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Die Geister die wir riefen...

von

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„Wirfst du mir einen Karton herüber?“

„Klar.“, Ray wandte sich um, wo ein vorgefalteter Stapel darauf wartete, mit allerlei Habseligkeiten befüllt zu werden. Eigentlich wollte er während seinem kurzen Aufenthalt in Japan, nur seine Freunde besuchen, dennoch half er jetzt ebenfalls bei Maxs Umzug, einfach weil es für ihn eine Selbstverständlichkeit darstellte. Er griff nach einem der leeren Pappkartons und warf ihn quer durch den chaotisch wirkenden Laden, direkt in seine Richtung, so dass Tyson ihn auffing. Kurz darauf fuhr der damit fort, die Gläser vor ihm auf den Tisch, in Zeitungspapier einzurollen. Nur noch wenige Tage, dann kehrte Max Japan auch den Rücken zu. Er hatte es Tyson versucht schmackhaft zu reden, indem er ihm erklärte, dass sie sich jedes Quartal treffen könnten.

„Der Flug ist nicht das teuerste - es sind die Hotels. Aber wenn ihr mich besuchen kommt, fällt das schon mal weg. Das wird also ein Schnäppchen! Jedes Mal wenn wir uns treffen, werden wir was Tolles unternehmen. Bei Ray genießen wir die Wildnis, bei mir die Großstadt, bei dir hängen wir wie in alten Zeiten ab. Das wird toll!“

Tyson hatte ein Lächeln aufgesetzt. Es fiel ihm unglaublich schwer es ehrlich wirken zu lassen. Eigentlich war er ziemlich bedrückt, weil Max nun auch ins Ausland verschwand. Um ehrlich zu sein, hatte Tyson sogar schreckliche Angst, dass sie sich nun komplett aus den Augen verloren. Allein die Entfernung zu Ray machte es schwer, ihn überhaupt noch zu erreichen. Zwar hatte der sich, nach seiner Hochzeit mit Mao, endlich ein Handy gekauft, damit er nicht immer auf Briefpapier zurückgreifen musste, doch die Verbindung in seinem Dorf war noch immer katastrophal, so lange die Modernisierungsarbeiten dort liefen. Einmal war Ray so genervt gewesen, dass er auf den obersten Wipfel einer Tanne kletterte, nur um einen Balken auf seinem Display aufblinken zu sehen. Dafür rauschte es im Hintergrund während dem Telefonat, da der Wind durch die Bäume pfiff, dennoch nahm es Ray mit Humor und knipste dort oben auch noch ein Foto von sich. Tyson hatte vor Lachen gegrölt als er das Bild erhielt. Wie er da auf seinem Ast hockte, mit einem überspielten panischen Ausdruck, während er den Stamm fest umklammerte, um nicht hinuntergefegt zu werden, sah einfach urkomisch aus. Allerdings ließ es sich dadurch kaum noch von der Hand weisen, dass die Kilometer zwischen ihnen, ihrer aller Freundschaft, auf eine harte Zerreisprobe stellte. Das machte ihm wirklich Sorgen…

„Kopf hoch, Grünschnabel. Das Leben besteht nun einmal aus Veränderungen.“, hatte sein Großvater versucht ihn aufzumuntern, als Tyson tief enttäuscht nachhause kam, kurz nachdem er von Maxs Hiobsbotschaft hörte. Er war total fertig gewesen, als er von dessen Absicht erfuhr, wieder zurück in die USA zu ziehen, um seiner Mutter aus ihrer Depression zu helfen. „Für deinen Freund ist das bestimmt auch kein leichter Schritt. Aber es gibt Situationen, da müssen auch unliebsame Entscheidungen getroffen werden, wenn es um deine Familie geht. Das wirst du irgendwann auch tun müssen, mein Junge.“

Tyson hatte darauf nur beklommen genickt, doch seine melancholische Stimmung legte sich trotzdem nicht. Für ihn gehörten seine Freunde ebenfalls zur Familie, das war für ihn ein und dasselbe.

Kenny und Max kamen inzwischen die Treppe in den Laden hinunter, beide bepackt mit einem beschrifteten Karton. Letzterer wirkte etwas besorgt und auch in sich versunken. Tyson fragte sich, ob Max nur durch den Kopf ging, was er heute noch alles erledigen musste, oder ob der Umzug ihm trotz seiner Zuversicht doch aufs Gemüt schlug. Zumindest wirkte er nicht glücklich darüber, immerhin hatte er sich hier viel aufgebaut, auch wenn der Laden die letzten Monate schlecht lief. Die beiden verschwanden durch die Eingangstür ins Freie, wo Mr. Tate den Umzugstransporter belud. Das Judys Kündigung solch einschneidende Folgen hatte, ärgerte Tyson. Er war vertieft in sein Selbstmitleid als ihn Rays Stimme aus seinen düsteren Gedanken riss.

„Hast du dich mit Kai eigentlich wieder versöhnt?“, wollte er wissen, während er auf eine Leiter stieg, um eine Lampe von der Decke herunterzuschrauben. Tyson rollte entnervt mit den Augen bei diesem Satz…
 

Letztes Wochenende hatten sie sich wieder wegen irgendeiner Lappalie in die Haare gekriegt. Er wollte abends bei Kai vorbeikommen, weil ihm langweilig war und kam eben unangemeldet durch, wie bei seinen anderen Freunden sonst auch. Sie waren schon immer locker in ihren Umgangsformen. Doch anstatt das Kai mitkam, stellte er sich quer und meinte, er wolle seine Mutter nicht alleine mit seiner kleinen Schwester lassen.

„Wofür sind Mütter sonst da?“, hatte Tyson fragend die Braue aufgezogen. „Jetzt stell dich nicht so an. Lass uns um die Häuser ziehen!“

„Ich kann wirklich nicht mitkommen.“

„Warum nicht?“

„Meine Schwester ist heute etwas aufgedreht. Das nächste Mal musst du einfach anrufen, okay?“, wies Kai ihn vehement ab und wollte die Tür schon wieder schließen, doch Tyson hatte den Versuch abgeblockt, indem er sich irritiert dagegen stemmte.

„Hey, was soll das? Warum schlägst du mir die Tür vor der Nase zu?“

„Ich habe heute wirklich keine Zeit. Bitte geh jetzt!“

„Ach komm schon! Wann war ich das letzte Mal bei dir? Man könnte meinen dein Großvater lebt noch, so selten darf man bei dir vorbeikommen! Bei euch zuhause schleichen so viele Bedienstete herum, die sich mit deiner Schwester befassen können, da kann ich doch wenigstens etwas bei dir abhängen?“

„Tyson, nicht heute.“, sprach er drängender. „Du kannst kommen, wenn meine Schwester nicht da ist. Ich rufe dich dann an.“

„Du willst deine Schwester aus dem Haus schicken, nur weil ein Freund vorbeikommt?“

Der Gedanke war so urkomisch, dass Tyson ihn beinahe ausgelacht hätte.

Ein Schmunzeln konnte er dennoch nicht verkneifen.

„Ich…“, Kai war ins Stocken geraten, denn darauf hatte er wohl keine Antwort parat gehabt. Er wirkte auf Tyson an diesem Abend ohnehin etwas angespannt, was er darauf schob, dass ihm die Vorstellung nicht behagte, einer seiner Freunde könnte sehen, wie er mit seiner kleinen Schwester spielte. Wahrscheinlich hätte das wieder einmal an seinem Ego gekratzt. Da erhaschte Tyson den Blick auf eine Tür hinter Kai, die sich in der Eingangshalle langsam öffnete. Das Geräusch lenkte dessen Aufmerksamkeit einen Moment von ihm ab. Laut vernehmbares Kinderweinen drang aus dem Zimmer heraus, doch anstatt Jana, war Kais Mutter hervorgekommen. Sie hatte einen schwarzen Rock, mit einer eleganten lockeren Bluse getragen, die um den Kragen herum, eine kleine schwarze Schleife aufwies, deren langen Enden über der Brust baumelten. Ihr feines Haar war in hübsch geformten Locken bis zu den Schultern gefallen. Die dunklen Strähnen hatten das makellose Gesicht umrahmt, wo besonders die verführerischen roten Lippen hervorstachen. Es war unverkennbar, wie viel Wert Kais Mutter auf ihr aufreizendes Erscheinungsbild legte, denn sie trug selbst zuhause Schminke. Zwischen ihren zierlichen, blassen Fingern, hatte Tyson das rötliche Glimmen einer Zigarette erkannt.

Er wünschte ihr einen guten Abend, doch anstelle einer einladenden Antwort, nickte sie nur knapp und tat einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. Ihm fiel der stechend rote Nagellack ihrer manikürten Finger dabei auf. Nachdem sie den Rauch achtlos in den Raum entließ, hatte sie sich kommentarlos abgewandt und stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf, ohne die beiden jungen Männer noch weiter zu beachten. Etwas verstimmt hatte Tyson gedacht, dass die Frau zwar einen hübschen Hintern besaß, aber leider genauso unfreundlich, wie der Rest der Familie war. Ihr kurzer Auftritt ließ Kais Braue für eine winzige Sekunde zucken, bevor er sich mit einem missbilligenden Schnalzen zu ihm umdrehte. Tyson fand in jenem Moment, dass sein Freund ebenfalls so wirkte, als könne er etwas Abwechslung vertragen, weil man ganz klar spürte, dass der Haussegen auch hier schief lag.

„Mir ist total langweilig und das Maxs auswandert frustriert mich. Ich brauche etwas Ablenkung! Ich bringe der Kleinen auch bei, wie man das Alphabet rülpst!“, er hatte bei dem Gedanken begeistert grinsen müssen.

„Sehr komisch. Aber heute nicht. Wenn du willst können wir nächste Woche etwas ausmachen…“

„Wow! Jana muss dich ja ordentlich auf Trapp halten. Keine Sorgen, ich helfe dir!“

Er wollte sich schon unbekümmert Eintritt verschaffen, da hatte Kais Arm ihm den Weg blockiert. Tyson wusste noch, wie ihn dessen Augen mahnend taxierten.

„Du musst endlich lernen ein Nein zu akzeptieren!“, hatte Kai ihn plötzlich angefaucht.

Zunächst blinzelte Tyson verdutzt über diese unfreundliche Abfuhr, dann wandelte sich seine Verblüffung in Ärger und kurz darauf entbrannte auch schon eine hitzige Debatte zwischen ihnen, die sich so aufbauschte, dass Tyson seinen Freund irgendwann zum Teufel wünschte und wutschnaubend abhaute.

„Warum kannst du nicht in die USA abhauen und Max bleiben?!“, hatte er Kai in seinem Zorn noch entgegengebrüllt, als er den Kiesweg zur Einfahrt wieder zurücklief, um in seinen Wagen zu steigen. „Dich bekommt man ohnehin nie zu Gesicht, selbst wenn du in derselben Stadt wohnst! Und deine Freunde sind dir doch sowas von scheißegal!“

Kurz darauf hörte er auch schon, wie die Eingangstür geräuschvoll zuknallte. Dieser Streit hatte Tyson an diesem Abend den Rest gegeben. Kenny war auch noch auf einer Schulung in Osaka gewesen, weshalb er bei ihm auch kein vorläufiges Asyl bekam und so blieb ihm nichts anderes übrig, als nachhause zu fahren und eines seiner Betthäschen anzurufen, um sich mit der die Zeit zu vertreiben. Seit dem Wochenende hatte er kein Wort mehr mit Kai gewechselt.
 

„Ich melde mich ganz bestimmt nicht bei dem Arsch!“, antwortete Tyson bissig auf Rays vorherige Frage. Der war inzwischen von der Leiter abgestiegen und hatte die Lampe in Zeitung eingewickelt, um sie in einer der Schachteln zu verstauen. Auf seine Worte schmunzelte Ray nur amüsiert und meinte wohl, Tyson könne seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, so lange er sich nur tief genug über den Karton vor ihm beugte. In der Zwischenzeit rannte Max an ihnen vorbei und verschwand wieder die Treppe hinauf.

„Was soll das?“

„Was meinst du?“, Ray blinzelte unschuldig zu ihm herüber.

„Dieser Gesichtsausdruck?“, Tyson ahmte ihn nach, allerdings ziemlich überzogen, was seinen Freund Lachen ließ.

„Wir wissen beide, dass du dich doch wieder bei ihm meldest.“

„Wieso sollte ich?“

„Na, weil ihr euch immer vertragt.“

„Nicht bevor er sich bei mir entschuldigt!“

„Eher entschuldigst du dich wieder…“

„Warum soll ich immer den ersten Schritt machen?!“, protestierte Tyson aufgebracht. Etwas öfters als nötig, fuhr er mit dem Kleberoller über die Klappen seines Kartons. „Warum geht ihr alle davon aus, dass ich mal wieder was falsch gemacht habe? Warum könnt ihr nicht einmal von Anfang an auf meiner Seite sein?“

„Weil du die Begabung hast, in Fettnäpfchen zu treten. Außerdem regst du dich schnell auf. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kai weniger Schuld trifft, als du mir weiß machen willst.“

„Das ist nicht wahr! Ich weiß gar nicht, wieso ich das mit mir machen lasse? Bin ich ein verlauster Köter, dass er mit mir so umspringen darf?“

„Natürlich nicht. Aber wenn er sagt, dass er keine Zeit hat, dann musst du es auch einfach mal so stehen lassen. Du kannst sehr hartnäckig sein, wenn du etwas willst.“

Ein genervtes Stöhnen war die Antwort.

„Was soll dieses Geräusch, mir jetzt sagen?“, blinzelte Ray verwundert.

