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Die Geister die wir riefen...

von

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Die kleinen Kinderaugen spähten traurig durch die Dunkelheit. Manchmal erfüllte ein leises Schluchzen den Raum. Janas Hand streichelte sanft über das weiche Stofftier, das in ihren Armen lag. Ein unbewusster Versuch sich selbst zu beruhigen. Sie grub sich tiefer in ihre Decke, bis nur noch ihr Scheitel hervorlugte und sehnte sich ihren Bruder herbei. Immer wieder wimmerte sie seinen Namen und stumme Tränen rannen ihr über die dicken Grübchen. Doch die geduldige Krankenschwester hatte ihr in einem ruhigen Ton erklärt, weshalb ihr Wunsch zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich war.

„Deinem Bruder geht es heute nicht so gut. Aber morgen früh, wenn er wach ist, gehen wir ihn sofort besuchen.“ Dann hatte sie hinter ihrem Rücken eine kleine Stoffkatze hervor gezaubert und aufmunternd gelächelt. „Weißt du was diese kleine Katze zu mir gesagt hat? Sie wird die ganze Nacht bei dir bleiben, damit du nicht mehr so alleine bist. Sie will sich zu dir kuscheln und schmusen.“

Dann tat die Schwester so, als würde das Kätzchen Janas Wange ablecken und das Mädchen gickelte schüchtern, wischte sich eine Träne weg.

„Lässt du sie bei dir schlafen Jana? Nur bis morgen. Dann kannst du wieder deinen Bruder in die Arme nehmen. Aber dazu musst du jetzt schlafen. Die Zeit wird dann wie im Flug vergehen. Das verspreche ich dir.“

Jana hatte genickt, sich in ihre Decke eingerollt und das kleine Stofftier in die Arme geschlossen, immer wieder über den Kopf gekrault, geküsst und es an die Brust gedrückt. Irgendwann war sie eingeschlafen.

Doch mitten im Traum hatte sie das Bild ihres brennenden Zuhauses eingeholt. Schluchzend war sie aufgewacht, hatte sich im Zimmer umgesehen und nach der netten Krankenschwester Ausschau gehalten. Doch Jana konnte nicht wissen dass deren Schicht vorbei war.

So lag sie nun in ihrem Bett und tröstete sich mit der kleinen Stoffkatze über ihre Einsamkeit hinweg, sang leise vor sich hin – ihre spezielle Methode sich zu beruhigen. Es vergingen einige Minuten. Beinahe wäre das Kind wieder in den Schlaf abgedriftet. Da öffnete sich die Tür zum Krankenzimmer und etwas huschte hinein.

Die neugierigen Kinderaugen blinzelten und fixierten die Stelle. Dann vernahm sie ein helles Leuchten unter ihrem Bett. Jana krabbelte zum Rand der Matratze und lugte kopfüber unter das Krankenbett. Doch in jenem Moment huschte das Licht von der anderen Seite davon.

Plötzlich hüpfte etwas auf ihre Bettdecke.

Erschrocken fuhr Jana hoch. Sie musste an den brennenden Leuchtfunken denken, der ihr Haus in Brand gesteckt hatte. Doch da war keine böse Elfe die Feuer machte – sondern eine anmutige Katze. Ihr schimmerndes Fell erhellte den Raum und ihre dunkelgrünen Augen blickten sie geheimnisvoll an. Sie tapste leichtfüßig über die Decke auf das kleine Mädchen zu und schien genauso voller Neugierde wie das Kind.

„Du bist Jana, nicht wahr?“

Der Mund bewegte sich nicht doch ein tieferer Instinkt des Kindes wusste, dass die Worte von diesem Wesen kamen. Jana nickte und wollte der Katze über das herrliche Fell, mit seinem schönen Leopardenmuster streicheln, doch ihre Hand glitt einfach durch sie hindurch.

„Du kannst mich nicht berühren kleiner Mensch. Nicht ohne meine Erlaubnis. Ich bin nicht wie andere Katzen.“, sie legte ihren Kopf leicht schief und sah neugierig auf das kleine Stofftier. Irgendwie schien sie dieser Anblick zu erfreuen, denn ihr langer glänzender Schweif, der problemlos zweimal um Jana hätte gewickelt werden können, erhob sich und stupste das Stofftier in ihren Armen an. „Aber das ist dir egal. Du magst alle Katzen, nicht wahr?“

Wieder ein Nicken, dann streichelte Jana ihrem Stofftier über den Kopf.

