die ihn auf die Beine hievten.

„Wir müssen weg von hier!“, sprach Ray hektisch, doch bevor sie wegrennen konnten, zwang sie eine weitere Erschütterung in die Knie. Als Tyson zu den kämpfenden Uralten spähte, erkannte er, dass die Felswand, welche sie kurz zuvor noch hinabgerauscht waren, in sich zusammen gebrochen war. Selbst von dem Durchgang den sie benutzt hatten, um in diese Kammer zu gelangen, war nicht mehr viel übrig, als ein klaffendes Loch. Der Rückweg hatte sich in ein Trümmerfeld verwandelt, der zwischen den einzelnen Gesteinsbrocken unzählige Lücken ließ, die den Wassermassen aus dem vorherigen Raum, Tür und Angel öffneten, um nun auch in diesen Teil der Höhle zu gelangen. Plötzlich schlug etwas wenige Meter neben ihnen ein, dass die Jungen sich einen entsetzten Schrei nicht verkneifen konnten.

„Um Himmelswillen!“, vernahm Tyson Allegros panische Stimme. „Dieser Wahnsinnige von einem Drachen schlägt die Tropfsteingebilde über uns von der Decke!“

Als er aufsah um sich selbst ein Bild zu machen, leuchtete ihm endlich Dragoons Taktik ein. Sein Bit Beast säbelte die kegelförmigen Stalaktite mit seinem Schweif ab, um Draciel damit zu treffen. Da die Schildkröte unfähig war zu fliegen, befand sie sich direkt in der Schusslinie, als die Gesteinsgebilde, mit der Spitze voraus, auf das Bit Beast zu sausten. Tyson beobachtete wie es den Kopf einzog, um sich in der natürlichen Panzerung zu verkriechen. Zwar waren dadurch die weicheren Stellen des Körpers geschützt, doch ganz so spurlos ging der Zusammenprall, von harten Fels auf Knochenpanzerung, nicht von statten. Er hörte Draciels lautes Grölen, es klang schmerzverzerrt und kurz darauf, zeichnete sich eine weitere violette Linie auf der Panzerung ab, offenbar ein Riss der sich aufgetan hatte. Unter solchen Bedingungen hatte Maxs Bit Beast noch nie Kämpfen müssen.

Beim Anblick dieser erbarmungslosen Brutalität zwischen den Uralten, riss Tyson panisch die Augen auf und schluckte hart. Er schnappte sich Allegro vom Boden, der einen japsenden Ausruf von sich gab, dann leuchtete er mit dessen spärlichen Licht ihre Umgebung ab. Plötzlich bemerkte er, dass etwas nicht stimmte.

„Ich muss doch bitten! Sehe ich aus wie eine ordinäre Taschenlampe!“, brüskierte sich die Springmaus in seiner Faust. Tysons Kopf schnellte jedoch zu seinen übrigen Freunden als er nicht fündig wurde. „Wo sind Max und Galux?!“
 


 

*
 

Es war ruhig geworden, nachdem Mariah den Neuankömmlingen von den Vorfällen der letzten Stunden berichtet hatte. Sie musste zugeben, sowohl Kenny, als auch seine Begleiterin, waren angenehmere Zuhörer als Mr. Kinomiya. Der war ihr ständig ins Wort gefallen, als Galux sie vor der bevorstehenden Gefahr warnte, weil er seine Neugierde nicht im Zaun halten konnte. Der gute Mann war einfach sehr impulsiv und wetterte damals, dass er sich nicht von einem Bit Beast ins Bockshorn jagen lassen würde. Manchmal hatte Mariah das Gefühl, er vergaß schlichtweg, zu was diese Wesen alles fähig waren. Es handelte sich dabei nicht um ungehorsame Hunde, die man an die Leine legte oder in einen Zwinger steckte, wenn sie jemanden gebissen hatten. Kenny schien den Ernst der Lage deshalb sofort zu begreifen.

„Tyson und ich hatten ein Telefonat, kurz bevor Ray und Max nach Japan gekommen sind.“, sein Gesicht war zu einer düsteren Maske geworden bei diesem Satz. „Er meinte damals zu mir, dass Dragoons Blade, in der Nacht zuvor, angefangen hätte zu leuchten. Ich… Ich wollte ihm nicht glauben. Stattdessen habe ich nur zu ihm gemeint, dass er sich bestimmt wieder überfressen hat und deshalb so schlecht geträumt hat.“

Es war nicht zu überhören wie viele Vorwürfe er sich deshalb machte. Dann erzählte Kenny von seinen eigenen Entdeckungen. Mariah war überrascht, als sie zu aller erst erfuhr, wer seine Begleiterin überhaupt war. Sofort als diese sich vorstellte, klatschte sich Mr. Kinomiya an die Stirn und entschuldigte sich dafür, dass er sie nicht sofort erkannt hatte.

„Himmel, wie mir das Leid tut! Da erkenne ich doch glatt das Herzblatt von meinem ältesten Enkel nicht!“, irritiert beobachtete Mariah, wie er der doch recht verdutzten Frau, geradezu überschwänglich die Hand schüttelte, bis ihm der Ring an ihrem Finger auffiel. Er hob perplex die Brauen, starrte auf die Hand und fragte sie, ob Hiro auch etwas von ihren Heiratsabsichten wisse. Mariah sah Hanas Augen tellergroß werden, bis sie Mr. Kinomiya etwas enttäuscht mitteilte, dass Hiro es selbstverständlich wisse – immerhin sei er ihr Verlobter.

Eine unangenehme Stimmung kam auf. Man konnte förmlich spüren, wie peinlich diese Situation dem armen Großvater war. Scheinbar schien man ihn tatsächlich noch nichts davon erzählt zu haben. Kenny zog den Kopf so furchtsam zwischen die Schultern, als befürchtete er Zeuge eines Familiendramas zu werden.

„Ha!“, machte Mr. Kinomiya stattdessen. „Na dann… Willkommen in der Familie!“

Er drückte Hana so plötzlich an sich, dass sie überrascht nach Luft japste. Als er sie wieder entließ, meinte er gutgelaunt: „Erinnere mich daran, Hiro dafür einen mit dem Kendostab überzuziehen.“

„Weil er mich heiraten will?“

„Weil er sein Maul nie aufkriegt! Dieses blöde Gör…“

„Ich dachte wirklich er hätte es ihnen erzählt.“

„Nein. Aber dafür hat man ja einen Kendostab.“

„Aber Tyson hat es doch gewusst! Zumindest ihm hat Hiro von unserer Verlobung erzählt…‘“

„Oh, tatsächlich? Na, dann haben wir schon zwei glückliche Kandidaten für eine Trachtprügel.“

„Ich wollte nicht die Büchse der Pandora öffnen.“

„Keine Sorge, Kleines. So handhaben wir das immer bei uns in der Familie. An die Ruppigkeit wirst du dich gewöhnen müssen.“, er gluckste amüsiert. „Jedenfalls beim männlichen Teil der Familie. Deshalb suchen sich unsere Männer immer Frauen, die etwas mehr Grips in der Birne haben, als sie selbst.“

Dieses ehrliche Geständnis lockerte die Stimmung wieder auf. Mariah musste jedoch an Tyson denken, denn Ray hatte ihr gegenüber einmal erwähnt, dass sein Beutegebiet, keine künftige Nobelpreisträgerin hervorbringen würde. Fassungslos hatte sie ihn angeblinzelt und gefragt, ob er nicht übertreibe.

„Ganz und gar nicht…“, Ray hatte damals entnervt geschnalzt. „Eine von seinen Leuchten, hat mir mal betrunken auf die Schuhe gekotzt. Wollte wohl das bisschen Hirn was noch da war auch loswerden.“

„Wird das nicht langweilig? Ich meine… Über was redet er mit diesen Frauen?“

Sie wusste noch wie Ray sie belächelte. Dann kniff er ihr in die Wange und beteuerte ihr, wie zuckersüß er es fand, dass sie noch immer keine Ahnung hatte, woran Männer hauptsächlich dachten. Erst dann begriff sie, worum es Tyson bei seinen Frauen ankam. Ihr empörter Gesichtsausdruck, ließ ihren Mann aus vollem Halse lachen, dass ihm die Tränen aus den Augenwinkeln traten.

„Kenny, als wir uns die Aufzeichnungen vor dem Krankenhaus angesehen haben, bist du so still geworden.“, holte Hanas Aussage sie aus ihren Gedanken. Hiros Verlobte war während ihrer Schilderung recht ruhig gewesen und einige Male hatte Mariah beobachtet, wie ihre Braue irritiert nach oben zuckte. Es gab Menschen die tatsächlich keine Bit Beasts sehen konnten, selbst wenn sie in der Arena gegeneinander kämpften und Mariahs Intuition sagte ihr, dass auch Hana mit dem Glauben an deren Existenz, ein Problem besaß.

„Diese… Fratzen welche wir auf dem Monitor gesehen haben… Das sollen Bit Beasts gewesen sein?“

Kenny nickte.

„Ich habe mir die immer spektakulärer vorgestellt.“

„Das war nur ein vager Schatten davon. Du hast noch nie eines hautnah erlebt?“

„Hiro hat davon gesprochen, aber so richtig begriffen habe ich das nie. Es klang nach viel esoterischem Humbug. Für mich waren das immer nur Bildchen, auf diesen kleinen Kreiseln.“

„Das sind sie keineswegs!“, erklärte Mariah drängend. „Du darfst sie nicht unterschätzen!“

Hana verschränkte die Arme und bedachte sie mit skeptischen Ausdruck.

„Das ganze übersteigt ehrlich gesagt meinen Horizont. Und ich fürchte, dass der Polizisten auch. Mag ja sein, dass diese Kreisel einmal recht populär waren, aber ich selbst habe im Fernsehen, immer nur einige schwammige Lichtflecken ausgemacht, die für mich eher wie ein unschöner Pixelfleck aussahen.“

Es war das was Mariah erwartet hatte.

Diese Frau dachte zu rational um hinter die Fassade blicken zu können.