„Jetzt geht deine Predigt wieder los!“, Tyson hob seinen Finger streng an, als wäre er ein nörgelnder Klassenlehrer und äffte ihn nach. „Du musst nicht immer deinen Willen durchboxen. Ich finde du bist zu weit gegangen. Am besten du entschuldigst dich bei Kai für deine aufdringliche Art.“

„So rede ich nicht…“

Kenny rauschte mit einem Karton an ihnen vorbei und sprach beiläufig: „Doch, sogar ziemlich oft.“

Es ließ Ray erbost schnalzen, da war der Chef aber auch schon zur Tür hinaus, bevor er etwas Gehässiges kontern konnte.

„Wie auch immer… Du weißt doch wie Kai ist. Das musst du endlich einmal respektieren.“

„Eben, ich weiß wie er ist! Bei dem muss man immer hartnäckig bleiben…“

„Oder, du könntest einfach mal seine Grenzen akzeptieren.“

„Oder, hartnäckig bleiben! Sonst klappt das auch immer.“

„Dann darfst du dich nicht wundern, wenn du dir die Finger an ihm verbrennst.“

„Ich wollte nur bei ihm abhängen und keine verdammte Niere von ihm! Seit seine Schwester aber auf der Welt ist, darf man gar nicht mehr bei ihm vorbeischauen.“

„Vielleicht hat seine Mutter etwas dagegen…“

„Als hätte die viel Arbeit mit dem Kind. Ich habe sie an dem Abend doch gesehen - die war die Ruhe selbst! Wahrscheinlich ist sie die meiste Zeit bei der Maniküre, während zwei Dutzend gluckende Kindermädchen, jeden Schritt von Jana überwachen. Kai hat gar keinen Grund, um immer abzusagen! Er hat das Geld und die Mittel um sie zu betreuen.“

„Er leitet noch eine Firma – und das in seinem Alter.“

„Hat ihn sonst auch nicht gestört. Der hält sich doch nur für etwas Besseres. Bestimmt sind wir ihm nicht mehr vornehm genug!“

„Meine Güte, Kai ist doch nicht so oberflächlich! Vielleicht war Jana an diesem Tag auch nur krank?“, kam es leicht genervt von Ray zurück. „Wie alt ist die Kleine jetzt? Vier oder Fünf? Auf keinen Fall älter. Kleinkinder können anstrengend sein, Tyson! Lees Sohn war unausstehlich, als er die Zähne bekommen hat. Er meinte der Junge hätte so viel geplärrt, dass er tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hätte, ihn im Wald auszusetzen, bis die scheiß Milchzähne endlich draußen sind. So jedenfalls sein genauer Wortlaut…“

„Das ist keine Entschuldigung umso pampig zu werden!“, verstimmt riss Tyson einige Zeitungen auseinander, um sie anschließend zu einem Knäuel zu zerdrücken. „Ich bin keiner seiner versnobten Geschäftspartner - ich bin einer seiner ältesten Freunde!“

„Das weiß er doch auch.“

„Tut er das? Mir kommt es nämlich nicht so vor! Ich habe das Gefühl, als müsste ich eine schriftliche Anfrage schicken, um einen Termin bei dem gnädigen Herren zu bekommen?“

Tyson zwängte seinen Knäuel schnaubend in die Ritzen innerhalb des Kartons, um die zerbrechlichen Gegenstände darin zusätzlich zu dämmen. Ray sah ihm etwas beunruhigt dabei zu, offenbar in Sorge darüber, ob er mit seiner groben Art, nicht mehr kaputt machte, als er schützte. Dennoch lief er kommentarlos an Tyson vorbei, um Kenny an der Eingangstür die Kiste zu reichen, welcher der Mr. Tate bringen wollte. Kurz darauf stellte er sich neben ihm auf, um Tyson dabei zu helfen, die restlichen Gläser zu verstauen.

„Er hat sich gebessert.“, sprach Ray nachsichtig. „Überleg doch mal, wie es während unserer Bladebreaker Zeit war. Da wollte er privat mit uns nichts zu tun haben.“

„Er ist trotzdem noch zu unterkühlt. Als hätte er einen Stock verschluckt!“

„Und was war damals bei dem Erdrutsch? Tyson, er hat meinem Dorf damit unglaublich geholfen! Ich kann noch heute nicht glauben, dass er das für uns getan hat. Andere Firmen würden sich damit schmücken, um in der Öffentlichkeit gut dazustehen und er will nicht einmal einen Dank von uns hören. Lieber kehrt er alles stillschweigend unter den Teppich.“

„Ach komm schon! Er will nur nicht, dass jemand weiß, dass ihm seine Freunde am Herzen liegen.“

„Weil er nicht damit umgehen kann! Du weißt wie Voltaire war. Ich bin als Vollwaise aufgewachsen und habe von den Dorfältesten mehr Zuneigung abbekommen, als er von seinem leiblichen Großvater! Und was in der Abtei war, wissen wir bis heute nicht… Kai ist auf seine eigene Art ein Freund. Das musst du respektieren. Du verlangst zu viel.“

Tyson seufzte entnervt und hielt einen Moment in seiner Arbeit inne.

„Ich behaupte ja auch nicht, dass er das Herz nicht am rechten Fleck hat, aber für mich bleibt er immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Da glaubt man endlich er ist aufgetaut, da stößt er einen ohne Vorwarnung weg! Warum sagt er mir nicht einfach was los ist? Ich weiß doch nicht einmal, was ich falsch gemacht habe.“

„Hallo? Wir reden von Kai!“, lachte Ray auf. „Das er wortkarg ist, dürfte dir doch nicht neu sein und seine Probleme macht er gerne mit sich selber aus. Zu unseren Anfängen saß er immer nur teilnahmslos in einer Ecke, jetzt spricht er wenigstens ganze Sätze mit uns. Da bekommt man den Eindruck, man zieht ein Kleinkind groß – wir warten sogar alle auf sein erstes Wort.“

Die Vorstellung wäre amüsant gewesen, hätte Tyson nicht eine so üble Laune gehabt.

Stattdessen knirschte er frustriert mit den Zähnen.

„Trotzdem nervt es.“

Er musste auf Ray recht verbittert wirken, denn es wurde einen Moment still zwischen ihnen.

„Bist du wirklich auf Kai sauer oder ist es weil Max nun auch ins Ausland zieht?“

Etwas unschlüssig zuckte Tyson mit den Schultern.

Wahrscheinlich wirkte er dabei wie ein bockiger Junge.

„Komm schon… Wir kennen uns nun schon ewig. Du tust zwar, als würdest du damit klar kommen, aber eigentlich bist du total sauer, weil er in die USA muss. Nicht wahr?“

Einen Moment schaute er störrisch zur Seite. Dann brach es aus Tyson heraus:

„Natürlich bin ich sauer! Wie könnte ich auch nicht?! Alle verschwinden nach und nach! Aber was soll ich denn machen? Ich kann niemandem von euch verbieten ins Ausland zu ziehen!“, er stützte sich schnaufend an den Seiten des Kartons ab. „Es ist nur… Bei dir habe ich fast damit gerechnet, dass du irgendwann nach China zurückkehrst und trotzdem hat es mich geschockt. Natürlich bin ich froh, wenn du glücklich bist, aber dennoch ist es hart, gerade einen seiner engsten Freunde ziehen zu lassen.“

Ray legte den Kopf zur Seite und bedachte ihn mitleidig, da fuhr Tyson auch schon fort.

„Das mit Max kam nun aber auch noch so unerwartet! Ich konnte mich gar nicht richtig darauf einstellen. Natürlich habe ich auch noch andere Freunde neben euch, aber ihr bleibt für mich einfach mein Team! Die Einzigen dir mir aus unserer Gruppe aber jetzt noch bleiben, sind Kenny und Kai - weil Hilary auch noch in den USA bleiben will! Kai lässt sich aber auch kaum noch bei mir blicken und so sehr ich ihn auch mag – ich kann mit ihm nicht so reden wie mit euch beiden! Zwischen uns ist das irgendwie so… anders. Mit ihm könnte ich zum Beispiel niemals über eine meiner Beziehungen sprechen!“

„Warum?“

Tyson zuckte ratlos mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Es kommt mir einfach falsch vor. Als ob ich gar nicht erst will, dass er etwas davon weiß. Jedes Mal wenn er etwas von meinen Bettgeschichten mitbekommt, habe ich ein schlechtes Gewissen.“

„Wahrscheinlich weil du ihn noch als unseren Teamleader siehst. Das ist, wie wenn dein Klassenlehrer dich dabei ertappt, wie du wild mit einem Mädchen herummachst. Du musst dich aber von dem Gedanken endlich lösen. Er kann dir nicht mehr vorschreiben, wie du dein Leben führen solltest. Du musst weder einen Trainingsplan einhalten, noch dich ausschließlich auf das Bladen konzentrieren. Ihr seid jetzt beide erwachsen und habt natürlich ein Privatleben.“

Einen Moment blinzelte Tyson verdutzt, denn daran hatte er noch nie einen Gedanken verschwendet. Er zog die Brauen zusammen und stierte in den Karton vor sich, in die Überlegung vertieft, wie viel Wahrheitsgehalt hinter Rays Worten lag. Eigentlich war er ziemlich sicher, dass das nie sein Problem war. Schon zu ihrer Zeit in einem Team, begegnete er Kai auf gleicher Augenhöhe. Dazu hatte einfach seine vorlaute Klappe beigetragen.

„Kai hat doch auch seine Frauen gehabt. Also wofür schämst du dich?“

„Von wie vielen weißt du eigentlich?“

„Nicht vielen. Bis auf die eine die wir einmal zufällig auf der Party getroffen haben, ist mir keine weitere zu Gesicht gekommen. Aber von der hatte er sich ja auch schon wieder damals getrennt.“

Tyson erinnerte sich. Sie war ziemlich hübsch gewesen und obwohl Kai sie ihnen, als seine Ex Freundin vorstellte, gingen sie doch sehr freundlich miteinander um. Tyson schüttelte den Gedanken von sich, denn aus irgendeinem Grund hatte er sie nicht leiden können. Eine solche Voreingenommenheit kannte er nicht von sich.

„Das ist doch gar nicht mein eigentliches Problem. Ihr beide hinterlasst einfach eine zu große Lücke! Auch wenn ich noch andere Freunde hier in Japan habe, Kenny und Kai – die beiden sind nicht wie ihr. Menschen sind schließlich keine Massenware.“, er suchte einen Moment nach einer Möglichkeit, um Ray seine Gedanken mit passenderen Worten, noch verständlicher zu vermitteln. „Unser Team ist für mich… wie ein funktionierender Körper! Max und du, ihr seid meine Hände und Füße. Kenny ist das schlaue Hirn und Kai… keine Ahnung. Sagen wir einfach er ist in diesem Vergleich das eiskalte Herz.“

Ray schnalzte, würdigte das gehässige Kommentar jedoch keiner weiteren Bemerkung.

„Wenn ihr beide fehlt, lebe ich vielleicht noch, aber es ist kein schönes Leben. Genauso wenig könnte ich ohne Kai zurechtkommen, aber er ist bei mir einfach für einen anderen Part zuständig. Du kannst Hirn und Herz nicht sagen, dass sie für dich das Laufen übernehmen sollen. Und alle anderen Menschen sind für mich nur billige Prothesen. Es wird mit denen niemals so sein wie mit euch.“

Ein trauriges Seufzen kam aus seinem Mund.

„Heute könnte das letzte Mal sein, dass wir hier zusammensitzen. Und das… Das bereit mir schon Bauchschmerzen.“, er wurde leiser bei diesem Geständnis, denn eigentlich schämte Tyson sich dafür. „Ich habe das Gefühl, mein gesamter Freundeskreis zerstreut sich in alle Himmelsrichtungen. Diese plötzlichen Veränderungen sind einfach scheiße! Als hätte ich ein verdammtes Déjà-vu Erlebnis…“

Er spürte Rays bestürzten Blick auf sich ruhen, denn natürlich verstand er die Anspielung prompt. Da klopfte ihm eine Hand auf die Schulter. Als er sich zur Seite wandte, schaute er in Maxs tiefblaues Augenpaar. Tyson hatte gar nicht bemerkt, wann er wieder dazu gestoßen war. Ein wehmütiges Lächeln umspielte dessen Mundwinkel. Dann sprach er ruhig:

„Hey, Kumpel… Ich bin auch traurig. Sehr sogar.“

Max tat einen Schritt von ihm zurück. Sein Blick huschte über die kahlen Wände jenes Ladens, der lange Zeit sein Zuhause gewesen war.

„Und was du da sagst… ich verstehe das! Weil ich auch eine riesen Angst davor habe, was die Zukunft für mich bringt. Glaub mir, du bist nicht Einzige, der nachts wach liegt und sich diese düsteren Gedanken macht. Ich muss mir in den USA ein komplett neues Leben aufbauen - und das obwohl mein Leben hier einfach perfekt war! Das alles hier… Es fällt mir ganz und gar nicht leicht. Natürlich möchte ich meinem neuen Leben in den USA eine Chance geben - aber ihr habt die Messlatte ziemlich hoch gehängt.“

Tyson blinzelte ihn etwas erstaunt an. Dann räumte er etwas beschämt, die schlimmste seiner Befürchtungen ein: „Am meisten macht mir die Aussicht Angst, dass wir uns alle nie mehr wiedersehen könnten. Das wir uns vor lauter Alltag aus den Augen verlieren…“

Max Gesicht hellte sich auf einmal auf und da prustete er auch schon los.

„Im Ernst?! Also daran habe ich noch keinen einzigen Gedanken verschwendet! Ich weiß doch ganz genau, dass das niemals passieren könnte!“

Neben ihm begann auch Ray zu Lachen.