Die Katze schnurrte wohlwollend und sprach:

„Ich bin Galux. Ein Bit Beast. Du weißt nicht was das ist und das spielt jetzt auch keine Rolle, denn uns läuft die Zeit davon. Ich weiß was dir heute widerfahren ist, kleiner Mensch. Doch die Gefahr ist nicht vorbei! Verstehst du was ich sage?“

„Gefahr?“, fragte Jana.

Das Bit Beast nickte wissend.

„Ich komme um dir zu helfen. Jemand wird bald auf den Weg hier her sein um dir weh zu tun.“

In dem kleinen Kopf von Jana begann es zu arbeiten. Trotz ihrer Krankheit spürte das Mädchen was die Katze ihr mitteilen wollte. Es ähnelte einer telepatischen Verbindung.

„Böse Elfe?“

„Das ist keine Elfe. Das ist auch ein Bit Beast. Und ja, es ist böse! Du musst mit mir kommen, denn auch ich brauche deine Hilfe. Wir müssen den alten Mann holen und dann zu meinem Menschen. Auch sie ist Gefahr. Verstehst du das?“

Jana sah eine ganze Weile das Bit Beast fragend an. Galux befürchtete schon dass sie die Zusammenhänge nicht begriff. Da schob das kleine Mädchen ihre Decke vom Körper und hüpfte aus dem Bett.

„Sehr gut.“, meinte Galux anerkennend. Mit einem Satz sprang es federleicht auf ihre Schultern. Jana konnte ihr Gewicht nicht spüren, als ob das Wesen gar nicht auf ihrer Schulter saß und Galux flüsterte ihr ins Ohr. „Eins noch, die böse Elfe von der du gesprochen hast, steckt in deinem Bruder. Sie hat ihn unter Kontrolle. Du darfst nicht zu deinem Bruder!“

„Nicht zu Kai?“, fragte Jana mit schwerfälliger Zunge. Ihre Worte waren undeutlich doch Galux verstand sie problemlos. „Aber ich ihn doch gern… Hab Kai lieb.“

„Das weiß ich kleiner Mensch und dein Bruder hat dich sicher auch gern. Aber im Moment ist er nicht was du siehst. Seine Augen verraten ihn.“

Mit sanften Pfoten sprang Galux auf den Boden.

„Folge mir! Und gib acht das dich niemand sieht.“

Jana nickte traurig. Dann hüpfte sie noch mal an der Bettkante hoch und klaubte sich die kleine Stoffkatze von der Bettdecke, die sie fest an ihre Brust drückte. Erst dann wandte sie sich zum Gehen und streichelte immer wieder über das Stofftier, um sich Mut zu machen.

Galux registrierte das verzückt und sprach: „Du bist ein süßes Mädchen.“

Dann schritt das Bit Beast leise durch die angelehnte Tür in den Flur, während Jana ihr barfüßig hinterher tapste.
 


 

*
 

Mit einem unguten Gefühl im Magen wartete die Gruppe vor dem Eingang darauf, dass Tyson seinen Wagen vorfuhr.

„Mir wird schlecht wenn ich daran denke, dass wir gleich auf einem schaurigen Friedhof rumlatschen. Hoffentlich sieht uns niemand. Die Leute werden denken wir wären Grabschänder oder Satanisten.“ Max schielte zu Kai und fragte: „Und du bist sicher das Dizzy das so will?“

Ein stummes Nicken folgte und beunruhigt zog Max seinen Kragen höher. Ihm kam die ganze Sache spanisch vor. Vor allem da Dizzy kein Kommentar dazu abgab. Gleich nachdem sie Tyson geweckt hatte, waren die jungen Männer an der Nachtschwester vorbei in Kais Zimmer geschlichen, um den Laptop zu holen. Das die bissige Frau auf ihrem Stuhl eingenickt war kam ihnen dabei sehr gelegen. Doch als sie in Kais Zimmer waren, Dizzys Laptop einschalteten und sie ansprachen, gab sich die Bit Beast Dame ungewöhnlich wortkarg.

Nur die nötigsten Worte wurden ausgetauscht. Sie bestätigte Kais Version und sagte:

„Geht zum Friedhof. Alles wird dann kommen, wie es kommen soll…“

Dann war sie verstummt. Keine weiteren Erklärungen.

Und nun standen sie hier. Um ein Uhr in der Früh und froren sich trotz dicker Jacken den Allerwertesten ab. Ray bepackt mit Dizzy und Max unruhig im Kreis laufend.

„Das gefällt mir nicht.“, wiederholte er zum tausendsten Mal.