„Menschen die sich davor verschließen, haben Probleme ein Bit Beast zu sehen.“, sprach sie ernst. „Es spielen viele Faktoren eine Rolle, wenn ein Bit Beast nicht gesehen werden will. Vor allem bei Erwachsenen, weil ihr Denken zu sehr auf das beschränkt ist, was sie durch Logik schlussfolgern können.“

„Da hat sie recht.“, pflichtete ihr Kenny bei. „Einer Freundin von uns ging es genauso wie dir. Sie konnte einfach partout keine Bit Beast sehen, weil sie sich zunächst komplett davor abgeschottet hat. Bevor wir sie kennengelernt haben, fand sie Bladen bescheuert, zog ihr Wissen lediglich aus Schulbüchern und hat sich schrecklich aufgespielt, weil sie die Klassensprecherin war. Als sie dann endlich Bit Beasts sehen wollte, ließen sie sich lange Zeit nicht vor ihr blicken. Erst als sie die Begeisterung für den Sport entdeckte und sich auch eingestand, das Dinge existieren, die wir Menschen nicht erklären können, gaben sie sich ihr zu erkennen.“

Mariah fragte sich ob er von Hilary sprach.

Etwas Ähnliches hatte ihr nämlich auch einmal Ray erzählt.

„Ich kann nichts dafür, dass ich es langweilig finde, wenn zwei Kreisel in einer Suppenschüssel herumeiern.“, sprach Hana nur genervt. „Es ist ja nicht nur das Bladen was ich schnöde finde. Ich finde Sport an sich ätzend! Mir wird auch nie einleuchten, weshalb Leute gerne Fußball schauen. Zweiundzwanzig Männer, in kurzen Höschen, die stundenlang einem Ball hinterher rennen? Da kann ich ja gleich auf den Hundeplatz gehen…“

Kenny und Mr. Kinomiya wieherten los und auch Mariah musste schmunzeln. Eigentlich hätte sie jetzt sauer sein müssen, weil Hana ihr Hobby so schamlos durch den Dreck zog, doch solche Unterhaltungen hatte sie schon oft geführt. In ihrem Dorf in China, war sie die einzige Bladerin gewesen, da sich die wenigen Mädchen die es dort gab, kaum dafür interessierten. Es war dort als Hobbys für Jungs verpönt. Als Mariah dann ihre zarten Anfänge machte, hatten ihre Freundinnen ihr kichernd vorgehalten, dass sie nur beweisen wolle, dass auch Mädchen darin gut sein könnten.

Zugegeben, es war ein Grund gewesen - aber nicht der Hauptgrund!

An vorderster Stelle stand für sie der Spaß und mit ihrem Team zusammen zu sein, dass für sie zu einer zweiten Familie wurde. Während sich die anderen Mädchen, mit traditionelleren Dingen beschäftigen, wie das Flechten von Körben, besticken von Stoffen und das Spielen mit selbstgemachten Puppen, geriet Mariah immer weiter ins Abseits und scherte sich nicht einmal sonderlich darum. Jedoch bekam sie einmal mit, wie die anderen Mädchen, irgendwann darüber tuschelten, dass sie niemals einen Mann abbekommen würde, wenn sie nicht endlich mal etwas vornehmer wurde. Mariah wusste noch, wie eine von ihnen, sie auf fieseste Art nachgeahmt hatte, während sie bei einem Match ihr Bit Beast anfeuerte.

„Sie sieht dann aus wie eine fauchende Furie! Genau wie dieses Katzenmonster, was sie in ihrem Spielzeug hat! Der Mann der sich die anlacht, wird es schwer mit so einer Kratzbürste haben.“

Einstimmiges Gekicher war die Antwort gewesen. Mariah war so zornig geworden, dass sie hinter der Häuserecke hervorsprang, von der aus sie gelauscht hatte und schimpfend auf die Gruppe zu rannte. Die Mädchen stoben geradezu kreischend in alle Richtungen davon, wie eine aufgeschreckte Antilopenherde. Dennoch schallte aus jeder Ecke dieselbe hämische Bemerkung nach: „Hilfe! Die Furie kommt!“

Als Mariahs Wut abebbte und die Mädchen verschwunden waren, spürte sie, wie tief sie die gehässigen Äußerungen gekränkt hatten. Augenblicklich wollte sie allein sein, kletterte auf einen Hügel unweit von ihrem Dorf, hockte sich unter einen Pfirsichbaum und ließ ihren Tränen dann doch freien Lauf - bis sie ihr Team fand. Sie setzten sich in einem schützenden Kreis um sie, was ihr sofort das Gefühl einer tiefen Geborgenheit vermittelte.

„Ich würde nicht ein winziges bisschen an dir ändern.“, hatte Ray ihr nur lächelnd beteuert. „Sei einfach wie ein Fels und lass die Bemerkungen von dir abprallen, als wären sie Regentropfen. So wie du bist, bist du für uns genau perfekt. Das ist alles was zählt…“

„Obwohl du den Fisch einen Tick länger in der Pfanne lassen könntest, wenn du kochst.“

„Nicht jetzt Kevin!“

„Ich mein ja nur… Ist okay, wenn er frisch ist, aber wenn er auf dem Teller noch Saltos vollführen kann, sollte man noch einmal mit dem Hammer ausholen.“

Für dieses Kommentar kassierte Mariahs kleingeratener Teamkamerad, sofort eine heftige Kopfnuss von ihren Bruder. Sie musste daraufhin amüsiert kichern. Es wirkte wie Balsam auf ihrer geschundenen Seele, als ihr Team sie tröstete und am Abend, als das gehässige Biest, das über Mariah so schlecht gesprochen hatte schlief, warf Lee einen Kuhfladen durch deren Schlafzimmerfenster. Der zornige Vater des Mädchens, hatte ihn am nächsten Tag zwar in die Mangel genommen, doch ihr Bruder behauptete noch heute steif und fest, dass es das wert gewesen sei.

Dennoch begriff Mariah damals, dass nicht jeder von ihrem Hobby so angetan war. Ihr Lehrmeister gab ihr deshalb sogar, einmal eine seiner Weisheiten mit auf dem Weg, damit sie sich nicht ständig ärgerte.

„Wünschst du, dass deine Ansicht respektiert wird, beginne damit, die Ansicht der anderen zu respektieren. Gegenseitiger Respekt ist der Schlüssel zum friedlichen Beisammensein. Doch dafür muss eine Seite die Größe besitzen, den ersten Schritt zu vagen.“

Mariah hatte diese Lehre lange zu denken gegeben und es brauchte Jahre, sie auch im Alltag umzusetzen. Theorie und Praxis waren einfach zwei verschiedene paar Schuhe. Kurz darauf wandte sich Tao an die männlichen Mitglieder ihres Teams. „Und euch gebe ich den Ratschlag, niemals gegen den Wind zu pinkeln. Die Flecken auf der Hose sind die Erleichterung nicht wert.“

Der gute Tao hatte manchmal wirklich eine Schraube locker…

Dennoch half ihr seine Weisheit, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie Hanas Meinung achten sollte. Mariah blickte von ihren Überlegungen auf. Kenny schob inzwischen nachdenklich die Brauen ins Gesicht.

„In einem Punkt hat Hana recht… Unser Filmmaterial ist nur für uns wirklich aufschlussreich. Natürlich könnten wir zur Polizei gehen und erklären, was es mit den Flecken auf sich hat, doch ich befürchte, sie werden es nur als banale Störung abtun.“

„Ist es so unscharf?“, fragte Mariah enttäuscht.

„Es sieht auf den ersten Blick aus wie ein Flimmern. Ein Bit Beast habe ich zuerst auch nicht darauf erkannt. Wir hätten es beinahe übersehen, wenn wir nicht ständig auf Standbild gedrückt hätten, um die Uhrzeiten zu notieren. Es sieht mehr wie eine Bildstörung aus.“

„Aber zumindest ist es ein Beweis!“

„Ich möchte hier niemanden zu nahe treten, gerade weil ich weiß, dass ihr alle irgendwie mit diesen… Wesen zu tun hattet.“, begann Hana vorsichtig. „Aber sehen wir das ganze doch mal aus der Perspektive eines Beamten. Die wollen etwas Handfestes haben. Etwas Einleuchtendes! Einem mystischen Wesen die Schuld für all diese Unglücke zu geben, wird denen zu weit hergeholt vorkommen. Wir könnten wie Spinner wirken!“

„Aber eine Zeitlang waren Bit Beast sogar im Fernsehen. Viele Menschen weltweit haben die Meisterschaften verfolgt.“, entgegnete Mariah.

„Gab es aber auch nur einen Fall, in dem diese Wesen Menschen angegriffen haben?“

„Ja!“, rief Kenny aufgeregt aus. „Als wir in Rom waren, haben wir gegen einen Blader namens Enrico gekämpft. Er hat sein Bit Beast so schlecht behandelt, dass es ihn attackiert hat!“

„Und das habt ihr gemeldet?“

„N- Nein.“, blinzelte er verdutzt. „Es ist auch alles noch einmal gut gegangen.“

„Habt ihr es wenigstens auf Kamera aufgenommen?“

„Also… Ähm… Nein.“

„Dann ist das alles nur Hörensagen…“

Kennys Euphorie ebbte wieder ab und er ließ die Schultern enttäuscht hängen. Mariah biss sich ebenfalls auf die Unterlippe, als sie die Aussichtlosigkeit ihrer Situation erkannte. Hana seufzte auf ihrer aller Reaktion und fuhr fort.

„Ich könnte es der Polizei ehrlich gesagt nicht einmal verdenken, wenn sie uns nicht glauben möchte. Diese Sache könnte einen herben Präzedenzfall in der Rechtsgeschichte verursachen. Plötzlich könnte jeder Psychopath daherkommen und behaupten, dass ein Geist den Mord begangen hat, für den er eigentlich verantwortlich ist. Es ist heutzutage ohnehin schon schwierig genug, jemanden hinter Gitter zu bekommen, ohne das seine Zurechnungsfähigkeit überprüft wird. Es sitzen dutzende Psychopathen in unseren Nervenheilanstalten, die eigentlich lebenslänglich in ein Gefängnis gehören. Welche Ausmaße könnte unser Fall also nach sich ziehen?“

Ein verstimmtes Brummen kam von Mr. Kinomiya und auch Mariah musste zugeben, dass Hanas Argumentation stichfest war. Sie würden heftige Stolpersteine in den Weg gelegt bekommen. Inzwischen fuhr Hiros Verlobte fort.

„Ich bringe meinen Nachbarn um, weil mir seine Nase nicht passt und schiebe es dem Monster von Loch Ness in die Schuhe? Wo kämen wir denn da hin? Das alles ist… Nun ja… Es ist wirklich sehr heikel. Wir bewegen uns auf sehr dünnen Eis und mit unseren Beweisen, kommen wir nicht weit. Das meiste basiert auf unseren Aussagen.“

Hana schüttelte bedauernd den Kopf.