Als er zu ihm herüber sah, verdrehte der belustigt die Augen

„Ich klettere jedes Mal für ein Telefonat mit euch auf eine verdammte Tanne! Glaubst du allen Ernstes, die paar Kilometer werden uns auseinanderreißen? Es macht die Sache schwieriger – aber nicht unmöglich! Wir schaffen das schon irgendwie…“

Tyson schaute von einem Gesicht zum Nächsten. Er dachte über diese Worte nach und nickte dann doch irgendwann, da machte sich auch schon ein verlegenes Lächeln auf seinen Lippen breit. Er kratzte sich am Nacken. Eigentlich sollte er es tatsächlich besser wissen.

Sie hatten schon andere Distanzen gemeistert, weshalb sollten sie ausgerechnet jetzt scheitern?

„Jah. Ihr habt ja recht.“, er dachte kurz nach und schaute etwas betreten in den Karton. „Vielleicht entschuldige ich mich doch bei Kai. Ich habe ihm etwas ziemlich mieses an den Kopf geworfen.“

„Oh man...“, Ray fuhr sich stöhnend über die Nasenwurzel. „Was hast du jetzt schon wieder gesagt?“

„Das er sich in die USA verziehen soll und Max dafür bleiben kann. Und das wir ihm ohnehin alle scheißegal sind…“, murmelte er ziemlich kleinlaut. Er hörte wie seine Freunde scharf die Luft einzogen, schaute unschuldig zur Decke und fügte noch hinzu: „Eventuell auch, dass er sich zum Teufel scheren soll.“

Ein Stöhnen ging durch die Runde.

„Ein klassischer Tyson.“, kam es kurz darauf unisono.

„Ja, ja. Sehr witzig.“, sein Zorn war eigentlich schon wieder komplett verflogen und wich nun dem Schuldgefühl. „Glaubt ihr er ist noch sauer? Vielleicht ist er deshalb noch nicht da und taucht gar nicht mehr auf.“

„Eigentlich hatte Kai versprochen dass er mithilft.“, überlegte Ray. „Er gibt ungerne ein Versprechen, aber wenn er es mal tut, dann ist es in Stein gemeißelt.“

„Ehrlich gesagt hat er mir schon so viel geholfen, dass ich ihn gar nicht mehr um Hilfe bitten will.“, Max packte nach einem der Umzugskarton und brachte ihn zum Tisch, um ihn dort mit Klebeband zu schließen. „Ich bin ihm so dankbar, Leute! Ohne ihn hätten Dad und ich das niemals finanziell stemmen können. Aber das muss ich euch mal in einer ruhigen Minute erklären, nicht wenn er jeden Moment gleich auftauchen könnte. Ihr wisst ja, dass er um so etwas keinen großen Wirbel mag. Wenn Kai hört, dass ich euch auch noch brühwarm davon erzähle, macht er mir die Hölle heiß!“

Total neugierig wollte Tyson ihn schon dazu drängen, doch wenigstens eine Kurzfassung daraus zu machen, da vernahm er aber auch schon Kennys Stimme von draußen, die Kai begrüßte und ihm versicherte, wie froh er doch sei, dass er es noch geschafft hatte.

„Ich habe es versprochen…“, war dessen einziger Kommentar dazu.

„Da siehst du es.“, sprach Ray an Tyson gewandt. „Wenn es darauf ankommt, halten wir doch immer zusammen. Das wird sich niemals ändern.“

Er lüpfte einen Karton vom Boden und machte sich gutgelaunt auf den Weg hinaus.

Dabei fügte er glucksend hinzu: „Wir waren schon immer ein Team. Glaub mir, es müsste einiges passieren, damit wir uns aus den Augen verlieren.“

Beide ließen Tyson zurück, bepackt mit ihren Kartons. Dem fiel inzwischen ein Bilderrahmen auf, der aus einem der Umzugskisten hervorschaute. Es war ein Gruppenfoto von ihnen. In einem Anflug von Nostalgie zog Tyson es zwischen den anderen Sachen hervor. Dieses Bild besaß er auch zuhause. Ihm fiel auf, wie sorgfältig Max darauf geachtet hatte, dass es auch an oberster Stelle lag. So wie er ihn kannte, würde es das Erste sein, was er sich in seinem neuen Heim, an die Wand nagelte. Draußen vernahm er, wie die Gruppe miteinander redete. Mr. Tate hatte einen Witz gemacht, den wohl alle ziemlich komisch fanden, da spürte Tyson jemanden hinter seinem Rücken, der geradezu lautlos an ihm vorbeihuschte. Manchmal bekam man den Eindruck Kai könne fliegen, so leise bewegte er sich fort. Tyson schielte zur Seite, wo sein Freund bereits dabei war, einen weiteren Karton zu ergreifen.

Ohne ein Wort des Grußes…

Diese Stimmung zwischen ihnen, nach einem ihrer Reibereien, kannte er nur allzu gut. Er konnte förmlich fühlen, dass es in Kai noch brodelte. Ihm war klar, dass die anderen so lange abwarteten, bis er wieder einmal den ersten Schritt machte. Manchmal nervte Tyson das, weil Kai einfach nie von seinem hohen Ross herunter steigen musste, aber das er selbst auch über die Stränge geschlagen hatte, war ihm auch bewusst. Er tat einen tiefen Atemzug, wollte bereits zu einer reumütigen Entschuldigung ansetzen, da fuhr ihm Kai dazwischen: „Was du am Wochenende gesagt hast… das stimmt nicht.“

Es klang nicht wütend – eher bitter.

Irritiert blinzelte Tyson ihn an. Für gewöhnlich warf Kai ihm nie eine seine vorlauten Äußerungen nochmal vor, als wären sie absolut nichtig. Wenn sie sich versöhnten, zuckte er sonst nur mit den Schultern und versicherte ihm hochmütig, dass es ihn ohnehin nicht scherte, was er über ihn dachte – auch wenn Tyson wusste das er sich doch insgeheim geärgerte hatte. Er starrte Kai verdutzt an. Dessen Gesicht war von ihm abgewandt, dennoch erhaschte er eine leichte Röte auf seinen blassen Wange.

Da ging ein aufatmen durch Tyson, als er endlich begriff. Ihre üblichen Zankereien waren eher oberflächlich, daher hielt es Kai nicht für nötig, sie noch einmal aufleben zu lassen. Doch was am Wochenende gesagt wurde, das hatte ihn tatsächlich gekränkt. Er starrte ihn einen Moment mit offenem Mund an, dann wurde sein Ausdruck reumütig und er schloss wissend die Lider. Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Ja. Das weiß ich doch.“, er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute seufzend zur Decke. „Ich hatte echt einen miesen Tag und habe es an dir ausgelassen. Tut mir Leid.“

Nun wandte Kai ihm doch das Gesicht zu. Er wirkte ziemlich ernst und auch etwas abgekämpft, womöglich weil er direkt von der Arbeit kam. Tyson erhaschte sogar den leichten Anflug von dunklen Augenringen. Doch letzten Endes nickte Kai nur.

„Vergiss es.“, kam die Antwort. „Wir hatten wohl beide keinen guten Tag.“

„Hattest du Probleme daheim?“

Einen Moment hätte er schwören können, dass sich die Augen vor ihm erschrocken weiteten, doch da drehte Kai auch schon wieder den Kopf von ihm weg.

„Nein. Alles in Ordnung. Aber das nächste Mal ruf vorher an.“

„Ja. Schon gut.“, murrte Tyson verstimmt, ließ ihm aber seinen Willen. Es gab wohl Dinge, an denen konnte man bei Kai einfach nicht rütteln und er wollte ohnehin nicht mehr streiten. „Ist dann jetzt alles wieder okay zwischen uns?“

Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über Kais Mundwinkel.

„Warum? War etwas?“

Damit drehte er sich um und trug den Karton zur Tür hinaus. Das war eines jener Dinge, die Tyson an ihm schätzte. Dieser Junge war kaum nachtragend, zumindest sprachen sie nie ein zweites Mal über solche Vorfälle. Er wusste dass damit die Sache aus der Welt war. Sie hatten sich immer irgendwie vertragen und mit seinen restlichen Freunden, würde er auch immer irgendwie in Kontakt bleiben. Ray hatte ganz Recht. Die Distanz machte die Sache schwieriger, aber nicht unmöglich. Tyson musste zufrieden grinsen und etwas erleichtert schaute er auf das Bild in seiner Hand.

Da entglitten ihm die Gesichtszüge.

Das Glas innerhalb des Rahmens bekam Risse.

Sie lebten klackernd auf – wie spinnwebenartige Blüten.

Tyson stockte der Atem, während seine Augen sich weiteten. Da schrak er auf, weil dicht in seiner Nähe eine altmodische Standuhr läutete, die kurz davor noch nicht dort gewesen war. Wie von Geisterhand, war sie in einer Ecke des Ladens erschienen. Seine dunklen Pupillen folgten dem goldenen Pendel im hölzernen Uhrwerk. Beobachteten wie es von einer, auf die andere Seite schwang. Ihr dumpfes Schlagen übertönte die Stimmen seiner Freunde und klang geradezu alarmierend in seinen Ohren.

Inzwischen legte sich jeder Sprung in dem Bild, über das Gesicht einer seiner Freunde, bis die ganze Scheibe übersät von ihnen war. Tyson starrte mit flachen Atemzügen auf das Foto, sah mit an, wie eine Person, nach der anderen, hinter dem Riss verschwand, wie hinter einem milchigen Schleier. Sie wurden unkenntlich. Sein Griff um den Rahmen zitterte. Denn letztendlich blieb nur noch seine eigene Gestalt auf dem Foto zurück.

Ganz allein…
 

„Hey, du solltest bei dieser Kälte nicht schlafen!“
 

Tyson schlug ruckartig die Augen auf, als er einen Ellbogen gegen die Rippe bekam, da saß er auch schon kerzengerade. Er blinzelte irritiert umher, bis ihm Maxs besorgte Miene zu seiner Seite auffiel.

„Das ist so ziemlich das Dümmste was du bei diesem Wetter machen kannst.“, erklärte der vorwurfsvoll und zog die Decke noch etwas enger um seine Schulter, denn auch er bibberte am ganzen Körper. „Wir haben es gleich geschafft. Bitte nick uns jetzt nicht einfach weg.“

Tyson gab ein müdes Murren von sich. Kurz vor ihrem Ziel merkte er, wie erschöpft er eigentlich war. Er fragte sich wie lange er eingedöst war.

Sein Blick huschte durch die Gruppe und wie Ray gegenüber von ihm, seinen Kopf so abstützte, machte es den Eindruck, als ob ihm sein eigener Schädel, von Minute zu Minute schwerer wurde. Bei jeder Erschütterung schrak er hoch und schüttelte sich, um die Trägheit aus seinen Gliedern zu bekommen. Sie alle brauchten wohl dringend eine Mütze voll Schlaf. Tyson rieb sich über die Augen und schaute zu Kai. Der sah einfach nur in die Ferne – komplett in seinen unergründlichen Gedanken versunken. Es schien als sei lediglich sein Körper anwesend, sein Geist aber weit fort.

„Hat er bisher etwas gesagt?“, wollte Tyson wissen.

„Nein.“, es kam recht enttäuscht von Max. Dann neigte er sich etwas zur Seite und flüsterte ihm zu. „Er bereitet mir ehrlich gesagt ziemliche Sorge.“

„Galux meinte, dass muss so sein. Bisher hat sie uns immer gut beraten, also vertrau ihr.“

Er nickte zum Bit Beast, was in der Mitte der Ladefläche, zu ihrer aller Füßen schlief. Sie wirkte wieder etwas kleiner als noch vor zehn Minuten, wie eine Flamme die langsam herunterbrannte.

„Ja schon, aber wie sollen wir uns jetzt verhalten? Außerdem müssen wir aufpassen, wem wir in der Stadt in die Hände laufen.“

„Wieso?“, fragte Tyson verdutzt.

Max schnalzte, offenbar weil er das Offensichtliche nicht erkannte.

„Erinnerst du dich an den Brand im Hiwatari Anwesen?“

„Wie könnte ich den vergessen…“

„Und wie lange hat es gebraucht, bis die Presse vor seiner Haustür stand? Kai ist ein hohes Tier in der Finanzwelt. Wenn irgendwie herauskommt, dass er psychisch labil ist, könnte sein Ruf angeknackst sein! Wir sollten ihn versteckt halten, solange er nicht ganz bei Sinnen ist.“

Tyson tat einen hörbaren Atemzug als der Groschen fiel. Sie mussten tatsächlich vorsichtig bleiben - allein wegen Jana. Niemand konnte sagen, wie lange Kais Verwirrung anhielt und in seinem Zustand, konnte er sich gar nicht richtig um seine Schwester kümmern. In manchen Momenten sprach Kai noch so kindlich, dass man den Eindruck bekam, er habe eine gespaltene Persönlichkeit.

„Ich kann nicht in die USA zurück.“

Der Satz riss Tyson aus seinen Überlegungen. Mit offenem Mund starrte er zu Max hinüber. Der biss sich inzwischen auf die Unterlippe und blickte auf seine bebenden Fäuste, die sich fest in der Decke verkrallt hatten.