„Niemandem gefällt es“, meinte Ray. „Bleibt uns aber eine andere Wahl?“

Max seufzte, spürte aber die Wahrheit hinter diesen Worten.

Dann hörten sie ein Auto näher kommen. Tyson fuhr mit seinem Wagen in einem Affentempo in die Krankenhauseinfahrt und hielt direkt vor der wartenden Truppe.

„Tja. Jetzt geht’s los.“, meinte Max. Er öffnete die Hintertür, während Ray vorne Platz nahm. Doch bevor er einstieg drehte er sich noch einmal zu Kai, der ernst dreinblickte.

„Keine Sorge, Kumpel. Am Ende dieser Nacht wird deine Schwester endlich wieder sicher sein. Es reicht wenn einer von uns ein Familienmitglied zu Grabe tragen muss. Bleib bei Jana und kurier dein Fieber aus. Sie braucht dich…“

Kai erwiderte nichts und sah Max dabei zu wie er sich in den Wagen setzte. Die Gruppe winkte ihm ein letztes Mal zuversichtlich zu und Tyson rief:

„Und das du nicht auf die Idee kommst nachzukommen!“

Dann haute er den Gang rein und das Auto fuhr aus der Einfahrt.
 

Kai blickte noch eine ganze Weile stumm hinterher, bis der Wagen nicht mehr zusehen war. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Die Einfahrt war links und rechts umgeben von Sträuchern und eine kleine Sitzbank lud dazu auf, sich auf ihr eine Pause zu gönnen. Dann ging ein Knistern durch die Büsche…

Ein kräftiger Luftzug fegte über den Platz und plötzlich zog aus heiterem Himmel dichter Nebel auf.

„Das hast du gut gemacht, Dranzer“, wisperte eine Stimme im Wind. Ein kleiner Wirbelsturm bäumte sich hinter Kais Rücken auf, woraus sich eine durchsichtige Gestalt zu erheben schien, die sich verfestigte. Langsam wurden die Konturen sichtbar. Die Nebelschwaden formten sich zu einem Menschen, bis ein junger Mann hervortrat.

Als wäre nichts weiter Besonderes an seinem Erscheinen, schritt er ruhig auf Kai zu, während sein Blick in die Ferne schweifte, als könne er dort die davonfahrende Gruppe erspähen.

„Sie werden in Kürze eintreffen. Du hast wenig Zeit. Beeil dich also.“

Ein stummes Nicken folgte von Kai, was den Mann zufrieden lächeln ließ. Die Haut blass wie Schnee, strich er mit seinem Zeigefinger langsam über Kais Halsbeuge. Sein rabenschwarzes Haar stand im krassen Kontrast zu seiner Hautfarbe, war im Nacken zusammengebunden, während vereinzelte Strähnen seine Stirn verdeckten. Die Augen schienen tiefschwarz wie die Nacht. Er beugte sich mit seinem markanten Gesicht vor und streifte mit seinem Mund Kais Hals, der es ohne eine Regung hinnahm, wie eine gefühllose Puppe. Dann fuhr er sich mit der Zunge über seine Lippen.

„So schmeckt nur lebendes Fleisch“, bemerkte er und fuhr mit seiner Hand über die Stelle.

Seine Fingerspitzen verweilten an der Schlagader und erfühlten den Puls.

„Ich kann das Blut spüren das durch diesen Körper fließt.“

„Du scheinst gefallen daran zu finden“, entgegnete Kai.

Wieder nur ein Lächeln als Antwort. Dann…

„Bring zu Ende was wir angefangen haben und komm zum Friedhof. Wir anderen gehen voraus.“ Er strich mit seinem Zeigefinger über Kais Wange und meinte: „Es wird Zeit das du den Jungen aus deinen Diensten entlässt, bevor er dir dahin stirbt.“
 


 

*
 

Galux führte die kleine Jana an der schnarchenden Nachtschwester vorbei, durch die dunklen Korridore. Wo immer das Bit Beast sich hinbewegte, erhellte es für kurze Zeit seine Umgebung. Wie ein schimmernder Stern der seine Bahnen zog. Die winzigen Kinderfüße froren auf dem kalten Boden, die Zehen liefen bereits dunkelrot an, doch Jana gab keinen Mucks von sich, folgte immer nur dieser märchenhaften Gestalt die sie lockte.

Plötzlich hielt das Bit Beast vor einer Tür und bedeutete dem Mädchen mit einem Kopfnicken sie zu öffnen. Jana tat wie ihr befohlen, erhob sich auf die Zehenspitzen um die Türklinke zu ergreifen und trat anschließend in den Raum.