„Nein… Das Video können wir leider vergessen. Was wir darauf finden sind nur vage Andeutungen auf eine übernatürliche Macht. Es lässt zu viel Interpretationsspielraum. Unsere ganze Theorie wirkt zu obskur, auch wenn sie tatsächlich wahr sein sollte. Man wird uns nicht glauben. Man möchte uns so etwas doch gar nicht glauben.“

„Dann hilft es nichts! Ich gehe zur Präfektur.“, sprach Mr. Kinomiya entschlossen. „Ich muss denen klar machen, dass ich noch quicklebendig bin und Tyson nichts an meinem Unfall zu tun hatte!“

„Wie wollen sie das beweisen?“, fragte Hana skeptisch. Er dachte gründlich nach.

„Ha!“, Mr. Kinomiya klatschte in die Hände. „Ich könnte behaupten, dass ich meine Medikamente falsch eingenommen habe!“

„Okay… Dann müssten wir überprüfen, ob eine falsche Einnahme ihrer Medikamente, tatsächlich zu ihren Symptomen passt.“

„Wir sollen lügen?“, fragte Mariah fassungslos.

„Natürlich! Alles ist glaubwürdiger als die Wahrheit.“

„Lügen nicht gut… Nicht lügen!“, empörte Jana sich plötzlich. Sie hatte zu Mariahs Seite gelehnt, eingerollt in ihre Decke und geistesabwesend mit ihrem Stofftier gespielt. „Kai sage nich machen! Ist nicht gut…“

„Ja, da hat er ganz recht.“, beteuerte ihr Mr. Kinomiya glucksend und tätschelte ihr über den nussbraunen Haarschopf. „Spiel du mal weiter mit deiner Katze. Lass die Erwachsenen ihr langweiliges Gespräch führen.“

„Is wirklich langweilig.“, murmelte Jana vor sich her, da vollführte sie auch schon wieder hüpfende Bewegungen, mit ihrem Stofftier auf der Mauer. Wenigstens eine die dem ganzen recht unbekümmert entgegenschaute.

„Das ist aber nicht unser einziges Problem.“, sprach Hana ernst. „Der Gruppe wird auch der Brand im Hiwatari Anwesen zu Lasten gelegt. In beiden Fällen waren sie immer vor Ort, als die Unglücke passiert sind. Zumindest hat Ming-Ming das schon seltsam gefunden. Es wird nicht lange brauchen, bis die Polizei das auch komisch findet. Womöglich verfolgen sie bereits schon diese Fährte?“

Kenny gab ein Murren von sich. Sein Gesicht verzog sich, als ginge ihm eine Idee durch den Kopf, die ihm selbst nicht ganz behagte.

„Naja… Vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, um auch diesen Vorwurf fallen zu lassen.“

„Und wie?“, blinzelte Hana fragend zu ihm herüber.

„Wir waren schon einige Male in dem Anwesen.“, begann er zögerlich. „Im Erdgeschoss befindet sich eine kleine Bibliothek. Sie liegt gleich zur rechten Seite, wenn man in die Eingangshalle kommt und besitzt einen großen Kamin. Kai meinte einmal zu uns, sein Großvater hätte ihm früher strengstens verboten, den Raum zu betreten, wenn er nicht im Haus war. Dann war das Zimmer für ihn absolutes Sperrgebiet.“

„Weil das alte Ekel Angst hatte, dass seine teuren Enzyklopädien, ein paar Fingerabdrücke zu viel abbekommen?“, fragte Mr. Kinomiya verächtlich. Es war unüberhörbar, dass er nichts von Kais verstorbenem Großvater hielt. Es deckte sich mit dem, was Mariah über ihn gehört hatte. Seine Erziehungsmethoden sollten geradezu drakonisch gewesen sein, auch wenn er es seinem Enkel, in materieller Hinsicht, an nichts fehlen ließ.

„Nein.“, rollte Kenny inzwischen mit den Augen. „Ausnahmsweise hatte das sogar einen nachvollziehbaren Grund. Voltaire hatte Angst, dass Kai am Kamin herumspielte und sich dort verbrannte. Als er noch ein Kind war, hat sein Großvater ihn auch nie nah an das Feuer herangelassen. Er sollte immer einen gewissen Abstand wahren.“

„Donner! Hat man Worte… Corleone hatte tatsächlich eine mitfühlende Schokoladenseite.“

Mariah musste schmunzeln, weil ihr dieser Wortlaut bekannt vorkam. Ihr war bereits mehrmals zu Ohren gekommen, dass zu Lebzeiten Voltaires, im Hiwatari Anwesen eine Atmosphäre herrschte, als würde der Pate persönlich darin residieren. Max hatte Voltaire sogar einmal vor versammelter Mannschaft imitiert.

„Frag mich niemals nach meinen Geschäften, Kai.“, wandte er sich damals mit der rauchigen Stimme von Don Corleone an seinen Freund. Alle hatten gelacht - bis auf Kai, der das ganz und gar nicht komisch fand. Der hatte nur mit einem entnervten Seufzen die Augen verdreht.

„So viele Fehler der Mann auch besaß, was Kai anging, schien er nicht immer so eine… Beißzange zu sein.“, suchte Kenny nach einer höflichen Umschreibung. „Jedenfalls meinte Kai einmal zu uns, das das Modell was in der Bibliothek steht, relativ altmodisch wäre und schon seit geraumer Zeit renoviert werden müsse.“

„Also ist der Kamin eine potenzielle Gefahrenquelle?“, Hana legte nachdenklich ihren Finger ans Kinn. Kenny nickte zustimmend und fuhr fort.

„Man sollte zumindest vorsichtig sein im Umgang mit diesem Ding. Ich habe ihn schon mehrmals aus der Nähe betrachten können - der Kamin ist riesig. Ein wahres Monstrum! Nicht wie diese kompakten modernen Modelle, die man heute auf dem Markt findet. Das Anwesen ist auch recht alt. Weitestgehend Parkettböden, viele Teppiche, schwere Vorhänge.“

„Alles entflammbar.“, bemerkte Mariah. Sie begann zu verstehen, worauf Kenny hinauswollte und war mit dem Gedanken nicht allein.

„Du spekulierst also darauf, dass Kai den Brand auf seine Kappe nimmt.“, brachte Mr. Kinomiya es auf den Punkt. Auf das erneute Nicken seines Gegenübers, verschränkte er die Arme argwöhnisch vor der Brust. „Mmm… Na, das ist schon ein schwerer Vorwurf. Der Junge scheint mir zu verantwortungsbewusst, um einen solchen Patzer zu begehen.“

„Das wissen die Polizisten aber nicht…“, sprach Kenny. „Die kennen ihn nicht persönlich. Und Irren ist bekanntlich menschlich. Das könnte jedem Mal in einer unachtsamen Minute passieren!“

„Und wenn der Eigentümer des Gebäudes den Brand selbst zugibt, sagt man ihm nur nach, dass es ein unglücklicher Unfall war. Dann wäre die Brandstiftung zumindest vom Tisch.“, Hana beugte sich vor, legte ihre Ellbogen auf den Knien ab, um ihr Gesicht in den Handflächen abstützen zu können. Sie schloss nachdenklich die Augen und man hörte förmlich, wie die kleinen Zahnräder in ihrem Hinterkopf auf Hochtouren liefen. „Das ist alles schön und gut. Doch all unsere Ideen setzen voraus, dass die Gruppe endlich wieder aus der Versenkung auftaucht. Wir bräuchten zumindest dringend Kais entlastende Aussage. Mit Mr. Kinomiya können wir lediglich nur den Vorwurf widerlegen, dass er von Takao vergiftet wurde. Der Brand ist damit noch nicht vom Tisch. So wie ich das verstehe, sind wir jetzt also zum Warten verurteilt. Wir können lediglich auf die Rückkehr von diesem… Ding hoffen.“

„Das Ding ist ein Bit Beast und heißt Galux.“, warf Mariah pikiert ein.

„Nichts für ungut, aber ich habe andere Probleme, als jetzt Haarspalterei zu betreiben.“

Irgendwie war diese Frau ganz schön unverschämt. Mariah musste an sich halten um nicht verärgert zu schnauben. Da bemerkte sie, wie bekümmert Kenny zu ihr blickte.

„Tut mir Leid, Hana. Nun hast du dich so beeilt, weil du Hiro schnell Bescheid geben wolltest und nun können wir wahrscheinlich vor dem Morgengrauen, gar nichts Konkretes sagen.“

Auf seine Worte nickte sie. Mariah hatte das Gefühl, das Hana auf einmal sehr bedrückt war.

„Hiro kann doch zu uns stoßen. Wo treibt sich der Junge überhaupt wieder herum?“

„Er ist bei der Polizei.“

„Etwa wegen Tyson?“

„Ja… Also… Zuerst war das auch deshalb.“, druckste Kenny panisch herum. Sein Mund schloss und öffnete sich immer wieder, also läge ihm etwas ziemlich unangenehmes auf der Zunge, was er nicht so richtig in Worte fassen konnte, bis Hana ihm einen unwirschen Stoß mit dem Ellbogen, in die Seite verpasste. Beide tauschten einen vielsagenden Blick aus, den Mariah nicht recht zu deuten wusste. Ihr kam es vor, als wolle man dem Großvater etwas vorenthalten, was ihn nur unnötig aufregen könnte. Da antwortete Hana auch schon: „Genau deshalb. Keine Sorge, Mr. Kinomiya. Bleiben sie einfach hier und lassen sie Hiro schon machen…“

„Herrlich! Tyson und er liegen sich ständig in den Haaren, aber wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten steckt, halten sie doch zusammen.“, strahlte der Großvater stolz. Er verschränkte die Arme vor der Brust und nickte zufrieden – ohne zu bemerken wie traurig Hana wirkte.
 


 

*
 

Zunächst erklang ein störendes Piepsen in seinem Ohr, als Max sich nach langem endlich aufrichtete. Kurz vor seinen Füßen war ein riesiger Felsbrocken aufgekommen, dessen Wucht ihn einige Meter zurück geschleudert hatte. Er kam auf dem Rücken auf, stieß sich schmerzhaft den Hinterkopf und für einen Moment war ihm schwarz geworden, bis er begann, gegen die Ohnmacht anzukämpfen. Wie lange das ging, konnte Max nicht genau sagen.