„Nicht wenn er in diesem Zustand ist. Ich hätte ein schlechtes Gewissen ihn einfach so zurück zu lassen.“, er schaute zu Kai, der seinen eigenen Gedanken nachhing und alle um sich herum ausgeblendet hatte. Inzwischen spann Max anscheinend bereits einen Plan zurecht. „Also zunächst einmal sollten wir…“

„Fang gar nicht damit an. Du gehst auf jeden Fall in die USA zurück.“, fuhr ihm Tyson dazwischen. Maxs Blick schnellte auf. Seine Augen weiteten sich. „Du hast ja recht, dass wir auf ihn Acht geben müssen, aber es gibt keinen Grund mehr für dich, nicht sofort nachhause zu fliegen. Du hast jetzt deinen eigenen Part zu tragen.“

„Aber…“

„Nein, kein aber.“, flüsterte Tyson ihm zu. „Es ist okay… Nachdem uns Shinji bei meinem Wagen abgelassen hat, soll uns Galux erst einmal zu Mariah führen. Anschließend fahre ich euch zum Hotel und du klärst dann, wie du am schnellsten wieder in die USA gelangst.“

„Kai braucht uns.“

„Er braucht einen von uns. Es ist nicht notwendig dass du auch noch bleibst, wo du daheim mehr benötigt wirst.“, Tyson seufzte und schaute verdrossen in die Ferne. „Eigentlich sollten wir dir jetzt helfen… Ich wünschte ich könnte mit dir kommen und dir beistehen, Kumpel. Judy war so ein herzensguter Mensch und nachdem was auf dem Wurzelpfad war, möchte ich ihr eigentlich auch gerne die letzte Ehre erweisen.“

Zu spät bemerkte er, dass diese Worte seinen Freund womöglich wieder deprimieren könnten, doch zu seiner Überraschung, klopfte ihm Max nur mit einem aufmunternden Lächeln auf die Schulter. Es wirkte zwar traurig, dennoch schien es Tyson, als würde in ihm neue Kraft stecken.

„Mum hat große Stücke auf euch gehalten.“, erklärte er. „Daran wird sie sich nicht aufhängen. Für sie ist es wichtiger, dass wir zusammenhalten. Und ganz weg ist sie nie…“

Max schaute lächelnd auf seine Hand. Tyson fragte sich was er dort sah, doch da stutzte er. Es war sonderbar, wie schnell man einen Traum, kurz nach dem Erwachen, wieder vergessen konnte, doch sobald Maxs Worte dessen Mund verlassen hatten, fiel er Tyson wieder ein. Er dachte an die hölzerne Standuhr und dabei kam ihm in den Sinn, dass sie kurz vor ihrer Reise in die Irrlichterwelt, in einem anderen Traum vorgekommen war. Doch womöglich spielte ihm sein Kopf nur einen Streich. Dennoch machte sich ein beklemmendes Gefühl in seiner Magengegend breit. Gerade als er Max davon berichten wollte, kam der Truck holprig zum Stehen, dass es sie einen Moment von den Sitzplätzen hob.

„So, meine Herren, da sind wir!“, schallte Shinjis Stimme zu ihnen.

Augenblicklich kam wieder Leben in die Gruppe. Tyson trat die Decke eilig von seinen Füßen und beugte sich über die Ladefläche. Er sah die steile Treppe vor sich, die den Hang hinauf zum Tempel führte, hinter welchem sich der Friedhof befand, auf dem sie Draciel geschnappt hatte. Ein breites Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er unter einer dicken Schneeschicht, seinen Wagen zumindest erahnte.
 


 

*
 

Ein Tropfen rollte träge an der Außenwand des Stalaktiten ab.

Millimeter um Millimeter, bahnte er sich seinen Weg hinab, bis er an der Spitze verharrte und sich gähnend langsam in die Länge zog – bis sich der Tropfen endlich vom Gestein löste. In einer steilen Talfahrt fiel er in die Dunkelheit unter sich, prallte auf dem gigantischen Augenlid des enormen Drachens ab, der unbewegt auf dem Rücken verharrte. Den Kiefer noch immer weit aufgesperrt, mit dem bedrohlichen Gebiss darin. Selbst mit der feinen Staubschicht an vereinzelten Stellen befleckt, wirkte Dragoon noch im Tode furchteinflößend.

Dennoch saß neben dem Koloss, ein kleiner unerschrockener Funken, in Gestalt einer Maus. Die winzigen Ärmchen hatten sich verschränkt und beobachteten den leblosen Uralten, bis Allegro irgendwann das Köpfchen schüttelte.

„Herrje… Wie bedauerlich. So viele sinnlose Tode.“

Der Mäuserich seufzte.

„Und das alles nur für etwas so belangloses wie Rache. Mon Dieu, was ging nur in seinem Kopf vor? Das kann es doch nicht wert gewesen sein…“

Ein weiterer Tropfen ging auf Talfahrt. Wie sein Vorgänger prallte auch er auf derselben Stelle auf. Allegro setzte sich auf und sträubte sich, um die Kälte aus seinen winzigen Gliedern zu bekommen.

„Nun gut, es hat keinen Zweck. Ich kann nur hoffen, dass der nächste Uralte das Leben mehr schätzt, als der eitle Drache hier. Auch wenn man über Tote nicht schlecht spricht, so war dieser Schurke doch verblendet von seiner Macht. Recht geschieht es ihm allemal…“

Allegro machte auf dem Absatz kehrt und begann den Weg zurück zu hüpfen. Die kleine Strommaus kam bis zur anderen Seite der Kammer, wollte bereits Fels um Fels, den Hang hinaufkraxeln, der zum beschädigten Stollen oben führte, da hörte er eine Regung hinter sich, als würde eine Walze den Boden umpflügen.

Die kleinen Ohren Allegros zuckten. Er machte mit einem beherzten Sprung in der Luft kehrt und verweilte in Alarmbereitschaft. Einen Moment wollte der wackere Mäuserich nicht glauben, was er da sah und rieb sich verdutzt über die Augen. Auf der anderen Seite der Kammer, an jener Stelle, wo noch kurz zuvor Dragoons schimmernder Leichnam gelegen hatte, war nur noch triste Finsternis. Perplex fragte sich die Strommaus, ob der Uralte sich nun vollends in Luft aufgelöst hatte – immerhin war er auch ein Luft Bit Beast – da merkte Allegro, wie ein helles Licht näher an ihn herankam und seine Umgebung erleuchtete. Etwas irritiert witterte die Strommaus nach dem Ursprung, bis er merkte, dass die Quelle von oberhalb kam.

Er reagierte prompt richtig. Sein Instinkt sagte ihm, keine Zeit damit zu verschwenden, einen Blick nach oben zu werfen. Stattdessen tat er einen flinken Hopser vorwärts und das keine Sekunde zu spät, denn da grub sich Dragoons Gebiss bereits in die Stelle, auf welcher er zuvor gestanden hatte. Er hörte dessen Kiefer die Bröckchen in seinem Mund mahlen, bis der Drache sie wieder ausspie, offenbar weil er bemerkte, dass er kein Mäusefleisch zwischen seinen Zähnen schmeckte. Allegro kam inzwischen auf einem Felsvorsprung auf und blickte zu dem Uralten, verdattert über das, was er da sah.

„Du Gauner! Du lebst also noch?!“, rief er furchtlos aus. Dann ballte die Strommaus die Fäustchen vor sich und tippelte auf der Stelle, wie ein kleiner Boxer, während er Lufthiebe verteilte. „Willst mich wohl verputzen, weil ich dir einen Strich durch die Rechnung gemacht habe?! Komm nur her! Monsieur Allegro kneift vor so einem Schuft wie dir nicht den Schwanz ein!“

„Dir stopfe ich dein großes Maul, du wandelnde Landplage!“, knurrte Dragoon zornig aus. „Hast du eigentlich eine Ahnung was ihr Maden angerichtet habt?!“

„WIR?!“, brüskierte sich die Maus empört. „Wer hat den Stein denn erst ins Rollen gebracht, du arroganter Pfau?! Ihr wolltet Rache und es ist nach hinten losgegangen! Jetzt sind zwei Uralte tot. Die Konsequenzen musst du ganz alleine tragen! Selbst schuld!“

„Dich fresse ich in einem Happen!“

„Na dann, komm nur her, Bursche! Ich werde in deinem Magen Foxtrott tanzen, dass dir schlecht wird und du mich im hohen Bogen wieder heraus reihern mus-…“

Ein Beben erschütterte die Höhle, dass von der Decke der Dreck nur in Strömen herabfloss. Die Vibrationen ließen die Springmaus, ohne ihr eigenes Zutun auf der Stelle hüpfen, wie unter einem Presslufthammer. Dragoon dagegen schaute argwöhnisch hinauf. Die reptilienhaften Pupillen wurden zu schmalen Schlitzen, da erschallte ein lautes Poltern in der Kammer. Es war so finster hier drinnen, das der Drache zunächst nicht begriff, aus welcher Ecke das Geräusch kam, da schoss etwas pfeilschnell auf ihn zu. Hastig rauschte Dragoon in die Höhe. Sobald er in der Luft war, versuchte er auszumachen, was da auf ihn zugesteuert kam, da vernahm er erneut ein Surren in seiner unmittelbaren Nähe. Wieder wich der Drache aus, dieses Mal flüchtete er sich in Richtung der kahlen Felswände, denn er erhoffte sich dadurch, seinen Rücken wenigstens gedeckt zu haben. Doch plötzlich brach etwas aus dem Gestein hinter ihm hervor und bekam seinen Schweif zu packen. Dragoon gab ein aggressives Brüllen von sich, versuchte sich zu befreien, aber etwas hielt ihn fest gepackt.

„Loslassen!“, kam es zornig. Der Griff wurde nur umso erbarmungsloser, desto mehr Dragoon versuchte, seinen Schweif zu befreien. Er blickte hinter sich und blinzelte perplex, als er auf seinen leuchtenden Drachenschuppen, eine pechschwarze Ranke ausmachte. Einen Moment dachte er, Driger wäre wieder zum Leben erwacht, um sich an ihm zu rächen oder vielleicht sogar die Weltenbaummutter hielt ihn gepackt. Doch noch nie war ihm eine schwarze Wurzel untergekommen und jene seiner Mutter, leuchteten doch für gewöhnlich in diesem tröstenden warmen Glanz. Er schnappte nach der Ranke, versuchte sie abzutrennen, verfehlte jedoch sein Ziel, da die Wurzel so mit ihrer Umgebung verschmolz, dass er sie kaum ausmachen konnte.

Er drehte sich erneut um seine Achse, schnappte jedoch wieder daneben.

Bald trieb er dieses Spielchen einige Male, bis er sich wie eine Katze fühlte, die ihren eigenen Schwanz jagte. Es machte ihn unsagbar zornig.

Plötzlich ging ein Ruck durch die Pflanze. Sie riss an Dragoons Schweif, zerrte ihn in die Tiefe, bis er mit einem lauten Brüllen auf dem Boden aufkam. Um ihn herum stoben die Bröckchen nur so umher. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die winzige Springmaus in Zick Zack Linien den Geschossen auswich. Sobald er sich schwerfällig aufrichtete, drehte Dragoon erneut seinem Kiefer zur Ranke. Dieses Mal verfehlte er sein Ziel nicht. Er schmeckte die hölzerne Note auf seiner Zunge, doch als er begann, mit seinem Gebiss darauf zu kauen, schlang sich eine weitere Wurzel um seine Schnauze.

Und es blieb nicht dabei…

Überall aus dem Boden sprossen sie hervor.

Pechschwarz, knorrig und unaufhaltsam. Dragoon versuchte sich in die Luft zu erheben, doch mit einem weiteren Stoß, ging er unsanft in die Knie. Das machte ihn rasend. Diese unterwürfige Haltung wollte er nicht einnehmen und wie bei einem Tobsuchtsanfall, begann er zu schreien und an den Stricken zu reißen. Es blieb vergebens, denn er schaffte es nicht einmal mehr auf die Füße. In jenem Moment wurde ihm schmerzlich bewusst, wie sehr ihn Driger geschwächt hatte, als er einfach so seinen Arm verschluckte. Jene Kraft aus diesem Körperteil fehlte ihm und er verlor das Gleichgewicht sobald er versuchte sich aufzustemmen, klappte stattdessen schnaufend zur Seite. Dragoon fühlte wie die Wurzeln, über seine Schuppen schlichen. Sie umwickelten ihn, fesselten ihn, zwängten ihn ein, wie eine Boa die ihre Beute erdrückte.

Dieses Gefühl war unerträglich für ihn, denn er war doch der Wind. Er wollte frei sein!

Es war schrecklich sich nicht mehr bewegen zu können. Vor sich erhaschte er die kleine Gestalt der Strommaus, die recht neugierig auf einem neuen Felsen hockte und verwundert zu ihm herüberschaute. Offenbar war nur Dragoon das Ziel dieser Attacke, denn keine der Wurzeln scherte sich um den Mäuserich. Erbost knurrte der Drache, denn das kam ihm nun doch sehr ungerecht vor. Als hätte er heute nicht genug durchlitten, nun durfte die großmäulige Strommaus auch noch erleben, wie der König der Bit Beasts, von ein paar lächerlichen Ranken, wie ein Paket verzurrt wurde. Wenn er Pech hatte, würde sie gleich das Weite suchen und ihrer Sippschaft davon erzählen, bevor er ihn zu packen bekam. Diese Nagetiere waren schrecklich geschwätzig.

Jene Verästelung die seine Schnauze umwickelt hielt, schlich sich nun immer weiter, mit ihrem spitzen Ende voraus, zu seinem Ohr. Es fühlte sich an als würde eine feingliedrige Spinne auf ihm herumkrabbeln. Erneut versuchte Dragoon, sich noch einmal loszureißen, da packte die Pflanze nur fester zu. Es war wie ein Knoten. Desto mehr er zerrte, desto enger wurde es.
 