Galux huschte zwischen ihre Beine hindurch, durchquerte in einem schnellen Spurt den Raum und hüpfte auf das in der Mitte aufgestellte Krankenbett. Dann tapste es langsam auf den Brustkorb des alten Mannes. Jana wusste nicht dass es sich dabei um Tysons Großvater Mr. Kinomiya handelte.

Das Bit Beast blickte auf das Gesicht des ruhenden Greises, dann wandte es sich an Jana.

„Wenn der alte Mann aufwacht musst du ihm erklären, dass er hier sofort weg muss. Verstehst du das, kleine Jana?“

„Ja“

„Braves Menschenkind.“, lobte Galux. „Er kann mich nicht sehen, weißt du? Ich habe mir kein Gefäß gesucht. Deshalb musst du für mich das Reden übernehmen.“

Obwohl Jana das Bit Beast sehr wohl sehen konnte, hinterfragte sie die Äußerung nicht. Es kam ihr nicht einmal in den Sinn das Galux lügen könnte. Das Bit Beast sah noch einpaar Sekunden auf den alten Mann hinab, während Jana geduldig auf den nächsten Zug wartete. Dann holte es mit seinem Schweif aus und haute Mr. Kinomiya mit voller Wucht auf die Stirn. Ein Laut, wie von einem Peitschenhieb, schallte durch den Raum. Ein kurzer Blitz fuhr durch den Körper und wie bei einem Elektroschock zuckte der alte Mann. Dann riss er die Augen auf und hustete los.

„Teufel aber auch!“ schimpfte Mr. Kinomiya und hielt sich den Kopf, der sich anfühlte als wolle er zerbersten. Dann blickte er verwirrt im Raum umher.

Die erste Frage die ihm einfiel war: „Wo bin ich?“

Die Zweite: „Hat mich Tyson ins Altersheim gesteckt?! Drecksbalg!“

Er spürte einen unangenehmen Schmerz in den Gliedern und konnte sich seine Mattigkeit nicht erklären. Als er einpaar Sekunden so im Bett lag und überlegte was er jetzt tun sollte, spürte er ein Ziehen an seiner Decke und keuchte keine Sekunde später überrascht auf, als etwas schweres auf seinen Brustkorb plumpste.

„Nein was zum? Wo kommst du denn her Kleines?“, überrascht besah sich Mr. Kinomiya dem kleinen Mädchen das auf sein Bett geklettert, über die Decke gekrabbelt und sich dabei verheddert und auf seinen Bauch gefallen war. Mit einem schmerzhaften Stöhnen und hundert knackender alter Knochen, richtete er sich in eine sitzende Position und hob das kleine Kind hoch.

„Du bist ja ein süßer Fratz. Oh hoppla. Du hast ja…“, als er den für Down-Syndrom Kinder typischen kleinen Augenabstand erkannte und den geöffneten Mund, aus dem eine kleine Zunge herauslugte, meinte er bedauernd: „Oh du armes Kleines.“ Er tätschelte dem Kind über den braunen Schopf und sagte: „Putzig bist du trotzdem. Wie heißt du denn?“

„Ja-…na“

„Jana, he? Warte… Heißt Kais kleine Schwester nicht so? Die hat doch dieselbe Krankheit.“

„Mein Bruder!“

„Ja aber was machst du denn im Altersheim?“

Jana kicherte und verbarg das lachende Gesicht in ihren Händen. Der Schalk blitzte in den kleinen Knopfaugen. Dann meinte sie:

„Dummer Opa! Krankenhaus!“

„Jana. Beeil dich!“, ermahnte Galux sie. Das Bit Beast saß unruhig neben Mr. Kinomiya am Bett, der es nicht sehen, geschweige denn hören oder fühlen konnte. Jana nickte Galux zu und der alte Mann sah verwirrt auf die Stelle wohin sie blickte. Dann sagte sie:

„Komm! Du muss mitkomme!“

„Wohin?“

„Muss mit mir komme!“

„Ach so. Du musst mal auf’s Klo.“

Jana gluckste wieder und schüttelte den kleinen Kopf. Plötzlich sprang Galux auf und horchte in die Stille der Nacht hinein. Ihre Katzenohren zuckten und konzentriert blickte sie auf die Tür. Dann packte sie die Unruhe.