Ein paar Sekunden…

Vielleicht lag er aber auch schon einige Minuten bewusstlos auf dem Rücken?

Etwas Warmes sammelte sich in seinem Nacken. Max brauchte kein Genie zu sein, um zu wissen, dass es wohl sein eigenes Blut war, das sich in den Stoff seines Kragens sog. Seine Umgebung nahm er nur unter flirrenden Lidern war. Er erhaschte hin und wieder eine leuchtende Gestalt. Mal war sie kleiner, mal größer. Doch benommen wie er war, konnte Max kaum sagen, ob es sich um die raufenden Uralten, oder um ihre Verbündeten handelte.

Die Lichtflecken schwirrten geradezu verrückt umher, als würde er in einem Karussell sitzen.

Letztendlich kam er zu dem Schluss, dass er besser verfuhr, wenn er sich von allen Lichtgestalten erst einmal fernhielt, bis er seine Freunde in der Finsternis wiederfand. Mit wackligen Knien stemmte er sich auf, tat in der dunklen Kammer mehrere Schritte, bis er auf kalten Fels stieß. Mit der Abwesenheit von Mariahs Bit Beast war ihm die einzige Lichtquelle in der Höhle beraubt. Er tastete sich mit den Händen voraus seinen Weg. Das Piepsen in seinen Ohren wollte nicht nachlassen. Da manifestierte sich aus der Finsternis eine weitere fließende Lichtgestalt. Für Max spielten sich ihre Bewegungen wie in Zeitlupe ab, doch tatsächlich machte es den Anschein, als würde sie auf ihn eilig zu rennen. Er blinzelte irritiert, denn da stand das gesichtslose Wesen bereits vor ihm, was sie zuvor begleitet hatte. Es ging alles so rasant schnell und der Geist gestikulierte verzweifelt vor seiner Nase herum.

Max schloss die Augen für einen Moment.

Ihre hektischen Bewegungen irritierten seine betäubte Wahrnehmung nur umso mehr.

Ihm war schlecht. Er wollte einfach nur auf den Boden fallen und sich ausruhen. Die drückende Kälte hier drinnen tat ihr übriges. Da packte ihn etwas an seinem Overall. Mit einem Keuchen öffnete er die Lider. Die Lichtgestalt hielt ihn am Oberteil gepackt und zerrte ihn fort, weg vom Kampfplatz. Kurz darauf erschallte ein dumpfer Aufprall hinter ihm, der die Erde erzittern ließ, genau an jenem Punkt, wo er zuvor gestanden hatte. Durch die Erschütterung versagten seine Beine. Er wollte zu Boden sinken, doch die Gestalt zog ihn drängend auf, bis sie etwas erreichten, was wie eine Vertiefung innerhalb der Felswand wirkte. Sobald er inmitten des schützenden Unterschlupfes war, ließ sich Max benommen an ihren kalten Felswänden hinabgleiten. Rufe schallten durch die Finsternis, er meinte seinen Namen zu vernehmen, doch der Kampfplatz war zu nah, als das er hätte unterscheiden können, was nicht von dessen Geräuschkulisse herrührte. Max spähte aus schummrigen Sichtfeld hinaus zu den Uralten, sah wie Draciel aufbrüllte, weil einer dieser spitzen Stalaktite auf den Rücken seines Bit Beasts landete. Früher hätte ihm dieser Laut das Herz zerrissen, als würde er selbst die Treffer abbekommen. Max wäre schier verzweifelt, bei dem Gedanken, seinen Partner nicht beistehen zu können.

Doch jetzt begann er schadenfroh zu kichern…

„Geschieht dir recht. Mieser Verräter.“

Er war selbst überrascht, wie gemein er sein konnte. Sowas war eigentlich ganz und gar nicht seine Art. Er entwickelte sich hier zu einer ziemlich rachsüchtigen Person. Das machte ihn stutzig, weil es insgeheim das bestätigte, was Galux prophezeit hatte. Mit einem Seufzen klappte sein Kopf in die andere Richtung. Die flirrenden Lichter aus seinem Versteck heraus zu verfolgen, empfand er als ziemlich anstrengend. Er schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen. Unter seinen Fingerkuppen spürte er die glatte Eisschicht, die sich über die Felswände zog. Das eisige Klima ließ ihn dösig werden…

Bis ein kurzes Klatschen seine Wangen berührte. Max verzog das Gesicht. Es fühlte sich unangenehm an, aber eigentlich war doch alles hier unten nicht einladend. Er begann sich zu fragen, ob er es riskieren könnte, wenigstens für eine winzige Millisekunde wegzunicken.

Da klatschte schon wieder etwas unwirsch gegen seine Backen. Er sträubte sich. Es fühlte sich so seltsam an, wie wenn für einen kurzen Moment das Blut aus seinen Wangen entwich. Als er die Lider öffnete stand dort die Geistergestalt vor ihm. Ihre zierlichen Hände schwebten wenige Zentimeter vor seinem Kopf, wagten es aber nicht, ihn erneut zu berühren.

„Nur fünf Minuten.“, flüsterte Max erschöpft. Sie schüttelte vor ihm energisch den Kopf.

„Bitte.“, sprach er aus kratziger Kehle. Seine Lider schlossen sich wieder, da klatschte sie erneut ihre Handflächen kurz gegen seine Wangen. Eigentlich hätte ihn das beunruhigen müssen. Allegro hatte die Gruppe eindringlich gewarnt, sich keinem längeren Körperkontakt mit einem Geist auszusetzen. Doch ihre Art erinnerte ihn an seine Mutter.

Die hatte ihn auch früher so geweckt…

Max war zwar kein Morgenmuffel, doch bis er aufwachte, brauchte auch er einige Anläufe und wälzte sich lieber noch zweimal im Bett herum, bevor er den Tag begann. Wenn seine Mutter mal Urlaub hatte, wollte sie diese Zeit immer bei ihrer Familie verbringen. Dann ließ sie es sich nicht nehmen, ihren Sohn zu wecken. Ständig hatte Judy ihm dann die Wange getätschelt. Immer ganz kurz. Drei neckende Klatscher auf seine Backen. Gefolgt von ihrem belustigten Kichern, wenn sie Maxs genervtes Stöhnen hörte.

„Ich höre erst auf, wenn du aufstehst, Sonnenschein!“, hatte sie dann immer neckend gesungen. Als der Geist vor ihm erneut Zugriff, riss er genervt seinen Kopf weg. Es hätte nur noch gefehlt, wenn sie ihm als letzten Ausweg auf den Bauch trommelte. Keine Sekunde nachdem er diese Überlegung dachte, fühlte er, ihre Hände an jener Stelle. Sie klopften einen kurzen Rhythmus. Erst da begriff Max endlich…

Seine Lider öffneten sich ruckartig.

Er blickte das helle Lichtwesen vor sich entsetzt an, was die Hände wieder von ihm fernhielt, ganz so, als ließe sie die kurzen Berührungen nur zu, um ihn aus seiner Benommenheit zu reißen, nicht um ihm unnötig zu schaden. Wie eine erkältete Mutter, welche ihr Kind nicht küsste, aus Sorge, sie könne es anstecken.

Max Atmung beschleunigte sich.

Plötzlich verstand er woher seine anfängliche Sympathie gegenüber ihr herrührte. Ihm kam in den Sinn, wie furchtsam dieser Geist auf das Wasser reagiert hatte, als der Stollen, durch den sie sich zwangen, überflutet wurde. Es ergab nun endlich einen Sinn!

„Mum?“, fragte er unsicher. Dabei konnte er nicht verhindern, dass seine Stimme bebte. Die Hoffnung welche in ihm aufstieg, machte ihm Angst. Denn er ahnte, wie machtlos er wäre, sollte sie es wirklich sein. Er wusste nicht wie er seiner Mutter helfen konnte. Unweigerlich erinnerte er sich an eine griechische Sage, in welcher der Held Odysseus, seine verstorbene Mutter, im Reich des Hades wieder vorfand, nachdem diese sich nach einer falschen Nachricht, um den Verbleib ihres jahrelang verschollenen Sohnes, selbst umbrachte.

Wer war Max in dieser Geschichte?

Etwa der tragische Held, der dazu verdammt war, seine eigene Mutter hier unten zurückzulassen?

Er biss sich hart auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Etwas in ihm wollte ein „Nein“ hören. Sein Körper begann zu zittern. Einerseits wollte Max nicht das das seine Mutter vor ihm war, auch wenn ein weitaus größerer Part in ihm, es wiederrum doch schmerzlich herbeisehnte, um ihr ein letztes Mal sagen zu können, wie sehr er sie in seinem Leben vermissen würde. Wie wichtig sie ihm gewesen war…

Dass er es bereute, sie nicht mehr geschätzt zu haben.

Sie als selbstverständlich betrachtet hatte, so wie es Kinder nun einmal taten, in der närrischen Vorstellung, dass jedes Elternteil für immer in der Nähe blieb. Man verdrängte gerne die Tatsache, dass auch deren Zeit auf Erden, begrenzt war. Die Jahre verflogen so schnell und ihr Tod kam so plötzlich für ihn, ganz ohne Vorwarnung, dass er erst danach begriff, wie kostbar jede verpasste Gelegenheit, mit seiner Familie gewesen war.

Doch sie entgegnete nichts…

„Mum?!“, fragte Max erneut. Nun überschlug sich seine Stimme, wurde drängender und die Seele vor ihm, ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Ihre Finger schwebten noch immer wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. Und da nickte sie…

Diese leise Geste ließ Maxs Damm brechen.

Er konnte nicht mehr an sich halten. Ein lautes Aufheulen kam aus seinem Mund und die erste Träne war schnell vergossen. Er streckte seine Finger nach ihr aus, wollte seine Mutter in die Arme nehmen – doch da wich sie zurück.

Es wirkte geradezu schreckhaft. Sie erhob sich eiligst, schüttelte immer wieder den Kopf und tat mehrere Schritte von ihm weg, bis sie auf die kalte Gesteinswand in ihrem Unterschlupf traf. Judy wusste genau, wie gefährlich sie ihrem Sohn in ihrem Zustand war - und sie wollte ihm nicht schaden.

Max Hand schwebte in der Luft. Er starrte seine Mutter aus geweiteten Blick nach. Sah ihre Schultern beben, doch ihr fehlten die Augen, um den Tränen freien Lauf zu lassen. Sie konnte nicht weinen, so sehr sie es auch wollte. Doch er ahnte was in ihr vorging.