„Hörst du mich?“
 

Verdutzt blinzelte Dragoon, denn die Stimme an seinem Ohr, klang so unwirklich. Sie war leise, jedoch kräftig, von einer tiefen Tonlage, schallte aber merkwürdig nach, wie ein Echo. Seine Pupillen huschten zu seinen Augenwinkeln. Er suchte die Umgebung ab, war jedoch sicher, den Urheber dieser Worte, dicht an seinem Ohr zu finden. Dragoon blieb ruhig, wartete ab, doch irgendwann rang er sich zu einem Nicken durch. Es war alles was die Wurzel zuließ.

„Weißt du wer ich bin?“

Dragoon begann nachzudenken. Es konnte definitiv nicht die Weltenbaummutter sein. Ihre Wurzeln waren nicht schwarz. Einen Moment huschten Dragoons Augen nachdenklich hinauf, denn er konnte sich nur vorstellen, dass es sich bei dieser Ranke, tatsächlich um deren Zwillingsbruder handelte - der Weltenbaum des Todes.

Jener Sprössling der in die Menschenwelt hinaufwuchs.

Doch ein Bit Beast hatte mit dem doch nichts zu schaffen…

Seine Spezies bezog die Kraft von der Mutter, nicht von deren Bruder. Daher konnte sich Dragoon partout keinen Reim daraus machen, weshalb der Totenbaum ihn hier gefesselt hielt. Da er noch keine Antwort gegeben hatte – und auch zu nichts anderem als einer winzigen Kopfbewegung fähig war – nickte er erneut. Sofort lockerte sich der Griff um seine Schnauze und gab ihm wenigstens so viel Freiraum, um seine Lippen zum Sprechen zu bewegen.

„Gut...“

„Gut? Gar nichts ist gut! Was willst du von mir?!“, brauste Dragoon auf und stemmte sich nochmal hoch, nur um den Griff wieder fester um seinen Leib zu spüren. Es dauerte bis die Antwort folgte, als müsse der Baum viel Kraft aufbringen, um seinen Satz zu sprechen.

„Reden… Mein Neffe.“

Dragoon stutzte. Er hatte noch nie daran gedacht, den Totenbaum, als seinen Onkel zu sehen. Es klang sonderbar von ihm so angesprochen zu werden, wo er derlei Familienbanden lediglich von den Menschen kannte. Einen Moment fragte er sich, wie man sich einem Onkel gegenüber verhielt. So wie er das mitbekommen hatte, war ein solches Familienmitglied älter und genoss auch den größeren Respekt. Das passte Dragoon gar nicht, denn prompt fühlte er seine Autorität untergraben.

„Weshalb zürnst du so, Junge?“

„Ich bin kein Junge!“, empörte er sich beleidigt.

„Doch verhältst du dich so…“

„Das ist nicht wahr.“

„Weshalb dann diese Unbeständigkeit?“

„Ich bin zornig und unbeständig, weil ich von dir festgehalten werde, wie eine verfluchte Töle an einer Leine! Also lass mich frei, bevor ich mich vergesse!“

Er beschwor einen seiner Winde herauf, der aber kläglich versagte. Nicht einen Millimeter bekam er sich frei.

„Damit du dem Herz meiner Schwester eine weitere qualvolle Kerbe zufügst?“

Dragoon stöhnte, denn der Griff um seinen Leib wurde kräftiger. Offenbar war hier jemand recht schlecht auf ihn zu sprechen. Womöglich verfuhr er besser, wenn er sich vorerst mit seinen Drohungen zurück hielt. Er sah die Strommaus näher kommen. Die Ohren zuckten neugierig und er witterte in der Luft. Offenbar fragte sich der Mäuserich, mit wem er sprach. Dragoon konnte es ihm nicht verdenken, denn auch er hätte die Stimme des Baumes nicht vernommen, wäre er einfach an seiner Wurzel vorbeigeschritten.

„Hat die Weltenbaummutter auch dich aufgehetzt?“, schnaubte er inzwischen. Noch immer nahm er ihr übel, dass sie Draciel geschickt hatte, um ihn in die Schranken zu weisen. Bei dem Gedanken dass es nun auch fort war …

Dragoon musste hart schlucken, denn erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, dass er einen weiteren Kameraden verloren hatte. Der Drache schloss die Lider gequält. Er war doch bereit gewesen den Kampf aufzugeben, damit Draciel weiterleben konnte. Wer hätte aber ahnen können, dass ausgerechnet jenes Menschenkind, was es geschworen hatte zu beschützen, so hinterhältig zuschlug. Dabei hatte sich die Schildkröte sogar schützend über den Jungen geworfen. Dennoch war in den Augen des Kindes ein abgrundtiefer Hass gewesen, den Dragoon so nur von Dranzer kannte.

„Ich handle nicht für meine Schwester – Ich handle aus freien Stücken. Denn jedes Wesen ist für sein Handeln selbst verantwortlich.“, erklärte der Totenbaum nur ruhig. „So wie ihr Uralten für eure Taten gerade stehen solltet, wenn ihr eure Macht missbraucht.“

„Was meinst du?“

„Allein die Frage zeugt von deiner unendlichen Torheit…“

Dragoon keuchte gequält, denn der Druck um seinen Leib wurde stärker. Er kam sich wie eine Walnuss vor, deren harte Schale man versuchte zu knacken, um sein innerstes zu Tage zu fördern.

„Sag mir Neffe, welchen Grund gibt es noch, um dich am Leben zu lassen?“, die Stimme klang dunkel, fast schon bedrohlich und dennoch war sie von einer Ruhe, als würde der Baum nur vom Wetter sprechen. „Deine Engstirnigkeit hat ein Chaos erschaffen, was das Ende beider Welten einläuten könnte. Dabei seid es gerade ihr Uralten die doch Ordnung schaffen sollten. Also sag mir Neffe, was hat dein Leben noch für einen Wert, wenn du deinen angeborenen Verpflichtungen nicht nachkommst?“

Ihm wurde schlecht und bald fühlte Dragoon wie seine Knochen unheilvoll zu knacken begannen. Diese Enge machte ihn schier wahnsinnig. Er spürte schon gar nicht mehr, dass der Mäuserich über seine Schuppen kraxelte und sein Ohr auf die Wurzel legte, um zu lauschen.

„Du hast mehr Zerstörung angerichtet, als du Leben erhältst. Ich bin in arger Bedrängnis deinetwegen. Zum einen mag ich meiner Schwester nicht das Herz brechen, indem ich sie eines weiteren ihrer Kinder beraube. Doch andererseits bewahrst du das Leben nicht – viel schlimmer noch – du achtest es gar nicht einmal mehr. Wie ein ignorantes Kind, was mit Steinen nach Fröschen wirft. Du magst an deiner Macht deine Freude haben, doch der Frosch stirbt im Ernst...“

„Ich handle doch nicht willkürlich, die Natur ist nun einmal erbarmungslos!“, wehrte sich Dragoon gegen den Vorwurf. „Und weshalb predigst ausgerechnet du mir vom Leben?! Du bist der Totenbaum! In deiner Welt hat jedes Wesen nur eine lächerlich begrenzte Lebensspanne - wie eine Eintagsfliege! Würdest du die Wesen auf deiner Oberfläche wirklich so schätzen, wie du mir vorheuchelst, hättest du ihnen das ewige Leben geschenkt, wie es die Weltenbaummutter bei uns tat.“

„Albernes Kind. Welch einfältige Worte du sprichst. Allein im Angesicht des Todes erkennt man den wahren Wert des Lebens. Doch was erwarte ich von einem Wesen, dass im Zustand unendlicher Jugend verweilt, ohne die Möglichkeit geistig zu reifen.“

Die Unterstellung machte Dragoon zornig. Erneut begann er sich gegen die Wurzeln zu wehren. Er brauchte Freiraum, Platz, die Möglichkeit sich zu bewegen, um endlich einen Gegenangriff zu starten! Der Griff um ihn herum wurde aber nur noch erbarmungsloser.

„Als meine Schwester und ich, eure Welten erschufen, ermahnte ich sie, das es töricht sei, euch Bit Beast ein ewiges Leben zu schenken. Der ständige Schatten des Todes, lässt einen erst begreifen, wie kostbar die Gegenwart ist. Er lässt einen umsichtiger mit der zugestandenen Lebenszeit umgehen. Der Schmerz, der auf den Verlust eines geliebten Wesens folgt, lässt dich fürchten, dich weinen, dich bangen und was noch viel wichtiger ist – das eigene Leben immer wieder aufs Neue hinterfragen. Eine Eigenschaft welche die Sterblichen deiner Spezies voraus sind. Mit Schrecken ruft der Tod ihnen in Erinnerung, wie schnell ihr Leben vorbei sein kann. Wie kostbar dieses Gut doch ist.“

Dragoons Versuche sich zu befreien wurden schwächer.

„Doch meine Schwester konnte den Gedanken nicht ertragen. Denn eine Mutter will derlei Dinge nicht hören. Eine Mutter möchte niemals ihre eigenen Kinder überleben. Und so bist du abgestumpft, in deinem Glauben, die Welt würde ewig in ihrem jetzigen Zustand verweilen. Der Tod bringt nämlich auch den Wandel mit sich…“

Dragoon hörte auf sich gegen seine Fesseln zu wehren, stattdessen blinzelte er verdutzt auf die letzten Worte. Auf sonderbare Weise erklärte es, weshalb er sich so verwirrt fühlte, seit seine beiden Kameraden aus der Welt verschwunden waren.

„Du fängst an zu begreifen, Neffe. Ich spüre den Schmerz in deinem Leib. Trauer beginnt sich durch deine harten Schuppen, hinein in deine Seele zu fressen - wo zuvor noch keine Empfindungen waren. Ein Gefühl was du einst gekonnt mit deiner Stärke umgangen bist, denn noch nie musstest du einen wahren Verlust erleben. Die Unterklassen hast du nur als belangloses Fußvolk gesehen – doch deine Kameraden hatten einen festen Platz in deinem Herzen. Und dieses Herz trauert nun zum ersten Mal – es fühlt Schuld und Reue. Seit Beginn deines Lebens waren sie deine Begleiter. Jeden Tag. Und nun stell dir dein künftiges Leben vor. Wie viele Tage dir dank deiner Unsterblichkeit noch bevorstehen – ohne die Gegenwart deiner Kameraden.“

Dragoon verharrte starr. Er wollte eigentlich nicht einmal daran denken.

Auf einmal kam ihm die Ewigkeit so unendlich lange vor.

„Es wird neue Uralte geben…“, sprach der Drache. Jedoch recht beklommen.

„Mag sein, mein Neffe. Doch wirst du dich der neuen Generation, jemals so verbunden fühlen, wie jenen Kameraden, mit denen du von klein auf groß geworden bist?“

„Es sind ebenfalls Uralte. Warum sollte ich nicht?“

Die Worte kamen über seine Lippen, als wolle er sich selbst überzeugen, denn wirklich daran glauben, konnte Dragoon auch nicht so recht. Immer mehr hatte er den Eindruck, sich eigentlich selbst zu belügen.

„Es werden aber andere Uralte sein. Sie werden niemals Driger oder Draciel gleichen können. Ein Fisch im Schwarm, mag sich optisch nicht von seinen Artgenossen unterscheiden, dennoch… Betrachtest du ihn genauer, wirst du feststellen, dass sein Schuppenmuster niemals identisch, zu seinem Nebenmann ist. Wenn bereits diese banale Äußerlichkeit den Fisch einmalig macht, was glaubst du, wie es in seiner Seele aussieht?“

Der Vergleich erinnerte Dragoon an seinen Streit mit den Makrelen Bit Beasts. Damals hatte er abfällig behauptet, dass einer wie der andere war. Als wäre die Last seiner Schuldgefühle nicht schon erdrückend genug, gesellte sich nun auch diese hinzu. Er schloss gequält die Augen, in der irrsinnigen Hoffnung, die Wahrheit damit nicht zu sehen.

„Denn auch das lehrt uns der Tod. Wen immer wir verlieren - er war einzigartig. Es ist ein wundervolles, melancholisches Zusammenspiel, aus vielen kleinen Facetten. Doch du, mein Neffe, du wolltest es all die Jahre nicht erkennen. Ausgerechnet deine Unsterblichkeit hat dich erblinden lassen.“

Dragoon schaute wieder in die Ferne, auf einen Punkt, den er doch nicht wirklich sah, tief versunken in seinen Überlegungen.

„Lass die Trauer um deine Kameraden zu.“

„Ich will nicht. Es ändert nichts daran und… es tut nur weh!“

„Das sollte es auch. Ein gefühlstauber Uralter, kann keine Welt erhalten. Du musst diesen Schmerz spüren. Es ist eine Lehre vor der du dich nicht mehr verstecken darfst. Deine Rache hat dir mehr geschadet, als das sie dir Genugtuung bereit. So wie bei Dranzer.“

Dragoon wandte unwillig den Kopf ab.

„Hör auf von dieser alten Geschichte zu sprechen…“

„Wenn sie so alt ist, weshalb beschäftigt sie dich dann heute noch?“ , fragte ihn der Totenbaum. Seine Verästelungen wanderten zu seiner Brust, wo die Spitzen sich auf sein Herz legten, wie feingliedrige Fingerkuppen die zu glimmen begannen. „Dieser Schmerz ist der Ursprung, weshalb du eine tiefe Abneigung gegen jegliche Empfindungen hegst. Deine erste Emotion war die Liebe zu Dranzer. Doch da sie unerwidert blieb, hat es dich tief bis ins Mark erschüttert. Du bist ein gebrandmarkter Junge der das Feuer meidet.“

„Ein Bit Beast liebt nicht!“, spie Dragoon verbissen die Worte aus.