„Schnell Jana!“

Das Mädchen sah Galux verständnislos an, bis sie aus dem Korridor draußen eine hastige Stimme hörte, die sich dem Zimmer näherte. Jana sprang vom Bett und zerrte an Mr. Kinomiyas Hand, sagte immer wieder: „Komm mit, Opa! Komm mit!“

Der alte Mann stöhnte gequält, ließ sich aber erweichen und schob langsam ein blasses, dürres Bein nach dem anderen unter der Decke hervor. Nicht ohne sich etwas über die heutige Jugend auszulassen.

„Ihr Kinder wollt immer nur spielen. Sogar mitten in der Nacht weckt ihr uns Opas“, meinte er und trat mit wackeligen Beinen auf den Boden. Jana zerrte und zog an seinem Arm, während Galux zur Tür sprang und hinaus in den Flur spähte. Ihre grünen Augen leuchteten ängstlich als sie sagte: „Oh nein! Es ist zu spät. Er kommt hierher!“

Jana blickte sich im Zimmer um und entdeckte einen großen Schrank, in dessen Türen quere Ritzen eingelassen waren.

„Da! Komm Opa!“, forderte sie und Mr. Kinomiya antwortete:

„Da rein! Das ist doch jetzt ein Witz? Oh je, ihr Kinder! Du erinnerst mich an meinen Enkel! Der war genau wie du. Wir haben uns früher immer im Wäscheschrank versteckt und seinen älteren Bruder erschreckt. Einmal hat uns aber irgendein Schafskopf darin eingeschlossen. Ich glaube es war Hitoshi. Wir saßen acht Stunden fest… Oh Jana, willst du da wirklich rein? Meine Knochen schmerzen schon wenn ich daran denke!“

Ahnungslos ließ sich Mr. Kinomiya in den Schrank dirigieren, hielt das Ganze für ein kindisches Versteckspiel, kniete sich auf den Boden des Schranks und Jana zwängte sich neben rein.

„Komm Galux.“, sagte sie und das Bit Beast huschte ebenfalls hinein. Dann schloss das Mädchen die Tür. Mr. Kinomiya wollte schon fragen wer Galux war, da hörte er von draußen eine aufgeregte Stimme und als Jana ihren Zeigefinger auf den Mund legte, um ihm zu bedeuten das er leise sein sollte, verstummte er. Sollte das Kind seinen Spaß haben…

Er lugte durch die Ritzen und hörte die überaus nervige Stimme näherkommen. Dann trat einpaar Sekunden später mit schnellen Schritten eine Person in den Raum. Mr. Kinomiya brauchte einpaar Anläufe bis er merkte, dass es sich dabei um Tysons Freund Kai handelte.

So war das also! Das Mädchen wollte ihrem Bruder einen Streich spielen.

Da war er doch glatt dabei!

„Mr. Hiwatari! Ich fordere sie nochmals dazu auf wieder in ihr Bett zu gehen!“, das war der Ursprung des Gemeckers. Eine dickleibige ältere Krankenschwester, mit einem bulligen Gesicht, dass sich einem die Nackenhaare aufrichteten.

Doch Kai ignorierte sie. Nein. Sie schien für ihn gar nicht präsent.

Wie er es von dem Jungen nicht anders kannte, zeigte er dem keifenden Weib die kalte Schulter und sah sich langsam im Raum um. Sein Blick wanderte über das leere Bett, direkt gegenüber von ihnen und er schritt darauf zu. Kurz davor blieb er stehen.

Dann, vollkommen unvermittelt, verfinsterte sich sein Ausdruck.

Seine Brauen zogen sich tief ins Gesicht und er sagte:

„Er ist weg…“

Die Krankenschwester folgte seinem Blick und erstarrte.

„Nein, tatsächlich!“ Mit eiligen Schritten lief sie an ihm vorbei und begutachtete kreidebleich das leere Bett. In einem verzweifelten Versuch, den alten Mann erscheinen zu lassen, schlug sie die Decke zurück und beobachtete aus geweiteten Augen die leere Stelle, fuhr mit den Händen nervös über die Laken, als wünschte sie sich, er wäre nur unsichtbar.

„Mist, verdammter… Das ist schon der dritte Patient der diesen Monat während meiner Schicht türmt. Ausgerechnet der? Der alte Tattergreis war fast hirntot als er eingeliefert wurde.“

Mr. Kinomiya horchte auf. Er? Hirntot?

Plötzlich schoss eine Erinnerung durch seinen Kopf.
 