Das alles hier…

Es war so unfair!

Dieser Moment kam Max so grausam vor. Er wollte doch nur seine Mutter noch ein letztes Mal umarmen, aber selbst das war offenbar zu viel verlangt. Die Ungerechtigkeit übermannte ihn. Er raufte sich fauchend die Haare, bettete seine Stirn auf seinen Knien ab und begann haltlos zu schluchzen, dass sein Körper nur so erzitterte.

Bis ihn der spitze Reißzahn in seiner Hosentasche in den Oberschenkel kniff, den er beim Kampf zwischen Dragoon und Draciel, vom Boden aufgehoben hatte. Beinahe hätte er den vergessen. Der Schmerz riss ihn aus seiner Verzweiflung.

Er fuhr sich schniefend über die tränennassen Wangen, bis ihn der spitze Gegenstand erneut zwickte. Kurz darauf streckte Max vorsichtig sein Bein durch, um besser in die Tasche seines Overalls greifen zu können. Seine Finger glitten behutsam zwischen den Stoff und zogen den Reißzahn hervor. Er war größer als seine eigene Handfläche, nicht unbedingt dick, aber dafür länglicher. Trotzdem wirkte er sehr stabil.

Ihm fiel prompt auf, dass die winzige Spitze sich durch den Boden seiner Tasche gebohrt und sein Bein darunter leicht angeritzt hatte. Max hob den Zahn in die Höhe und spürte die Energie welche dadurch pulsierte. Dann änderte er den Griff und haute den Zahn, mit voller Wucht, in das Gestein unter ihm. Er blieb tatsächlich tief im Felsen stecken…

Als Max ihn aus dem Boden zog und in der Dunkelheit die Stelle abtastete, war er durch die harte Schicht gedrungen und hatte ein beachtliches Loch im Gestein hinterlassen. Dieser Reißzahn war eine richtige Waffe. Max besaß in seinem Arm sicherlich nicht halb so viel Kraft, wie Driger in seinem Kiefer und dennoch war er so tief eingedrungen. Er drehte den Zahn vorsichtig zwischen seinen Fingern, bemerkte dass davon ein Kribbeln ausging, als würde er unter Strom stehen. Selbst er, als einfacher Mensch, spürte die Energie darin.

Seine Gedanken verdüsterten sich. Ihm kam etwas in den Sinn. Jene Sätze welche Tyson seinem Bit Beast entgegengeschmettert hatte, als er erkannte, weshalb sein Partner ihm trotz seines Grolls, ständig das Leben rettete, sobald er ernsthaft in Gefahr geriet.
 

„Du kannst es nicht! Weil du als mein Bit Beast geschworen hast, mich zu beschützen! Ihr Bit Beast nehmt dieses Versprechen nämlich verdammt ernst, nicht wahr?“
 

Tyson war so herrisch zu Dragoon gewesen, hatte sich kein Blatt vor den Mund genommen, trotz der bedrohlichen Situation und dennoch - sein Bit Beast konnte ihn damals nicht töten. Lediglich einen Warnschuss abgeben.

Max Braue zog sich nachdenklich zusammen. Als er den Blick hob, schaute er zunächst auf den Geist seiner Mutter. Seine Augen hefteten sich auf das leere Gesicht. Dort hätte jetzt eigentlich ihr Lächeln sein sollen, dann noch ihr azurblaues Augenpaar, was ihn stets so mitfühlend bedacht hatte. Mit den Jahren hatten sich um Judys Mundwinkel Fältchen gebildet, doch seine Mutter hatte stets betont, dass ihr das nichts ausmachte, immerhin kämen diese vom vielen Lachen.

Nun verdeckte sie aber das Gesicht mit den Händen, als wüsste sie selbst um ihr merkwürdiges Erscheinungsbild. Judys Haare wehten unnatürlich, als wäre ihr Kopf bedeckt, mit einer flammenden Haube, die sich zu jedem Windhauch neigte. Noch immer bebten ihre Schultern, als würde sie Schluchzen. Ihr war wohl ebenfalls elendig zumute.

Sie konnte ihr einziges Kind nicht umarmen…

Max erhob sich schweratmend. Sein Blick klärte sich, irrte zu den kämpfenden Uralten – auf die feinen Furchen in Draciels Panzerung. Sie zogen sich wie glimmende Fäden über den Körper der Schildkröte. Äußerlich war Maxs Gesicht starr geworden, doch seine Faust legte sich so fest um den Reißzahn, dass er ihm ins Fleisch schnitt.

Er wusste was er zu tun hatte…
 

*
 

Für die Idee mit den Tropfsteingebilden, hätte sich Dragoon liebend gerne auf die Schulter geklopft. Mit einer wahren Schadenfreude beobachtete er, wie jeder Fels, krachend auf Draciels Panzerung zerschellte. Als er in der vorherigen Kammer beinahe zu ertrinken drohte, hatte er nur einen Ausweg aus seiner Misere gesehen – Draciel zu packen und ihren Körper, gegen die Wände der Höhle zu schlagen.

Um sich nicht zu verletzen, hatte die Schildkröte ihre sterbliche Hülle abgestreift, noch bevor sie auf dem harten Gestein aufprallte. Der Körper zerstob in dutzenden kleinen Wasserperlen davon. Die wuchtige Tiergestalt hatte augenblicklich den Raum eingeengt, bis auch Dragoon in seine wahre Form schlüpfte. Für einen Moment war es unerträglich Eng in der Kammer geworden, bis die schwächste Wand nachgab und in sich zusammenbrach. Sofort hatte Dragoon die Gelegenheit genutzt, um mit seinem schlangenhaften Körper, aus der entstandenen Öffnung zu entwischen.

Gerade als er hindurchfliegen wollte, packte ihn Draciel aber am Schweif und so stürzten sie gemeinsam in den nächsten Raum, der zu seinem Glück weitaus höher war, als das enge Rattenloch, in welchem ihm die tückische Schildkröte zuvor aufgelauert hatte. Sobald er wieder genug Freiraum besaß, um sich in die Luft zu erheben, fühlte sich Dragoon wie neu geboren. Diese Enge war überhaupt nichts für ihn gewesen. Derlei Einschränkungen hasste er. Der Wind ließ sich einfach ungerne einpferchen.

Dagegen brauchte es nur einen harten Schlenker gegen die Höhlenwand und sein Schweif entglitt zwischen den klumpigen Tatzen der Schildkröte. Er hatte gefühlt wie die kurzen, aber scharfen Krallen, über seine Schuppen schabten. Gleich darauf schallte ein lautes Donnern von den Wänden, als Draciel den Abhang hinabrollte.

Es klang wie eine Lawine aus Geröll und Stein. Einen Moment musste Dragoon den Atem anhalten. Denn diese Situation war ihm erschreckend bekannt vorgekommen. Ihm kam in den Sinn wie Driger in den Tod gestürzt war. Vor seinem inneren Auge, sah er dessen Gestalt erneut unter ihm, durch die Wolkendecke brechen. Seine Glieder hatten sich geradezu verkrampft, als wollte sich sein Körper auf den Aufprall vorbereiten. Die tiefgrünen Augen des Tigers hatten Dragoon bedacht.

Er hatte keine Angst darin erhascht – vielmehr wirkte es damals wie bedauern.

Ob es daran lag, wie sie auseinandergegangen waren?

War Driger enttäuscht gewesen, weil ihre jahrelange Freundschaft so blutig endete?

Diese seltsame Schuld, die er seit neuem empfand, hatte sich erneut schwer in seinen Magen gelegt. Diese winzige Erinnerung hatte Dragoons Instinkte kurz zurückgedrängt und verschaffte jener Seite in ihm Gehör, die sein Handeln scharf verurteilte.

„Hör auf! Lass es endlich gut sein!“

Er hatte Draciel den Hang hinabdonnern sehen. Das Bit Beast hinterließ eine Schneise der Verwüstung hinter sich, der selbst die alten Gesteinsschichten hier unten, nicht gewachsen waren. Der massige Körper rollte sich unnachgiebig seine Bahn hinab.

„Du wirst es bereuen wenn du noch einen Kameraden verlierst!“

Die Schildkröte hatte das Ende erreicht und sofort als sie auf geraden Boden traf, reckte sich der Kopf zu ihm auf. Er sah die lederartige Haut auf dem kahlen Schädel, die kleinen violetten Muster darauf. Ihre Blicke trafen sich einen Moment.

Einen solchen Kampfeswillen hatte er noch nie in Draciels Augen erspäht. Nicht einmal zu ihren Zeiten, in der Arenen der Menschenwelt.

„Selbst die Weltenbaummutter will dass du aufhörst! Lass es sein! Lass es endlich gut sein!“

Er konnte beobachten, wie die kurzen Beine sich in den Untergrund gruben, um der Gerölllawine, die Draciel bei der Talfahrt ausgelöst hatte, mit sicherer Haltung entgegenzuwirken.

„Das ist es nicht mehr wert! Du fährst zu hohe Verluste ein!“

Die Gesteinsbrocken stürzten auf die Panzerung des Bit Beasts hinab und begruben es unter sich. Einen verwirrenden Moment bekam es Dragoon deshalb mit der Angst zu tun.

„Du willst doch gar nicht das Draciel auch noch stirbt!“

Um nicht verschüttet zu werden, bäumte sich die Schildkröte mit einem ohrenbetäubenden Grölen auf. Die herumfliegenden Trümmer wurden zu gefährlichen Wurfgeschossen. Dragoon vernahm die Schreie der Menschenjungen, die sich vorsichtig in Sicherheit brachten. Inmitten der Dunkelheit, waren ihre Schritte, wie das unsichere Tapsen von Neugeborenen.

„Du kannst es beenden. Sieh einfach über deinen verdammten Stolz hinweg!“

Kurz darauf schallte ein bedrohliches Blubbern zu ihm auf. Keine zwei Sekunden später, stoben aus den natürlichen Unterwasserteichen, die sich in dem komplexen Tunnelsystem angesammelt hatten, gewaltige Fontänen empor, mit dem Ziel, Dragoon zu treffen.

Einer traf ihn mitten in die Magengrube.