„Sie haben lange Zeit nicht geliebt. Denn mit Dranzers Geburt habt auch ihr diese Fähigkeit erhalten – ohne es wirklich zu begreifen.“

Geschockt hielt der Drache den Atem an…

Dann weiteten sich seine Augen immer mehr.

Die Erkenntnis war wie ein Schalter der sich umlegte. Auf einmal spielten sich in seinem Kopf unzählige Szenen ab, die er mit Dranzer durchlebt hatte, als ihre Zuneigung zueinander noch jung und unerschütterlich schien. Sein kleines Küken war ihm wie ein wertvoller Schatz vorgekommen und da ein Drache dafür bekannt war, geradezu argwöhnisch über seine Beute zu wachen, hatte er sich jede Nacht um seine zierliche Phönixdame gerollt, damit sein Leib ihr als Schild vor angriffslustigen Bit Beast diente. Nicht eine Sekunde scherte es ihn, das er sich damit selbst zur Zielscheibe machte, denn ihre Sicherheit war ihm das oberste Gut geworden. Mit ihrer Geburt war seinem Leben ein Sinn gegebenen worden, denn zuvor hatte er sich gefühlt, als sei er inmitten seines tristen Alltags gefangen und schlagartig in ein gleißendes Licht getaucht worden. Auf einmal schien es mehr zu geben, als seine Pflichten als Uralter. Jede Sekunde mit ihr schien ihm so unendlich kostbar…

Dragoon blinzelte mehrmals. Die Sicht vor ihm trübte sich durch die wässrige Schicht, die sich unter seinen Lidern bildete. Er kämpfte dagegen an.

„Flieh nicht davor...“

Ihm war als zwinge ihn der Totenbaum, sämtliche Gefühle erneut aufleben zu lassen, die damals in ihm vorgegangen waren. Er spürte wie die feinen Wurzeln an seiner Brust, seinen Körper mit einer Energie füllten, die einen merkwürdigen Effekt auf ihn besaß. Als würde sich ein Knoten in seiner Brust langsam lösen. Eine unendliche Trauer fraß sich in jede Faser seines Herzens. Als könne er sich nicht mehr innerlich davor verschließen.

„Deine Seele ist in Ungleichgewicht. Lass mich die Waagschalen wieder ausbalancieren.“

Das wollte er nicht! Nein, er wollte es nicht!

Doch ihm war als bliebe ihm gar keine andere Wahl. Auf einmal erinnerte Dragoon sich daran, wie sein Herz vor Freude zerbersten wollte, sobald Dranzer ihm einen Blick aus ihren schimmernden Augen schenkte. Er hatte es geliebt… So schmerzlich geliebt!

Die Art wie sie ihn anhimmelte, zugleich ihre neckenden Worte und obwohl sie ihn ständig für seine hochmütige Eigenheit tadelte, schmiegte sie dennoch jede Nacht ihr hübsches Köpfchen an seinen und flüsterte ihm ein Schlaflied ins Ohr.

Es klang damals so wundervoll…

Ihr Duft lag ihm dann in den Nüstern. Kurz bevor er einnickte, vernahm er jedes Mal, wie sie ihm leise dafür dankte, dass er ihr ein so guter Fluglehrer war. Ein treuer Beschützer – ein Freund. Selbst das Geräusch von rauschenden Baumwipfeln, vermochte ihn nicht einmal annähernd so zu berühren, wie eine Silbe aus ihrer Kehle es damals konnte. Allein wie sie seinen Namen stets gerufen hatte. Nach der Fehde mit Wolborg spie sie ihn nur noch voller Verachtung aus.

„So viel Trauer…“

Er presste die Augen fest zusammen. Geradezu krampfhaft versuchte er nicht daran zu denken, nicht dem Schmerz zu erliegen, der aufkam, sobald er sich in Erinnerung rief, welche Verbundenheit er verloren hatte. Die Energie drang nur umso tiefer in ihn ein.

„Flieh nicht davor…“

„Bitte hör auf.“, seine Stimme war erschreckend brüchig. Da stieg in ihm auch schon das Bild auf, wie Dranzer zu ihrer Schwester flatterte, ihr aufgeregt schilderte, welche Abenteuer sie mit Dragoon erlebt hatte… und ihm von da an kaum noch Bedeutung schenkte. Auf einmal wurde er wieder ihrer Gegenwart beraubt. Ihre Schwester hielt sie stets in Beschlag, weigerte sich, sie herauszugeben, weil Dranzer sich auf ihre Pflichten als Uralte konzentrieren sollte. Vorbei war es mit den innigen Momenten, den lieben Berührungen – dabei war er doch regelrecht süchtig danach geworden!

„So viel Zorn…“

Er hatte es doch geliebt, wie sie mit ihrem Schnabel zärtlich an seiner Drachenhaut knabberte, ihr Köpfchen voller Vertrauen gegen seinen Leib schmiegte. Dragoon presste die Augen zusammen, tat einen erstickten Atemzug. Doch der Totenbaum förderte die unterdrückten Gefühle nur weiter ans Tageslicht, wie ein Bergbauer der nach Kohle grub.

„Flieh nicht mehr davor…“

Er zwang ihm den Schmerz wieder auf - dieselbe Verletzlichkeit von damals überfiel ihn. Es hatte ihn so gequält wie unbeschwert Dranzer weiterleben konnte, obwohl er doch so furchtbar litt. Dass sie kaum einen Gedanken an ihn zu verschwenden schien, tat mehr weh, als Wolborgs Gehässigkeit ihm gegenüber.

„Ich hasse sie!“, entfuhr es ihm auf einmal.

„Nein, tust du nicht. Du liebst sie noch immer.“

„Nein! Ich hasse sie! Schau doch was sie aus mir gemacht! Zuvor war mein Leben ohne Sorgen!“, er fühlte das aufkommendes Prickeln unter seinen Lidern. „Wofür soll Liebe gut sein, wenn sie einem einfach so entrissen werden kann? So etwas sollte es nicht geben! All dieser Kummer der danach folgt, ist doch keine einzige Sekunde dieses Glückes wert!“

„Und deshalb wolltest du ihr auch Schmerzen bereiten?“

„Ja verdammt! Sie sollte wissen, wie es sich anfühlt, einfach so ohne Grund verletzt zu werden!“, schrie Dragoon verbittert aus. Er fühlte eine feuchte Bahn auf seiner Wange. „Ohne Wolborg war unser Leben so wunderbar! Aber kaum das wir zurück waren, hat sich Dranzer von mir abgewandt! Als hätte unsere gemeinsame Zeit ihr nichts bedeutet!“

Die alte Wut kochte wieder ihn ihm hoch. Die Augen leuchteten bedrohlich und doch traten aus ihren Winkeln nur weitere Tränen hervor.

„Ich lasse mich von niemandem mehr so behandeln! Weder von Dranzer - noch von Takao!“, und dann schrie er den letzten Teil hinaus, dass die Wände der Kammer unter seinem Zorn erbebten. „Ich bin kein aussätziger Köter, den man einfach so an einen Baum bindet und vergisst!“

Der Satz schallte laut in der Kammer nach, als er seine Qual in die Welt hinausbrüllte. Als würde das tobende Monster, was so lange in seiner Seele gehaust hatte, endlich hervorbrechen. Gleichzeitig begann sein Körper zu beben. Erschüttert von dem altbekannten Kummer. Die Tränen rannen in Bahnen aus Dragoons Augen und lange Zeit, äußerte sich der Totenbaum dazu nicht mehr.

Er schwieg nur noch…

Kein Wort der Anklage kam von ihm.

Er hielt den Drachen nur fest umschlungen, als wolle er ihn davor bewahren, weiterhin vor seinen Empfindungen zu fliehen – doch zugleich kam es Dragoon auch wie eine tröstende Umarmung vor. So viele Jahrhunderte hatte er den Zorn unterdrückt, seine Trauer tief in der Seele vergraben, weil ein Bit Beast sich doch nicht seinen Schwächen hingeben sollte. Ein Tier das kränkelte war eine leichte Beute für den Jäger. Dennoch…

Nachdem er seinen Zorn hinausgebrüllt hatte, die Tränen langsam versiegten, der Damm endlich gebrochen war, wurde er zunehmend ruhiger. Irgendwann kam nur noch ein erschöpftes Seufzen von Dragoon. Sobald der Sturm vorbei war, überfiel ihn eine unsagbare Trägheit und er fühlte sich matt. Als habe der Drache all die Jahre seine Macht aus diesem Groll gezogen. Einige wehmütige Atemzüge entwichen seiner Kehle. Er musste wieder an seine gefallenen Kameraden denken. Gleich darauf wünschte er sich voller Reue, die Zeit zurückdrehen zu können. Hätte er die Möglichkeit gehabt, er hätte jetzt einige Male anders gehandelt. Er war so schrecklich traurig und einsam…

„Auch der stärkste Orkan muss irgendwann wieder zu einem sanften Hauch werden.“, sprach der Totenbaum dicht an seinem Ohr. Endlich löste sich der Griff um Dragoons Leib. Die hölzernen Finger wichen knackend von ihm, dennoch rührte er sich nicht, blieb auf dem Erdboden nur reglos liegen. Zunächst hielt der Drache die Lider geschlossen, atmete ruhig ein und aus. Erst als Dragoon fühlte, wie etwas Winziges auf seiner Schnauze Platz nahm, öffnete er träge die Augen. Erschöpft blickte er auf die kleine Strommaus hinab, die ihn mit unverhohlener Neugierde begutachtete und die Ärmchen nachdenklich vor der Brust verschränkte. Dann sprach der Mäuserich, mit zur Seite geneigten Köpfchen:

„Äußerst faszinierend. Dabei dachte ich immer Liebeskummer gäbe es nur bei Menschen.“
 

*
 

„Oh mein Liebling!“, frohlockte Tyson. Er lag auf seinem Lenkrad und strich mit einem verträumten Ausdruck über die Armatur. An diesem Wagen hatte er so viele Stunden herumgebastelt, es hätte ihn gegrämt, wenn er abgeschleppt worden wäre. Neben ihm ließ sich Ray müde in den Beifahrersitz gleiten und verdrehte die Augen. Was dieses Thema anging, trennten sie beide Welten. Er wusste dass für ihn ein Wagen nur vier Räder und einen Motor brauchte. Als sie zu Rays Hochzeit nach China reisten, hatte Tyson ihn fassungslos gefragt, warum er sich mit dem eingenommen Geld von der Feier, nicht einen schicken Wagen gönnte, anstatt den klapprige Truck weiterhin zu fahren, den er tatsächlich sein Auto schimpfte.

„Das ist kein Wagen, das ist ein Zustand! Wo ist denn der rechte Spiegel abgeblieben?!“

„Der war schon nicht dran, als ich ihn gekauft habe.“, hatte Ray trocken gelacht und noch gemeint, dass ein Porsche bei ihm im Dorf wohl mehr als fehl am Platz war, immerhin seien die Straßen so staubig, das man nach zwei Stunden vor seiner Haustür, nicht einmal mehr die Farbe des Lacks erkennen könnte.

„Bitte schmeiß einfach nur den Wagen an und fahr los. Danach könnt ihr beiden euch von mir aus ein Zimmer nehmen.“, murrte Ray gelangweilt. Tyson ließ ihm den Spott durchgehen, konnte sich ein Grinsen dennoch nicht verkneifen. Seit sie wieder zuhause waren, überkam ihn der alte Übermut. Es war wundervoll endlich in der Heimat zu sein, nachdem sie unwegsamen Dschungel, lebensfeindliche Eislandschaften und finstere Höhlen überwunden hatten – ganz zu schweigen von dem Lavasee, den Dranzer erschaffen hatte, um Kai im Hiwatari Anwesen festzuhalten. Vor einigen Stunden sah es noch so aus, als würden sie es gar nicht mehr nachhause schaffen. Selbst das Auto vom Schnee zu befreien, ärgerte ihn nicht einmal mehr, stattdessen fegte er mit den Armen stürmisch über das Dach hinweg, dass Max eine Ladung abbekam und es ihm mit einem Schneeball ins Genick heimzahlte.

Tyson begann am Rückspiegel zu nesteln, dabei fiel ihm Kais Gestalt ins Visier, der seinen Kopf an die Scheibe lehnte und mit mattem Blick hinausschaute. Es erinnerte ihn daran, wie er nach ihrer durchzechten Nacht, neben ihm auf dem Beifahrersitz eingenickt war, in genau dieser Haltung. Er sah damals so friedlich aus und eine winzige Sekunde, stellte er sich vor, wie es wohl wäre, diesen Anblick jeden Morgen beim Aufwachen, neben sich im Bett zu haben. Gleich darauf flaute seine Euphorie auch schon ab und er räusperte sich unangenehm berührt, dabei kämpfte er gegen das Brennen auf seinen Wangen. Auf einmal fühlte sich sein Kopf an, als hätte man ihm glühende Kohlen in die Backen gestopft. Tyson fragte sich, ob ihm in Zukunft nun vermehrt solche Überlegungen bevorstanden. Er hatte ständig das Gefühl, seine Freunde könnten etwas bemerken, dass sein eigener Körper verräterische Signale sendete und da er keine Ahnung hatte, wie sie zu diesem Thema standen, machte ihn das ziemlich fahrig. Seine Finger zitterten leicht vor Unbehagen, als er weiter am Rückspiegel herumwerkelte. Dagegen schien Kai gedanklich weggetreten. Doch plötzlich setzte er sich auf und platzierte die gespreizte Handfläche sachte auf der Scheibe, dabei neigte er den Kopf zur Seite. Auch Tysons Blick huschte nun hinaus, doch wie schon die Male zuvor, war draußen nichts Besonderes zu erkennen - bis auf viel Schnee. Er hätte alles darum gegeben, einen leisen Einblick hinter Kais Stirn zu erhaschen. Zu gerne wollte er wissen, welche Erinnerung sich erneut vor seinem inneren Auge abspielte. Dann schien er jemandem zuzuwinken...