Er trat in sein Zimmer. Vor sich erblickte er die Statur eines hochgewachsenen Mannes mit pechschwarzem Haar, der ihm den Rücken zugewandt, mit verschränkten Armen am Fenster stand. Der Fremde drehte sich zu ihm und Mr. Kinomiya blickte in ein leeres Augenpaar. Dann folgte ein geheimnisvolles Lächeln. Und plötzlich war ihm als ob sämtliche Luft aus seiner Lunge gesogen wurde. Ihm wurde der Atem geraubt…
 

„Wo sind sie?“

Kais Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie klang aggressiv und bedrohlich. Etwas stimmte nicht, dass fühlte er. Jana hakte sich zitternd unter seinem Arm ein, hielt den Atem an und vergrub das Gesicht in seinem Krankenhemd, flüsterte voller Angst:

„Das nicht Kai… Nicht meiner…“

Mr. Kinomiya hätte ihr gerne das Gegenteil bestätigt, doch er spürte die Wahrheit hinter ihren Worten. Inzwischen lief die Krankenschwester im Raum herum wie eine aufgescheuchte Glucke. Voller Sorge plapperte sie vor sich hin.

„Oh nein! Den Kerl muss ich finden!“

„Wo sind sie?“, wiederholte Kai die Frage in schneidendem Ton.

Die Schwester blieb wie angewurzelt stehen und blickte ihn an.

„Sie? Mr. Hiwatari ich verstehe nicht…“

„Das Mädchen und der alte Mann! Wo sind die beiden?“

„Welches Mädchen? Oh Himmel, jetzt sagen sie nicht ihre Schwester ist auch weg?!“

„Bist du dafür verantwortlich, Weib?“, fragte er, sein Blick fixierte die Krankenschwester und er trat näher an sie heran, die schuldbewusst den Kopf zwischen die Schultern zog.

„Mm… Naja. In gewisser Weise schon. Mir sind die Augen zugefallen. Das passiert mit unter leider bei der Nachtschicht… Ich bin auch nur ein Mensch! Aber bis jetzt habe ich jeden meiner Patienten wieder aufgespürt. Ich wäre ihnen also sehr verbunden, wenn das unter-…“

Mr. Kinomiya hielt den Atem an als Kai die Frau am Kinn packte und mit voller Wucht gegen die nächste Wand schleuderte. Es steckte unglaubliche Kraft in diesem Griff, die er dem jungen Mann nicht zugetraut hätte. Mit einem schmerzvollen Schrei prallte die Schwester ab, stürzte hinab und schlug sich die Lippe am Fußboden auf.

Sofort meldete sich der Gentleman in Mr. Kinomiya zu Wort. Er wollte aufstehen und dem brutalen Mann die Leviten lesen, egal ob er den Junge seit dessen Kindheit kannte, Kai konnte jetzt etwas erleben! Doch Jana klammerte sich an ihn und flüsterte erneut:

„Das nicht mein Kai.“

Er ahnte nicht das Galux ihr zuwisperte ihn aufzuhalten.

Indessen trat Kai an die Schwester heran, die sich schnaufend aufraffte und ihn anfunkelte. Sie war durchaus eine kleine Kämpferin, denn wutschäumend presste sie zwischen ihren Zähnen hervor: „Du Schönling! Wer denkst du bis-…“

Der brutale Mann packte sie mit einer Hand am Hals und es schien keinerlei Kraftaufwand zu sein, die dickleibige Krankenschwester einige Zentimeter über dem Boden baumeln zu lassen.

Mit ihren wurstigen Fingern versuchte sie Kais Griff um ihren Hals zu lockern, während ihre Wangen eine puterrote Farbe annahmen, doch er hielt sie umgriffen wie ein Schraubstock.

Mr. Kinomiya atmete erschrocken auf. Er hätte Tysons Freund niemals so viel Kraft zugetraut, immerhin war er in den letzten Jahren zu einem Bonzen verkommen. Die ziemlich fettleibige Frau schien mindestens das Dreifache von ihm zu wiegen!

Kai ließ sie los und bevor sie wieder auf dem Boden aufschlug, trat er ihr in den Bauch und die Schwester sackte wieder auf die Knie. Erst keuchte sie nach Luft, doch dann meldeten sich ihre Lebensgeister zu Wort. Wie eine aufgebrachte Furie schlug sie panisch mit den Fäusten um sich. Da packte er die eine Hand. Einpaar Sekunden später die andere.

Dann geschah etwas Unheimliches…

Kais Augen schienen im Dunkeln zu glühen. Mr. Kinomiya blinzelte mehrmals und dachte einem Trugbild zum Opfer zu fallen, doch das verängstigte Wimmern und der ungläubige Schrei der Nachtschwester bestätigten ihm, dass sie dasselbe sah wie er.