Mit einem schmerzhaften Schrei wurde er gegen die Decke geschleudert. Er fühlte spitze Steine in seinem Rücken, die glücklicherweise nicht durch seine dicken Schuppen kamen. Dennoch schluckte er Wasser, als Draciels Fontäne ihn unbarmherzig gegen das kalte Gestein presste. Er hatte versucht sich aus dem Wasserstrahl zu befreien, jedoch war der Druck so enorm gewesen, dass er sich kaum von der Stelle rühren konnte. Sicherlich wirkte er zu jenem Zeitpunkt wie ein Fisch, der auf dem Trockenen zappelte. Die Stimme in seinem Hinterkopf, war inmitten seines Überlebenskampfs dafür endlich verstummt. Sein Schweif prallte ungeschickt gegen harten Tropfstein, was unter dem Hieb nachgab. Kurz darauf bemerkte er verblüfft, wie Draciel von ihm abließ.

Es war seine Chance aus dem Schussfeld zu entkommen.

Als er eiligst davonflog, wurde ihm erst bewusst, was für einen Schaden sein ganzes Gezappel angerichtet hatte. Er sah Draciel die Gliedmaßen schnellstens in die Panzerung ziehen, um die weicheren Körperteile vor den Wurfgeschossen in Deckung zu bringen.

Ihm schien als seien die Karten neu gemischt worden.

Die Verlagerung des Kampfes in den nächsten Raum, konnte nicht in Draciels Ermessen gelegen sein. Die Schildkröte mochte hier unten im Vorteil sein, doch dafür konnte Dragoon fliegen. Nun, da er sich genug Freiraum verschafft hatte, kam Draciel auch nicht mehr so leicht an ihn heran. Die Geysire mussten eine weitere Strecke zurücklegen, um bis zur Decke zu schießen, in dieser Zeit war Dragoon aber schon auf und davon. Jedoch ahnte der Drache, dass er lediglich auf Zeit spielte. Er musste die Schildkröte in ihre Schranken weisen, bevor auch diese Kammer unter Wasser stand. Dabei spielte es ihm in die Hände, dass sich ihre Menschenkinder noch hier drinnen befanden. Draciel konnte nicht riskieren, den Raum zu überfluten, so lange die Gruppe hier eingeschlossen war.

Es musste ebenso am Pakt festhalten wie er selbst.

Und der besagte, dass sie ihre Kinder beschützen mussten.

Dragoon hatte in der vorherigen Kammer schnell bemerkt, wie leicht es der Schildkröte eigentlich gefallen wäre, ihn zu ertränken – hätte sich Takaos Freund nicht dort befunden. Mit den anderen Jungen, wäre Draciel sicherlich kaum so zimperlich umgegangen. In Handumdrehen, hätte es den Raum bis zur Decke geflutet und Dragoon wäre elendig darin ertrunken. Es war jener Gedanke, der in ihm wieder die alte Wut aufleben ließ. In seinem Blutrausch, schmälerten sich die reptilienhaften Schlitze in seinen Augen. Die tierischen Instinkte griffen wieder über und gerade in jenem Moment wurde ihm bewusst, wie wundervoll schmerzhaft es für die Schildkröte wäre, wenn die Stalaktiten, auf deren Panzerung zerschellten. Zwar mochte Draciel von allen Uralten, am besten geschützt sein, doch auch dieser natürliche Schutzmantel, konnte mit genügend Ausdauer, sicherlich durchbrochen werden und als der erste glimmende Haarriss auf der Knochenpanzerung erschien, stahl sich ein diabolisches Grinsen auf Dragoons Gesicht.

„Wo sind Max und Galux?!“

Es war Takaos Stimme, die von weit unterhalb zu ihm hinauf schallte. Der Junge klang geradezu panisch. Sein Geist brauchte eine Weile um ihn zu orten. Inmitten seines Tunnelblickes sah er sein Menschenkind, nur als vagen Umriss, der sich nur spärlich von der Finsternis um ihn herum abzeichnete. Er roch ihn mehr, als das er den Jungen sah.

Auch die kleine Verräterin war anwesend.

Drigers Liebchen, was seinem Freund so dermaßen den Kopf verdreht hatte, dass er sich gegen ihn stellte. Er roch Blut. Bit Beast Blut…

Offenbar war sie verletzt worden.

Er wäre liebend gerne hinabgerauscht, um sie mit einem Happen zu verschlingen, doch da kündigte ein lautes Sprudeln an, dass sich ein weiterer Geysir bedrohlich näherte. Dragoon wich aus und fokussierte ein Tropfsteingebilde, was aus unzähligen, herabhängenden Spitzen bestand, ähnlich formiert wie eine Traube. Er manövrierte seinen schlangenhaften Körper, zu dem Konstrukt, um pfeilschnell hineinzurasen. Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass er mit diesem Unterfangen, selbst Verletzungen davon trug. Kurz darauf hörte er das Gestein um seinen Kopf herum klirren und die ersten Splitter, bahnten sich wie Speerspitzen ihren Weg hinab. Der Anblick wirkte so surreal…

Es war wie ein Regenschauer aus hunderten von Pfeilen.

Dragoon beobachtete wie die Geschosse auf die Erde zurasten, da stockte ihm einen Moment perplex der Atem. Eines der Menschenkinder rannte mit einem verbissenen Ausdruck, direkt auf ihr Schlachtfeld zu, auf eben jenen Punkt, der sicherlich bald von den tödlichen Bolzen erwischt wurde. Für eine winzige Sekunde befiel ihn Panik, denn der einzige, dem er so viel Dummheit zutraute, war Takao. Doch dem war nicht so.

Es war Draciels Kind…

Dieser blasse Sterbliche mit den flachsblonden Haaren.

Und auch die Schildkröte wurde sich der Gefahr bewusst, in der das Menschenkind schwebte, dem es Schutz geschworen hatte. Dragoon vernahm einen panischen Laut, ähnlich einem warnenden Schrei, da ging auch schon ein Ruck, durch den massigen Körper. So schnell hatte er die Schildkröte noch nie laufen sehen. Auf allen Vieren scherten die kurzen Stummelbeine über den Boden, steuerten direkt auf den Jungen zu.

Dragoon kannte dieses Verhalten.

Wenn das Menschenkind eines Bit Beasts in ernsthafter Gefahr schwebte, war der Drang ihm zur Hilfe zu eilen, wie ein Notschalter, der im Kopf umgelegt wurde. Getrieben von diesem einen Wunsch, blendete ein Bit Beast dann jeglichen Gedanken aus.

Es reagierte dann nur noch…

„Und das kann ich mir zu Nutzen machen!“

Gleich nachdem die Überlegung ihn befiel, tat Dragoon eine steile Kurve abwärts. Während seinem Fall, konnte er genau beobachten, was sich unter ihm abspielte.

Es geschah alles blitzschnell – doch für ihn wie in Zeitlupe.

Bevor die Stalaktiten den Jungen treffen konnte, hatte Draciel sich über das Kind geworfen. Er vernahm den schmerzhaften Schrei der Schildkröte, sah weitere Risse auf der schwarzen Knochenpanzerung sprießen, als die Geschosse darauf trafen. Die Haut darunter, leuchtete hell durch die feinen Furchen, wie ein Geflecht aus violetten Wurzeln.

Dragoon nahm die Kehle der Schildkröte ins Visier.

Eine der wenigen weichen Stellen seines Gegners.

Wenn er Draciel erreichte und es dort zu packen bekam, noch bevor es in seiner Panzerung verschwinden konnte, hatte er den Sieg in der Tasche. Er müsste lediglich die Halsschlagader treffen. Der Drache schoss wie ein Blitz hinab, sein Maul öffnete sich, bereit zuzupacken.

„MAX!“

Es war Takaos Schrei. Er klang vollkommen panisch.

So hatte er den Jungen noch nie gehört. Seine Stimme war ein Zeugnis, seiner ernsthaften Furcht um seinen Freund. Es war wie ein Blitz der durch Dragoons Körper schoss.

Prompt weiteten sich die schmalen Schlitze in seinen Augen wieder.

Und er blieb stehen…

Mitten im Flug. Nur wenige Meter bevor er Draciel erreichte.

Dragoon konnte sich nicht erklären weshalb.

„Tue es nicht!“

Erneut war da diese Stimme in seinem Inneren, doch drängender als jemals zuvor. Sie hinderte ihn daran sich zu rühren und das alles nur, weil Takaos lächerliche Angst um seinen Freund, ihn daran erinnerte, dass ein winziger Teil in ihm, ebenfalls nicht wollte, dass ein weiterer seiner Kameraden verschwand.

„Du willst das doch gar nicht.“

Er blickte aus schreckensgeweiteten Augen auf Draciel herab. Dieses Bit Beast das ihn doch verraten hatte, was mit seiner Mutter gemeinsame Sache machte, um ihn vom Thron zu stoßen. Für einen Moment riss er sein Maul weiter auf. Doch zubeißen wollte er noch immer nicht…

„Du musst das nicht tun. Es gibt noch immer ein zurück…“

Auch Draciel schaute nun auf. Die Schildkröte war aus der Panik, um ihren Menschenjungen erwacht, der in Sicherheit vor den Geschossen, unter ihrem Körper nun kauerte. Er sah die dunklen Pupillen zu ihm auf blinzeln. Es bedurfte nur noch wenige Meter und er könnte dem verräterischen Bit Beast die Kehle aufreißen.

Das war ihnen beiden bewusst.

Dennoch hatte er seine Chance vertan. Einfach so…

Ihre Blicke trafen sich. Plötzlich musste Dragoon schlucken. Ihm kam in den Sinn, wie Draciel und er sich zum ersten Mal begegnet waren. Es war am Meer gewesen, an einer steinigen Küste um genau zu sein. Die ersten Fische hatten sich im Wasser getummelt und sein innerer Instinkt sagte Dragoon, dass sie sicherlich wunderbar schmeckten.

Allerdings war es anstrengend gewesen sie zu fangen, denn diese kleinen Biester, waren unglaublich flink im Wasser gewesen. Dragoon war in die Fluten gesprungen, wie eine Seemöwe auf Beutezug, doch herausgekommen war er stets mit leeren Krallen und einem Maul voller Salzwasser. Gegen Abend war es soweit, dass er dachte, verhungern zu müssen.

Er hatte sich mit seinem knurrenden Magen am Ufer zusammengerollt und sich zugegebenermaßen in Selbstmitleid gesuhlt, bis aus dem Wasser, ein kleiner, kugelrunder Kopf aufstieg, gespickt mit zwei dunklen Knopfaugen, die ihn neugierig musterten. Ein zappelnder Fisch lag im Maul von Draciel und mit einer raschen Bewegungen des Schädels, warf es die gefangene Beute, direkt vor Dragoons Krallen.