Tyson beobachtete, wie seine Fingerkuppen sich neigten, wie bei einem zaghaften Gruß.

„Alles okay?“, kam die Frage auf einmal von Max. Irritiert blinzelte Tyson. Er hatte Kai so konzentriert beobachtet, dass er gar nicht bemerkte, wie ruhig es im Wagen geworden war, denn auch den anderen Anwesenden, war dessen Verhalten nicht entgangen. Anstatt zu antworten nickte Kai nur stumm. Seine Augen wirkten irgendwie trüb. Tyson kam es vor, als habe er gar nicht richtig begriffen, dass Max mit ihm sprach. Der rutschte auf der Rückbank näher an ihn heran und schaute über Kais Schulter hinweg, ebenfalls aus dem Fenster.

„Was siehst du da?“, fragte er heiter. Es klang jedoch etwas aufgesetzt, als wolle er seine Besorgnis damit nur überspielen. Lange Zeit blieb es ruhig. Da murmelte Kai nur leise: „Kinder…“

Es wurde erneut mucksmäuschenstill im Wagen.

„Und was machen diese Kinder?“

„Sie verabschieden sich von mir.“

Seine Stimme klang monoton.

„Okay… Warum machen sie das?“

„Weil ich morgen nicht mehr zurückkomme. Ich soll in einen neuen Kindergarten gehen.“

Eigentlich wollte Tyson nicht so offensichtlich starren, doch bei diesem Satz fuhr er herum. Es war das erste Mal, dass Kai etwas aus seinen frühen Kindertagen preisgab.

„Seid ihr einmal umgezogen?“, fragte er wissbegierig.

„Nur ich… Opa sagt ich darf ins Ausland.“

Tysons Augen weiteten sich und als er sich im Wagen umschaute, ging es seinen Freunden ähnlich. Sie ahnten alle welchen Moment Kai gerade durchlebte.

„Musst du dich verabschieden, weil du nach Russland gehst?“, kam die Frage von Ray. Da wandte sich Kai um. Geradezu verwirrt blinzelte er ihn an.

„Nein. Großvater sagt nur, dass ich in einen neuen Kindergarten komme, so lange meine Eltern fort sind.“, dann fragte er geradezu verwundert. „Was ist Russland?“

Es wurden vielsagende Blicke untereinander ausgetauscht. Soweit schien Kai also noch nicht gekommen zu sein. Tyson fragte sich, was genau die Erinnerungen in seinem Kopf wachrief. Offensichtlich musste es nicht zwangsläufig mit Orten zu tun haben, die er tatsächlich einmal besucht hatte, sondern konnte auch nur vage einer Szene aus der Vergangenheit ähneln. Im Geiste stellte er sich vor, wie sein kleiner grauer Kater, einmal in einem Auto saß und von dort aus, seinen Freunden aus Kindergartentagen zuwinkte, die ihn von der anderen Seite der Scheibe aus nachschauten - während Kai leichtgläubig auf die Worte seines Großvaters vertraute. Ohne zu ahnen, dass es für ihn eigentlich in die Abtei ging. Einem Ort der weit davon entfernt war, auch nur ansatzweise an einen gut behüteten Kindergarten heranzureichen. Der Gedanke stimmte Tyson so traurig und wütend zugleich, dass ein verbissener Ausdruck auf sein Gesicht trat und er sich dem Lenkrad zuwandte. Geradezu trotzig ließ er den Motor aufleben und sprach: „Für dich geht es heute nur noch nachhause.“
 

Etwas später steuerte Tyson den Wagen durch die zugeschneiten Straßen der Stadt. Offenbar kam der Winterdienst nicht mehr mit dem Streuen nach, denn nur wenige Wege waren richtig freigeräumt. Max warf die Vermutung in den Raum, dass der Wintereinbruch wohl einfach zu plötzlich kam und wahrscheinlich nicht einmal genug Salzvorräte da waren, um alle Stadtteile damit zu versorgen. Bis in den späten November herrschte in Japan für gewöhnlich ein angenehmes Herbstklima. In die wenigen Straßen die noch frei waren, zwängten sich die Autos geradezu hinein, um den Schnee zu umgehen.

Tyson musste gestehen, dass die Fahrt eine ziemliche Zerreisprobe für sein Nervenkostüm darstellte. Desto schlechter das Wetter war, desto dämlicher stellten sich manche Fahrer an, zumindest seiner Ansicht nach. Mehrmals musste er den Wagen umständlich um Hindernisse herum manövrieren, kam dabei manches Mal ins Schlittern und stellte zu seinem Ärger fest, dass sich Max auf dem Rücksitz wieder einmal ins Leder festkrallte und Tyson für seine waghalsige Fahrweise verfluchte. Es gab nicht vieles worüber sie beide streiten konnten, aber das war eines ihrer Dauerbrenner. Max legte viel Wert auf defensive und sichere Fahrweise. Tyson vertrat die Meinung, dass allen Rentnern die das Gaspedal nicht fanden, der Führerschein entzogen gehörte.

Allerdings fuhren heute alle wie Rentner…

Das ganze Wetterchaos musste eindeutig mit den Uralten zusammenhängen. Tyson schielte zu Galux, die auf der Rückbank zusammengerollt schlummerte. Ihm kam es vor, als würde sie sich ihre Energie aufsparen – als würde sie sich auf einen Winterschlaf vorbereiten. Dennoch war sie um ein weiteres Stück geschrumpft. Während der Fahrt setzte sich Kai plötzlich kerzengerade auf und fragte aus heiterem Himmel, ob Dranzer tatsächlich sein Haus niedergebrannt hatte. Er klang ernst dabei, viel erwachsener als noch wenige Minuten zuvor. Als Max bejahte – sichtlich gestresst wegen der Schlitterpartie auf der Fahrbahn - nickte Kai nur und ließ sich wieder in die Lehne fallen. Ein verbissener Zug lag von da an um seine Mundwinkel, aber zumindest beklagte er sich nicht permanent wegen seinem Fahrstil. Ihn hatte es noch nie geschert. Tyson schien es, als könne man Kai förmlich dabei zuschauen, wie er immer weiter geistig heranreifte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde zunehmend verschlossener.

Obwohl da gewisse Feinheiten waren, die sich unterschieden…

Manches Mal schaute Tyson in den Rückspiegel und meinte Kais Augen von ihm weghuschen zu sehen, wenn sich ihre Blicke drohten zu treffen. Es war das Blinzeln mit den Augen, was ihn dann verriet, weil er es einmal zu viel tat. Als Tyson ein weiteres Mal in den Spiegel schaute, passierte es gerade wieder. Dabei erhaschte er sogar den Hauch einer Röte auf Kais Wange. Er musste schmunzeln. Der Anblick war irgendwie süß. Tyson konnte sich ein aufkommendes Grinsen dabei nicht verkneifen, weil Kai ganz offensichtlich immer nervöser wurde. Wahrscheinlich begriff er allmählich, wie anhänglich er als Kind ihm gegenüber gewesen war – wie sehr er Tysons Nähe gesucht hatte. Ein kaum vernehmbarer Atemzug kam aus Kais Mund, als müsse er sich sammeln. Er sah wie sich dessen Brustkorb dabei leicht anhob. Tyson hätte ihn stundenlang im Rückspiegel beobachten können, doch zwang ihn das Verkehrschaos vor ihm, seine Aufmerksamkeit nicht hauptsächlich auf ihn zu fokussieren. Auch wenn er kaum umhin kam, nicht wenigstens an ihn zu denken. Früher wäre ihm nie aufgefallen, dass Kai beunruhigt war, aber wenn man sich so lange kannte, wie sie beide, lernte man die Zeichen zu deuten. Er schaute dann stets gleichgültig weg, als wollte er einem weiß machen, dass er sich um nichts und niemanden scherte – doch er blinzelte zu oft. Kai überspielte seine Verunsicherung mit seinem Selbstvertrauen und kam damit eigentlich auch ganz geschickt durch. Sobald Tyson aber dahinter gekommen war, begann er ihn gerade dann am hartnäckigsten zu triezen. Irgendwie lag ihm jetzt auch ein neckender Kommentar auf der Zunge. Einfach um zu schauen wie Kai reagierte, wenn er ihn gezielt auf ihre gemeinsame Zeit ansprach. Es hätte Tyson nicht gewundert, wenn er sich dafür in Grund und Boden schämte. Nur war jetzt kaum der richtige Augenblick hierfür. Allerdings schwor er sich, Kai bei nächster Gelegenheit, mal herzhaft damit zu necken. Moment hatte er aber noch Welpenschutz.

„Du musst dich Links halten…“

Ab und an kam doch noch ein Murmeln von Galux. Es war gespenstisch wie präzise sie die Anwesenheit ihres Menschenkindes spürte. Man hatte den Eindruck sie besaß einen inneren Kompass. Tyson hielt an und schaute stöhnend in die Straße, in welche er einbiegen sollte. Der Schnee lag dort bald meterhoch aufgetürmt.

„Aber da kommen wir nicht durch!“, er bedachte die einzige freie Straße, welche weiter geradeaus führte und verzog verärgert das Gesicht. „Vollgestopft! Na toll…“

„Vielleicht wurde noch keine Entwarnung gegeben?“, Ray beugte sich aus dem Fenster. Sein Blick wandte sich nach vorne, zu den Autofahrern die neben ihrem Wagen standen. Einige telefonierten, manche plauderten, andere rauchten nervös eine Zigarette nach der anderen, oder traten auf der Stelle um die Kälte aus ihren Gliedern zu treiben. Es tummelten sich sehr viele Menschen auf dem Gehweg herum. Gerade weil es so eisig war, kam der Gruppe das seltsam vor. „Ich glaube die fahren gar nicht weiter. Die warten alle…“

Tyson ließ sich schnalzend in den Sitz zurückgleiten. Als sein Hintermann hupte zog er schnaubend die Braue auf, ignorierte es jedoch.

„Was jetzt?“

„Ich weiß nicht. Galux wie weit ist es noch?“

Das Bit Beast erhob sich, streckte sich dabei ausgiebig. Tyson sah, wie ihre Krallen kurz aus ihren Pfoten hervortraten. In jenem Moment wirkte sie eher wie eine ordinäre Hauskatze.

„Nein.“, war ihre Antwort. Ihm fiel auf, dass sie äußerst kurz angebunden war.

„Ist etwas?“

„Nein.“, wiederholte sie träge. Das Bit Beast setzte sich schläfrig auf. „Mich überkommt lediglich eine ungekannte Müdigkeit. Mir ist als könnte ich nur noch schlafen.“

Die Gruppe tauschte beunruhigte Blicke aus. Sie ahnten was das bedeutete, obwohl es Galux selbst, wohl nicht so ganz klar schien. Offensichtlich war nicht nur ihr Körper träge, sondern auch ihr Verstand. Sie musste schnellstens zu Mao gebracht werden.

„Wir laufen.“, entschied Tyson. Niemand widersprach.

Fast schon synchron schwangen alle Türen auf, bis auf Maxs, der zuvor Galux behutsam auf seinen Arm schob. Als er ausstieg, wirkte sie wie ein dösender kleiner Säugling. Tyson fragte sich, was wohl jene Menschen denken mochten, die das Bit Beast nicht sehen konnten. Wahrscheinlich würden sie glauben, Max könne seine Arme nicht richtig anwinkeln, weil er eine Behinderung besaß. Als Tysons Hintermann bemerkte, dass sie keine Anstalten mehr machten, ihren Wagen von der zugestopften Straße zu schaffen, entbrannte ein penetrantes Hupkonzert. Niemand ließ sich von ihm beeindrucken. Ray setzte sogar noch einen drauf, indem er ihm heiter zuwinkte. Tysons Blick schweifte über ihre Gruppe und blieb erneut an Kai hängen. Als Dranzer ihn aufgegriffen hatte, trug er nicht einmal Schuhe. Shinji hatte ein paar abgetragene Gummistiefel bei sich auf dem Truck gehabt, die er ihm gnädig überließ. Eine Jacke konnte er leider nicht beisteuern.

Kais Blick hob sich. Er bemerkte das Tyson ihn beobachtete und wandte rasch den Kopf von ihm weg. Geradezu verbissen presste er die Lippen zusammen und rieb sich sachte über die Arme. Tyson hätte beinahe über sein Unbehagen gelacht, wäre ihm nicht aufgefallen, dass die Haut unter seinen Fingernägeln eine bläuliche Färbung aufwies. Ein mitleidiger Ausdruck trat auf sein Gesicht, da fiel ihm siedend heiß ein, dass er noch ein Sweatshirt im Auto haben musste. Er hatte immer seine Sporttasche dabei. Seine Freunde wollten sich schon auf den Weg machen, als er noch einmal an den Kofferraum ging und ihn aufklappte. Das Hupen seines Hintermanns ergab so langsam einen richtigen Beat. In der Tasche fand Tyson sogar einen Kapuzenpullover, zog ihn aus dem Beutel hervor und klappte die Haube wieder lautstark hinunter. Er stapfte durch den Schnee auf die wartende Gruppe zu.

„Ihr habt nichts dagegen, wenn ich Kai den Vortritt hierfür überlasse, oder?“, fragte er an die anderen gewandt. Max schüttelte lächelnd den Kopf.

„Schon okay. Mir wird schon kalt, wenn ich ihn nur anschaue.“

Tyson nickte dankbar und hielt Kai das Oberteil hin, der es geradezu gebannt anstarrte.