Der junge Mann sah verächtlich auf die Frau hinab und zischte:

„Derjenige der seine Ohren nicht zur Wachsamkeit verwendet, sollte sie nicht besitzen!“

Plötzlich erfüllte ein unmenschlicher Laut den Raum, ließ die Fenster und das Wasserglas auf dem Klapptisch, an Mr. Kinomiyas Krankenbett, zerbersten. Kais Mund öffnete sich nicht, doch der alte Mann hätte seine Seele darauf verwettet, dass dieser ohrenbetäubende Lärm von ihm kam. Das kleine Kind auf seinem Arm begann zu schluchzen und presste die Hände an die Ohren. Mr. Kinomiya drückte sie an sich, um sie vor dem Lärmpegel zu schützen und zog seinen Kopf tiefer zwischen die Schultern. Von draußen hörte er die Schreie der Frau, gepaart mit einer kalten, schneidenden Stimme:

„Wer mit unwachsamen Augen durch die Welt schreitet, soll erblinden!“

Durch die Ritzen des Schranks flackerten Lichter hinein, der Raum schien in gleißendes Licht getaucht, er hörte die Schmerzenschreie von draußen und der Raum schien zu vibrieren. Der unmenschliche Laut erinnerte ihn an eine kreischende Vogelschar – so stellte er sich die furienähnlichen Harpyien aus dem antiken Griechenland vor.

Mr. Kinomiya fragte sich, weshalb niemand zur Hilfe eilte…

Weshalb hörte niemand die Schreie der Frau?

Doch durch den Lärm im Raum und die flackernden Lichter, bemerkte er nicht, dass die Zimmertür, wie von Geisterhand ins Schloss gefallen und sich verriegelt hatte und bereits seit längerem hektische Hände, von außen, gegen die Tür trommelten.

Es schienen Minuten zu vergehen, da wurde es endlich stiller im Raum. Zum ersten Mal hörte Mr. Kinomiya die Rufe von draußen und die Türklinke, wie sie immer wieder gerüttelt und gedrückt wurde. Als das Geräusch abebbte sah er auf und erkannte, dass die Krankenschwester zusammengekauert am Boden lag und sich wimmernd die Ohren hielt. Mit einer Gänsehaut bemerkte Mr. Kinomiya das zerkratzte Gesicht, als wäre eine Horde Raben über sie hergefallen, um mit ihren Krallen die Frau zu schinden. Ihre Augenlider waren fest aufeinander gepresst. Er ahnte dass darunter noch mehr Blut hervorquoll. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Rot. Irgendwann schrie sie einfach nur noch um Hilfe. Heulte und jammerte und Mr. Kinomiya fühlte sich schlecht, weil er genau wusste das er nichts ausrichten konnte und sich wie ein Feigling im Schrank versteckte.

Kai packte grob in ihr Haar und zog den Kopf der jammernden Frau hoch, während sich ein kleines Blutrinnsal, von der aufgeplatzten Lippe, über ihr Kinn hinweg zog und auf den Boden tröpfelte.

„Bitte“, flehte die Frau herzzerreißend. „Bitte, lassen sie mich in Ruhe! Es tut so weh! Warum tun sie mir so etwas an?! Ich habe ihnen doch nichts getan…“

Falls Mr. Kinomiya geglaubt hatte, das der Ausdruck auf Kais Gesicht sich nicht noch weiter verfinstern konnte, wurde er eines besseren belehrt. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen und schließlich sagte Kai:

„Wohl wahr, du hast nichts getan, du jämmerliches Stück! Du hast zugelassen dass meine Beute verschwindet! Anstatt deine lügende Zunge dafür zu verwenden, sie aufzuhalten, flehst du mit ihr um Gnade.“ Er kam ihrem Gesicht ganz nah und zischte. „Ein Missstand der sich aber schnell ändern lässt…“

Mr. Kinomiya sah nur Kais Rücken, konnte somit nicht erkennen, was der junge Mann mit der Frau anstellte. Das Einzige was er beobachten konnte, war eine blitzschnelle Bewegung seiner freien Hand. Es folgte ein gurgelndes Geräusch der Frau und Mr. Kinomiya drehte sich der Magen um. Dann riss Kai seinen Arm zurück und warf etwas achtlos hinter seinen Rücken. Was immer es war, es klatschte nass und feucht auf die Fliesen. Erst dann ließ er mit einer wohligen Genugtuung von ihr ab. Er richtete sich auf und trat noch einmal fest in den Wams der Frau, als hätte er sie nicht genug misshandelt.