Sie waren beide damals noch kleiner gewesen. Viel kleiner…

Er selbst maß damals vielleicht gerade mal zwei Meter. Das war nichts im Vergleich zu seiner jetzigen Statur, während Draciel, nur wie ein unförmiger, laufender Felsen ausschaute. An Land bewegte es sich geradezu tollpatschig voran, doch im Wasser, da war es bereits ein gefährlicher Jäger geworden. Zunächst hatte Dragoon schmollend gedacht, dass Draciel nur deshalb so gut darin war, weil es einfach älter war, als er selbst. Doch schnell erinnerte ihn sein knurrender Magen daran, dass da eine zappelnde Köstlichkeit vor ihm lag. Der Drache hatte perplex auf den Fisch geschaut, der vor ihm auf dem Boden hüpfte. Er sah die Kiemen, die sich immer wieder öffneten, den schnappenden Mund und bei dem Anblick lief ihm förmlich das Wasser im Mund zusammen.

„Für mich?“, wollte Dragoon erstaunt wissen. Er hatte seinen Kopf verwundert zur Seite gelegt. Da nickte die Schildkröte auch schon. Ein strahlendes Lächeln stahl sich daraufhin auf sein Gesicht. Ohne lange Umschweife hatte er nach dem Fisch gepackt und gierig darauf herumgekaut. Etwas Delikateres war ihm noch nie zwischen die Kiefer gekommen. Womöglich hielt ihn seit damals auch nur sein Verstand zum Narren, weil er an jenem Tag solchen Hunger gelitten hatte, doch noch heute gehörte Fisch zu seinen absoluten Leibspeisen. Draciel war das erste Bit Beast, aus dem Kreis der Uralten gewesen, was ihm zu jenem Zeitpunkt über den Weg gelaufen war. Er konnte sich kaum noch an die Jahre erinnern, bevor er seinen Kameraden begegnete, möglicherweise weil er noch zu jung gewesen war.
 

„Oder weil sie dein Leben so bereichert haben, dass dir die Zeit davor, wie ein farbloser Abschnitt vorkommt?“
 

Die Erkenntnis ließ ihn ausatmen.

Plötzlich wurde Dragoon jäh bewusst, dass er noch immer, wenige Meter, vor Draciel schwebte. Er setzte langsam seine Hinterbeine auf dem eisigen Erdboden ab, verweilte jedoch noch in aufrechter Haltung. Nachdem sein Gegenüber merkte, dass er keine Anstalten mehr tat, ihn anzugreifen, blieb auch die Schildkröte tatenlos.

Ihre Blicke bohrten sich förmlich ineinander.

„Willst du das wirklich?“, kam die Frage schließlich aus Dragoons Mund. Sie durchschnitt die Stille, die zwischen ihnen aufgekommen war. Er erhielt keine Antwort. Lediglich ein leichter Aufschlag mit den Lidern kam von Draciel.

„Denn… ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich das will.“

Er setzte nun auch mit seinen Vorderfüßen auf dem Erdboden auf. Es verging eine lange Zeit, bis von der Schildkröte eine Regung kam. Draciel war nun einmal kein Bit Beast, der besonders schnellen Sorte. Doch schließlich…

Nach einer quälenden Atempause, schüttelte es endlich den Kopf.

„Und was kann ich tun, damit wir das hier friedlich beenden können?“, wollte Dragoon nun wissen. Es war das erste Mal das er eine Art Kompromiss einging. Er wusste nicht genau, wie man diplomatisch handelte, lediglich, wie man für seine Ziele kämpfte. Daher kam er sich merkwürdig unbeholfen vor.

Eine lange Stille kam auf. Fast hätte er gemeint, dass Draciel sich wie sonst auch, in stillschweigen hüllte. Da öffnete das Bit Beast vor ihm den Mund. Die Laute die kamen, klangen leise, wie das heisere Flüstern eines Sterbenden.

„Gib… auf.“

Es waren zwei Worte, die eine fatale Schlacht in seiner Seele auslösten. Da entstanden zwei Parteien in ihm. Sein tierischer Instinkt weigerte sich vehement nachzugeben. Er wollte nicht von seinem Plan ablassen. Wenn er jetzt, nach all der Anstrengung, einfach so aufgab, dann wäre Drigers Tod doch vollkommen umsonst gewesen…
 

„Aber wenn du weitermachst, wirst du einen weiteren Kameraden verlieren. Dann wirst du den doppelten Verlust zu spüren bekommen.“
 

War es das wert?
 

„Dann wird auch Draciels Blut an deinen Händen kleben.“
 

Dragoon starrte auf seine Krallen hinab. Die zermürbte Schildkröte verharrte stumm.

Erwartete nun seine Antwort. Desto weniger Muße er besaß, den Kampf fortzuführen, desto mehr ebbte das grelle bläuliche Licht, was Zeugnis seiner immensen Energie war, auf seinen Schuppen ab.
 

„Ab einem gewissen Punkt, ist selbst ein Sieg eine Niederlage.“
 

Er konnte doch eigentlich gar nicht mehr riskieren, noch einen weiteren Uralten zu vernichten. Wenn Draciel nun auch vom Antlitz der Welt verschwand, würde das katastrophale Folgen auf die Erde haben.

Endlich ließ die Raserei von ihm ab…

Das Blut was in seinen Ohren hörbar pulsierte, legte einen sanfteren Rhythmus ein. Dragoon begann seine Instinkte zum ersten Mal, in seinem gesamten Leben, bewusst zu unterdrücken, zwang sich rational zu denken. Als Uralter hatte er seine Verpflichtungen gegenüber diesem Planeten. Eine davon besagte, das Gleichgewicht der Erde nicht zu stören. Doch tötete er Draciel ebenfalls, war er gezwungen, den Part von Driger und auch jenen der Schildkröte zu übernehmen – und das konnte er nicht!

Er war eine Partnerschaft mit Dranzer eingegangen, wusste um ihre Arbeit, doch niemals hatte er einen Gedanken daran verschwendet, wie die Abläufe der anderen Uralten vonstattengingen. Er wusste nicht einmal, ob er die Energie von so vielen Uralten kontrollieren konnte und brauchte Draciel zurzeit mehr denn je, gerade weil er Driger durch sein unüberlegtes Handeln ausradiert hatte - und auch noch im Clinch mit seiner Phönixdame stand. Ganz zu schweigen davon, dass er wirklich nicht noch einen weiteren Freund verlieren wollte.

Er musste an Driger denken.

Seinen alten Berater.

Seinen Gefährten.

Seinen Freund…

War das tatsächlich Reue was er hier empfand?

Dragoon schloss die Augen. Er war so erschöpft. Die ständigen Kämpfe begannen ihn zu ermüden. Das alles war so aus dem Ruder gelaufen. Diese Erkenntnis ließ ihn ausatmen und endlich jene Worte sprechen, die sein Gegenüber herbeisehnte.

„Lass uns nachhause gehen, Draciel.“

Es kam selten vor, dass die Schildkröte eine Gefühlsregung zeigte, doch er hätte schwören können, einen glücklichen Glanz in den dunklen Knopfaugen zu sehen. Es ließ ihn matt Lächeln und insgeheim dachte er, dass er nun vielleicht doch richtig handelte. Dragoon wandte sich um, roch sein Menschenkind ganz in seiner Nähe. Er erhaschte die Gestalten der anderen Jungen unweit von ihm. Sie standen in sicherem Abstand von ihnen entfernt, schauten aus geweiteten Augen auf die beiden Uralten, ihr Blick starr auf ihren Freund gerichtet, um dessen Leben sie noch immer bangten.

Es hätte nur einen kleinen Hieb von Dragoon bedurft, dann wäre Draciel wohl über dem Menschenkind zusammengeklappt, hätte den Jungen unter dem massigen Körper, gnadenlos zerquetscht. Das war wohl auch den anderen aus seiner Gruppe klar.

Er sah in Takaos Augen.

Seine dunklen Pupillen waren starr auf ihn gerichtet, als wisse er nicht, was er von seinem Sinneswandel halten sollte – als könne er selbst kaum glauben, dass Dragoon bereit war, ihn endlich, nach all den erlitten Strapazen, mit seinen Freunden ziehen zu lassen. Einen kleinen Moment fühlte er den alten Ärger aufwallen, weil er ausgerechnet vor einem mickrigen Sterblichen zurückweichen musste.

Da vernahm Dragoon ein Krächzen hinter sich.

Als er mit fragenden Ausdruck zu Draciel blickte, war der Kiefer der Schildkröte weit aufgesperrt und die Augen tellergroß geworden. Seine Brauen zogen sich argwöhnisch zusammen, bis er seinen Fokus auf den Menschenjungen setzte. Dragoon ging einen riesigen Schritt zurück, senkte den Oberkörper und legte den Schädel auf die Seite, um besser auskundschaften zu können, was der Schildkröte solche Schmerzen bereitete. Er erspähte die Beine des Jungen. Beinahe wäre ihm ein trockenes Lachen entwichen, als er bemerkte, wie das schmächtige Bürschlein seine Handflächen gegen den Brustkorb der Schildkröte presste, ganz so, als wolle er den massigen Körper über ihn, von sich fort stemmen. Dieses närrische Menschlein dachte wohl tatsächlich, ein federleichtes Gänseblümlein über sich zu haben. Da bemerkte Dragoon erst, das der Junge etwas in der Hand hielt. Seine Pupillen hefteten sich auf den leuchtenden Gegenstand zwischen dessen Fingern, da weiteten sich die Schlitze in seinen Augen vor Schrecken. Er hatte angenommen den Reißzahn in der anderen Kammer verloren zu haben!

„Nein!“, keuchte Dragoon.

Sein Kopf schnellte hinauf. Er starrte in Draciels Gesicht…

Und erkannte die Schmerzen, die das Bit Beast durchlebte, sah das Entsetzen, als sich Drigers Reißzahn, durch den Brustkorb, weiter in Richtung Herz bohrte. „Hör auf!“

Dragoons Stimme überschlug sich vor Panik, da versuchte Draciel den massigen Körper anzuheben, bevor das Menschenkind noch weiter mit dem gefährlichen Attribut vordringen konnte - nur leider war das ein Fehler! Der Platz der dadurch entstand, genügte dem Jungen, um nun auch noch seinen Fuß anzuheben.