„Was ist?“, fragte er verwundert. Doch es kam keine Antwort zurück. Offenbar schien ihr Freund sich wieder an etwas zu erinnern. Unschlüssig ließ Tyson das Oberteil sinken, da fiel ihm zum ersten Mal auf, wie weit Kais Pupillen wurden. Seine Augen waren fast gänzlich in tiefe Schwärze gehüllt. Er wirkte als wäre er auf einem beängstigenden Drogentrip.

„Lew… Wo sind meine Eltern?“, kam auf einmal die Frage. Als ob Kai mit einem Wimpernschlag wieder zum Kind geworden wäre. „Warum kümmerst du dich um mich und nicht Mutter? Und warum kommt Papa nicht mehr heim…“

Einen Moment kehrte Stille ein. Seine Worte verklangen traurig. Die Gruppe war lediglich imstande ihn bestürzt anzustarren. Tyson musste sich unweigerlich vorstellen, wie viele Stunden sein kleiner Kater wohl damit verbracht haben mochte, sich diese Fragen zu stellen. Er wollte ihn so gerne umarmen, so wie er es mit dem kleinen Kind immer getan hatte.

„Hey ihr da vorne! Ihr spinnt doch!“, brüllte ihr Hintermann mit hochrotem Gesicht auf einmal, aus dem heruntergelassenen Fenster. Damit war der Moment vorbei. Der Zwischenruf ließ Kai perplex blinzeln, als habe er mit einem Mal sämtliche Orientierung verloren. Seine Pupillen schrumpften wieder in sich zusammen. Er sah sich innerhalb ihrer Gruppe um, bemerkte all die bedrückten Gesichter, die ausschließlich ihn bedachten - und erkannte seinen fatalen Ausrutscher. Zunächst schaute er mit steinerner Miene zurück. Sein Atem schien zu stocken. Bis er sich irgendwann abwandte.

„Starrt mich nicht so an…“

Es klang keineswegs herrisch. Vielmehr wie eine verzweifelte Bitte. Er senkte die Augen, während Tyson ihn traurig ansah. Zum ersten Mal bat Kai sie um etwas.
 


 

ENDE Kapitel 39
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Oje, die letzten vier Wochen sind wie im Flug vergangen und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich in dieser Zeit nicht einen einzigen Satz geschrieben habe. >.<
Zwischen zwei Jobs, Städtetrip und Geburstagen gingen die letzten Tage wie im Schnelldurchlauf an mir vorbei. Ich muss mich wirklich ranhalten, wenn ich nicht den Vorsprung verlieren möchte. Will ja nicht wieder eine lange Pause einlegen. >_>

Wie Minerva ja schon richtig bemerkt hat, ist Dragoon für ein uraltes Wesen sehr unreif - so wie alle Uralten. Das hatte seinen Grund und hier konnte ich endlich die Auflösung bringen, denn ich stelle mir ein ewiges Leben nicht so vorteilhaft vor. Es ist zumindest nichts, was bei mir auf der Wunschliste an obererster Stelle stehen würde, denn es würde bedeuten, dass ich alle Menschen die mir wichtig sind, sterben sehen muss. Ein Mensch könnte sich wohl nur vor so viel Schmerz schützen, indem er sich innerlich davon abkapselt. Der Kelch ging an Dragoon bisher vorbei, weil er zuvor niemanden verloren hatte, der ihm wichtig war. Daher ist das ewige Leben das die Weltenbaummutter den Bit Beasts gegeben hat, Segen und Fluch zugleich. Ich hoffe ich konnte es einigermaßen gut vermitteln.

Tja, Kai fängt an sich zu erinnern. Und ihr hattet einen kleinen Vorgeschmack auf seine Reaktion. Natürlich folgt noch mehr, daher hülle ich mich erst einmal in Schweigen ^^

Ich hoffe ihr hattet euren Spaß und wünsche euch noch eine schöne Restwoche! Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Minerva_Noctua
2016-10-21T11:34:26+00:00 21.10.2016 13:34
Hallo Eris!

Hah! Dragoon lebt doch noch! Hab ich's doch geahnt, dass das nicht alles von ihm gewesen sein kann:)
Die Szene mit ihm war wirklich sehr gut beschrieben.
Ich finde du hast die emotionale Unreife Dragoons sehr anschaulich dargestellt.
Es ist interessant, dass tatsächlich ein Baum aktiv wird. Der Totenbaum scheint im Gegensatz zur Weltenbaummutter viel beweglicher und kommunikativer zu sein.
Das Bild eines Gottes, dem eine Lektion erteilt wird ist interessant und befremdlich zugleich.
Man könnte sich fast wundern, warum die von der Welterbaummutter erschaffenen Wesen nicht perfekt sind. Perfekt in dem Sinne, dass sie ihre Aufgaben schlicht erfüllen - ohne wenn und aber.
Stattdessen scheint der freie Wille dazwischen zu funken, wenn man es so ausdrücken will.
Und dann haben wir da noch die Emotionen, die erst später dazugekommen sind.
Ich könnte mir vorstellen, dass es schwieriger ist Emotionen zu erleben, wenn man nicht damit geboren wurde.
Andererseits hat Dragoon ja auch eine Unzufriedenheit vor Dranzers Geburt empfunden, weswegen die Weltenbaummutter Dranzer erschaffen hat.
Daher verstehe ich nicht, was alles unter Emotion fällt.
Sind es nur so starke Gefühle wie Liebe, Hass, tiefe Traurigkeit, Euphorie? Ich finde es schwierig mir die drei älteren Uralten als Wesen ohne Empfindungen vorzustellen, nachdem du sie so lebendig beschrieben hast.
Ich bin sehr gespannt auf Dragoons weitere Entwicklung. Er wird sich kaum über Nacht grundlegend verändern können.
Aber es wäre ein Anfang, wenn er Allegro nicht tötet, das Chaos auf der Welt versucht zu ordnen und Dranzer mit einem versöhnlichen Ton wieder einsammelt.
Wie gesagt, ich bin sehr gespannt auf seine weitere Entwicklung.

Es freut mich ungemein, dass Allegro aufgetaucht ist:D Ich habe diesen kleinen tapferen Mäuserich echt ins Herz geschlossen. Ein Charakter mehr, um den ich weinen werde, wenn die Geschichte beendet wird.
Der Kleine ist herrlich! Da stellt er sich echt dem Drachen entgegen und erhebt seine kleinen Fäustchen vor ihm:D Ich liebe diese Maus:D
Ich hoffe, dass er weiß, was er tut, als er sich am Ende auf Dragoons Schnauze setzt. Das ist schon sehr wagemutig - eher leichtsinnig. Aber bitte. Die Maus ist halt außerordentlich:)

Die Vergangenheitssequenz am Anfang hat mir sehr gut gefallen. Es ist so unglaublich schön, wie du die Interaktionen zwischen den Jungs beschreibst. Man kann sich solche Freunde nur wünschen. Das ist etwas ganz Besonderes:3
Ich verstehe Takaos Sorgen und war wie er etwas verwundert, dass Ray und Max ihn deswegen belächelt haben, weil sie einfach überzeugt waren, dass sie sich nicht aus den Augen verlieren.
So gesehen hat der Trip in der Irrlichterwelt verdeutlicht, dass die räumliche Entfernung ihrem Zusammenhalt nicht geschadet hat.
Wie gesagt, ich liebe es wie du die Jungs beschreibst:) Und Ray auf einer Tanne zum Telefonieren ist ein göttliches Bild:'D
Schön wie selbstverständlich alle beim Umzug anpacken.

Ich bin gespannt, was es mit dieser Uhr auf sich hat. Ich glaube letztes Mal hat Takao eine Vorahnung gehabt, dass er wieder jünger wird und nun sieht er sich ganz allein. Das ist echt unheimlich und ich hoffe, dass es den Jungs am Ende gut gehen wird und keiner nachhaltig verletzt wird oder gar schlimmeres.

Es war interessant Takaos Verhalten beim Thema Kai zu beobachten und natürlich auch, als er bei ihm vor der Haustür stand.
Takao scheint da schon etwas für Kai empfunden zu haben. Zumindest würde es seine Abneigung gegenüber Kais Ex-Freundin und seinen Unwillen über seine eigenen Bettgeschichten zu sprechen erklären.
Toll erklärt, wie Ray Takaos Zurückhaltung gegenüber Kai interpretiert und nett, dass Takao diese Interpretation eigentlich gleich für sich ausschließen kann. Ich frage mich echt, wann Takao angefangen hat anders gegenüber Kai zu empfinden. Ist im Nachhinein sicherlich müßig, weil die Entwicklung schleichend von statten ging - zumindest hat Takao seine Gefühle erst sehr spät erkannt.
Aber besser spät als nie. Ich wäre ja zu neugierig, was und ob irgendwas hinter den ganzen Bettgeschichten gesteckt hat. Vielleicht hat Takao damit unbewusst seine Zuneigung zu Kai unterdrückt oder er brauchte es unabhängig davon als Bestätigung.
Ich bin gespannt, was seine Freunde dazu sagen werden. Ich könnte mir vorstellen, dass sie einerseits sehr überrascht sind und es sich nicht vorstellen können, sie andererseits darüber lachen, weil es nicht gar so aus heiterem Himmel kommt. Dann bekommen sie ihr altes Ehepaar ja wirklich noch:D
Ich bin gespannt, ob Takao genug über Kai gelernt hat, um etwas sensibler mit ihm umzugehen.
Bei der Türszene hat er Kais Verhalten als zu stolz und unfreundlich empfunden, statt sich zu überlegen, warum Kai sich so benimmt. Ich finde, dass Takao Kai nicht allzu gut kannte, wenn er diese Anzeichen der Unsicherheit nicht erkannt hat und nicht versucht hat auf eine sensible Weise auf Kai einzuwirken, um zu erfahren, was bei ihm los ist.
Aber man kann es Takao nicht zum Vorwurf machen. Er hat halt ein anderes Temperament und ist noch sehr jung.
Umso erstaunlicher ist seine emotionale Entwicklung ist der Irrlichterwelt.
Jetzt hat er zumindest eine Chance Kai so zu behandeln, dass er mehr von sich preisgibt.
Es ist jedenfalls süß wie verknallt Takao ist:3 Du beschreibst seine Gedanken und Reaktionen auf eben diese sehr sehr gut. Ich kann richtig mitfühlen:)

Ich kann mir so schlecht vorstellen, wie sich Kai und Takao verhalten, wenn die Zwei was allein unternehmen. Aber vielleicht kommt da ja noch etwas. So oder so, ich liebe jede einzelne Szene mit ihnen:)

Ich finde es extrem anspruchsvoll Kai so zu schreiben und bin ganz begeistert davon, dass du das so fantastisch hinbekommst.
Die Art wie Kai sich erinnert ist sehr anschaulich beschrieben und spannend, weil man so viel von ihm lernt und ich bin gespannt wie ein Bogen, was die Gruppe noch so alles von ihm erfährt. Es täte ihrem Verständnis ihm gegenüber bestimmt nicht schlecht.
Was Kai da gerade durchmachen muss, istvschon extrem. Da werden unzählige alte Wunden aufgerissen und das zusätzlich zu der ohnehin angespannten Situation plus der neuen Erinnerungen, die Kai als Kind hinzugewonnen hat. Das ist verdammt viel und ich hoffe, dass er das bald überstanden hat.
Ich bin gespannt, was da noch so kommt. Allerdings bleibt den Jungs nicht so viel Zeit bis sie auf Kenny und Co. treffen und Dranzers Zombies sind auch nicht wirklich weit weg. Da frage ich mich schon, ob Kai sich noch ein wenig sammeln kann, bevor die Kacke wieder am Dampfen ist und ich bete, dass er sich zumindest rechtzeitig vollumfänglich an Jana erinnern kann.
Ich bin immer noch der Meinung, dass Kai schon länger weiß, dass er mehr für Takao empfindet. Ich könnte mir auch vorstellen, dass er sich nach der Beziehung zu dieser Ex-Freundin diesbezüglich bestätigt gefühlt hat.
Allerdings wäre die ganze Sache nur umso belastender für Kai: Nicht nur das generelle Problem Freundschaft zuzulassen und seine Zuneigung zu zeigen, sondern auch noch romantische Gefühle für einen dieser Freunde, was alles zerstören könnte, was er mit diesen Menschen aufgebaut hat. Ich denke mal nicht, dass er hinsichtlich homosexueller Beziehungen auch nur je ein gutes Wort in seinem Umfeld vernommen hat. Weder sein Großvater, noch die Erziehung in der russischen Abtei dürfte ihn ermutigt haben sich selbst zu verwirklichen, geschweige denn zu lieben wen er wollte.

Hach ja, ich bin gespannt:)

Ich habe jetzt auch die gesamte Geschichte nochmal über drei Monate hinweg gelesen und kann dir gar nicht sagen, wie toll ich sie finde! Sie gehört definitiv zu meinen absoluten Lieblingsgeschichten. Du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr ich mich über dieses Update gefreut habe:) Ich hatte einen echt miesen Tag gestern und da kam dieses Kapitel wie Balsam daher:3

So, ich muss jetzt Schluss machen und mir was kochen. Ich freue mich sehr auf das nächste Kapitel und kann es kaum erwarten!
Schönes Wochenende und gutes Gelingen beim Schreiben! Es ist ohnehin beeindruckend wie viel du in der kurzen Zeit schreibst:) Dafür hast du echt Respekt vor mir:) Vielen Dank, dass du diese Geschichte fortgesetzt hast und sie mit uns teilst!

Liebe Grüße,

Minerva


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