„Das ist für meine Mutter, du verfluchter Verräter!“, hörte Dragoon ihn mit tränenerstickter Stimme brüllen. Dann trat er gegen den Reißzahn und beförderte ihn tief in Draciels Fleisch. Es gelang Dragoon noch einen letzten Blick in die dunklen Knopfaugen der Schildkröte zu werfen. Die Lider senkten sich flirrend. Draciel wusste was auf es zukam. Keine Sekunde darauf, blähte sich der Körper der Schildkröte auf. Aus jeder Ritze zwischen der Panzerung, trat die immense Energie in einem gleißenden Lichtstrahl hervor. Es wirkte wie eine Bombe die hochging. Kurz darauf erschütterte eine ohrenbetäubende Druckwelle die Höhle und Draciels Panzerung flog in Splittern durch die Gegend.
 

ENDE Kapitel 36
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich glaube das ist eine ganz gemeine Stelle um einen Cut zu machen. :-P
Eigentlich sollte das Kapitel auch länger werden, aber ich bin ab jetzt eine Woche in München und kann daher nicht schreiben. Ohnehin bin ich zur Zeit in einer leichten Zwickmühle. Bald bin ich am Finale angelangt. Darin überschlagen sich die Ereignisse aber so sehr, dass ich daraus ursprünglich ein "Big Mac Kapitel" machen wollte, damit man zwischendrin nicht so lange warten muss, bis es weitergeht. Immerhin war das erste Kapitel auch sehr umfangreich. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, dass es wirklich anstrengend sein muss, nach so vielen Kapiteln, immer einen Kommentar zu hinterlassen. Die arme Minerva hält sich wirklich wacker und ich bin immer dankbar von ihr zu lesen ;-)
Allerdings brauche ich für den Big Mac dann leider viel, viel länger. Das heißt ihr würdet einige Zeit nichts von mir lesen. Ich kann natürlich auch die Kapitel wie gewohnt, jeden Monat online stellen, ist für mich auch kein Ding. Nur weiß ich nicht ob das jedem so recht ist, der gerne alles am Stück lesen möchte. Ihr dürft mir hierzu gerne eure eigene Meinung mitteilen.

Zu diesem Kapitel...
Nja. Das es zur Konfrontation zwischen Max und Draciel kommen musste war mir klar. Eigentlich sollte Draciel aber nicht sterben. Nachdem ich aber ständig diesen Absatz gelöscht, neu bearbeitet und noch einmal gelöscht habe, ist mir klar geworden, dass es wirklich keine logische Erklärung gibt, weshalb Max dem Mörder seiner Mutter einfach so verzeihen könnte. Zumindest wäre ich persönlich dazu niemals in der Lage, egal wen es aus meiner Familie betrifft.

Übrigens habe ich keine Ahnung, ob meine Theorie stimmt, weshalb Hilary keine Bit Beasts sehen konnte. Ich kann mich aber auch beim besten Willen nicht daran erinnern, ob das in der zweiten Staffel überhaupt mal erklärt wurde. Vielleicht in den Mangas... Aber in der deutschen Fassung habe ich echt nichts gefunden. Sorry falls ich hier also etwas durcheinander bringe. ^^

Ich wünsche euch allen noch eine schöne Woche. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Minerva_Noctua
2016-08-03T17:15:44+00:00 03.08.2016 19:15
Hallo Eris!

Diesmal bin ich früher dran:)
Ich würde mich über mehrere Kapitel freuen, dann ist die Wartezeit nicht so lang. Außerdem finde ich es besser, wenn man etappenweise kommentieren kann. Sonst vergesse ich ja noch was zu erwähnen. Ähem^^°
Soweit ich mich erinnere konnte Hilary die Bit-Beasts nicht sehen, weil sie nicht daran geglaubt hat und sich erst auf die ganze Sache einlassen musste.

Die Gespräche zwischen Hana und Co. waren gut dargestellt.
Ich finde es ganz fantastisch, wie du immer Erinnerungen - sogar mit gesprochenen Sätzen - in die Erzählung einfügst:)
Durch diese ganzen Details verliebe ich mich immer mehr in die einzelnen Charaktere und diese Geschichte und ich werde echt traurig sein, wenn sie vorbei ist. Es ist eine der besten FFs, die ich je gelesen habe und es macht einfach unglaublich Spaß in dieser von dir geschaffenen Welt zu versinken.
Es war äußerst nachvollziehbar, dass Hana nichts von Hiros Situation erzählen wollte. Eigentlich dürfte ihn die Polizei nicht festhalten. Es war ein Unfall und soweit ich mich erinnere, lagen nicht einmal die Tatbestandsmerkmale einer fahrlässigen Tötung vor (zumindest nach Deutschem Recht). Es war für ihn nicht voraussehbar, dass Ming-Ming so unglücklich hinter sein Auto stürzt.
Ich frage mich, ob Hana und Kenny noch merken, dass Jana Trisomie hat oder ob sie es einfach ignorieren. Ich könnte mir vorstellen, dass Kenny auch von Kais Heimlichtuerei gekränkt wäre und es deshalb irgendwie verbal zur Kenntnis nimmt.

Ich denke, dass zur Beweisführung ein paar wütende Bit-Beasts in der Menschenwelt hilfreich wären, damit die Polizei sie aus erster Hand sieht. Allerdings könnte es eine weltweite Panik geben, wenn die Menschen erfahren, wie ihre Welt tatsächlich strukturiert ist und ihre Religionen nicht unbedingt die richtigen Antworten für die Ordnung der Welt parat haben.
Ich bin gespannt:)
Auch bin ich auf Dranzer gespannt. Ich lese gerade diese ganze Geschichte nochmal vorm Einschlafen als PDF und bin gerade an der Stelle, wo Dranzer mit Kai im Anwesen ist, gerade wieder Kindgeworden und mit dem "Feuervogel" zum Lesen auf dem Schoß.
Im Hinblick auf Dranzers Hintergrundgeschichte habe ich nun mehr Verständnis für ihr Verhalten. Ich bedauere sie und fürchte, dass sie so eingegangen ist, weil ihr zu wenig Liebe gegeben wurde. Ich wünsche ihr, dass sie sich erholt und ihre seelischen Wunden heilen können. Und ich hoffe, dass sie gestoppt wird, bevor sie ihr eigenes Grab schaufelt.

Ich bin von Dragoons innerer Entwicklung beeindruckt. Unglaublich, dass er so viele Millionen Jahre dafür gebraucht hat, um sich in Selbstreflexion zu üben. Aber besser spät als nie.
Schade, dass seine Erkenntnis Draciels Leben nicht bewahrt hat. Hoffentlich vergeht ihm dadurch nicht die Einsicht. Immerhin ist Max' Verhalten verständlich und was hatten die Uralten denn erwartet, wenn sie die Liebsten ihrer Menschen angreifen?
Soviel Voraussicht und Wissen müssten sie aus den Beobachtungen von Menschen gesammelt haben, um mit negativer Resonanz zu rechnen. Mal sehen, wie Dragoon damit umgeht und ob er versteht, dass er dafür mitverantwortlich ist, dass Max so viel Hass auf Draciel hatte.

Draciel tut mir schon irgendwie leid. Vielleicht gibt es ja sowas wie Wiedergeburt. Aber ich kann Max keineswegs verurteilen. Zumindest moralisch nicht. Trotzdem ist es ein verdammt großer Schritt ein Lebewesen zu töten und es ist erschreckend, dass er dazu in der Lage ist. Nachvollziehbar, aber erschreckend.
Ich habe geahnt, dass es Judy sein könnte und du hast ihre Interaktion mit Max sehr gut beschrieben. Mir wird ganz anders, wenn ich lese, wie sehr Max leidet und ich verstehe den armen Jungen so gut. Er muss wirklich unaussprechliche Quälen durchleiden. Nicht nur den gewaltsamen Tod seiner Mutter, sondern noch dazu den Verrat eines treuen Freundes, die Angst um sein Leben und das seiner Freunde, den Stress in der lebensbedrohlichen Irrlichterwelt... Welcher Mensch soll das psychisch verkraften?
Momentan kann ich mir kaum vorstellen, dass sich Max je wieder davon erholen wird. Ich hoffe, dass Galux auch seelische Wunden lindern kann...

Ach ja, die herumfliegenden Splitter sind auch keine gute Sache. Ich hoffe, dass keiner zu schwer verletzt wird und Max einigermaßen davonkommt.
Gerade könnte ich mir vorstellen - in meiner überdramatischen Phantasie - dass Tyson für Kai einen Splitter einfängt, fast stirbt und Kai sich dann durch die Angst wieder erinnert... Gut, ich höre auf hier rumzudichten und warte brav und gespannt wie ein Bogen, wann und wie Kai von diesem Fluch befreit wird. So wie es aussieht, haben die Jungs es ja nicht mehr so weit in ihre Welt und kommen bestimmt bald - irgendwann sicher - in Tokio bei ihren Angehörigen und Dranzers Einzugsgebiet an.

Was wohl mit der Welt passiert, wenn nun auch Draciel tot ist? Es sieht momentan fatal aus. Roland Emmerich fatal.

Kai ist ein wirklich tapferes Kind. Unglaublich, was der Kleine alles brav erduldet. Mit 6. Das musste ich hier mal honorieren.

So allgemein: Obwohl Ray bestimmt ein ganz entzückender Vater sein wird, kann ich mir das gerade so schlecht vorstellen. Aber er ist ja auch noch sehr jung. Bei so jungen Menschen ist es anfangs immer gewöhnungsbedürftig, wenn sie plötzlich Kinder kriegen.
Aber das kann ja auch nur aus dem Mund einer gestressten Studentin kommen, die vor 30 gar nicht an Nachwuchs zu denken braucht, haha^^°

Ich bin sehr auf das nächste Kapitel gespannt und werde immer dafür beten, dass Kai noch eine schön lange Zeit auch als Erwachsener herumläuft. Ich kann verstehen, wenn das Ende zwischen Kai und Tyson delikat offen bleibt, aber mein Fangirl-Herz hofft trotzdem auf eine Aussprache und den gefühlt obligatorischen Kuss. Wenn nicht, auch völlig okay. Aber ich kann ja noch träumen:D

So oder so, ich freue mich auf das nächste Kapitel und wünsche dir viel Spaß in München:)
(Ich bin kommendes Wochenende auch wegen einem Repetitionskurs dort und fühle mich immer noch heimisch, obwohl ich vor mittlerweile 13 Jahren mit meinen Eltern aus München weggezogen bin).

Liebe Grüße,

Minerva


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