„Weibsbilder wie du sind der Grund, weshalb ich Menschen eigentlich verabscheue.“

Endlich trat Kai von ihr weg. Sein Blick durchwanderte noch einmal den Raum und Mr. Kinomiya hielt den Atem an, als er den Schrank schweifte. Doch zu seiner großen Erleichterung schritt der junge Mann ans Fenster und war plötzlich, mit einem weiteren Wimpernschlag des alten Mannes, verschwunden.
 


 

*
 

Eine bedrückende Stille herrschte im Wagen und es war unübersehbar das keiner ein gutes Gefühl bei dieser Sache hatte. Hätten sie die Wahl gehabt wären sie lieber zuhause in ihren Betten gelegen und selig ins Land der Träume abgedriftet.

Doch unter diesen Umständen war an Schlaf nicht zu denken.

Tyson konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Um sich von der Nervosität abzulenken hantierte Ray an seiner Armbanduhr, die vor kurzem stehen geblieben war, während Max gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Er beobachtete die vorbeiziehenden Häuser, Autos und zum Teil betrunkenen Nachtschwärmer auf dem Gehweg. Mit Judy war er am Anfang ihrer Arbeitslosigkeit öfters nachts spazieren gegangen. Damals war sie noch zuversichtlich auf eine neue Stelle gewesen und war ihm noch nicht auf die Nerven gefallen. Er hatte gerne Zeit mit ihr verbracht… nicht wie kurz vor ihrem Tod.

Da hatte er seine Mutter als Ballast gesehen. Ein dicker Klotz am Fuß der sich nicht mehr abwimmeln ließ. Schuldbewusst rutschte er tiefer in die Polster des Wagens. Er konnte nur hoffen, dass diese ganze Bit Beast Geschichte ein gutes Ende nahm. Bei dem Gedanken, dass er bald in die USA zurückkehren und seine Mutter zu Grabe tragen würde, musste er die Tränen unterdrücken. Was sein Vater wohl jetzt tat?

Er hatte Judy so sehr geliebt wie ein Mann seine Frau nur lieben konnte. Wahrscheinlich saß er einsam in ihrem Wohnzimmer und die Trauer fraß sich tief in sein Herz. Max fühlte sich elend. Jetzt wo ihn sein Vater brauchte saß er in Japan fest…

An einer Kreuzung bog Tyson den Wagen nach rechts in eine kleine Seitenstraße, die hinauf zu dem Hang führte, den Kai ihm bei ihrem Gespräch gezeigt hatte. Soweit er noch wusste lag der Friedhof ziemlich abseits der Stadt und dahinter folgte ein kleines Waldgebiet. Der Wagen rollte den Berg hinauf. Irgendwann wurde aus der asphaltierten Straße nur noch ein schmaler Schotterweg. Was immer das für ein Friedhof war, er wurde wohl selten besucht, wenn man es nicht für nötig hielt, eine anständige Straße dorthin zu pflastern.

Es fehlte nur noch ein kleines Stückchen bis zu ihrem Ziel, da fragte Ray:

„Bilde ich mir das ein oder wird es neblig?“

„Nein“, antwortete Tyson. „Ich habe es auch schon gemerkt. Nicht einmal das Wetter scheint auf unserer Seite zu sein…“

Der Wagen fuhr direkt in die dichter werdende Dunstbrühe. Selbst die Scheinwerfer konnten ihre Umgebung nicht erhellen. Der Nebel verschluckte das Licht wie staubtrockene Erde einen Tropfen Wasser. Irgendwann wurde Tyson unsicher und er lenkte den Wagen so weit wie möglich an den Rand des Schotterwegs.

„Wir laufen besser. Es dürfte nicht mehr weit sein.“

Mit einem mulmigen Gefühlt stieg die Gruppe aus dem Wagen, schlug die Türen zu und machte sich auf den Weg. Tyson lief vorneweg, Ray folgte und das Schlusslicht bildete Max. Sie achteten darauf dicht bei einander zu bleiben, doch es reichte ein halber Meter mehr und Tysons Silhouette verschwamm bereits vor Rays Augen. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich alle drei für dämlich. Mitten in der Nacht einen Friedhof besuchen aber kein Schwein dachte an eine Taschenlampe! Hatten sie eigentlich auch nur irgendetwas mitgenommen das ihnen helfen könnte?! Ihr Verstand war wohl mit dem Alkohol von gestern flöten gegangen…

Es schien wie eine Ewigkeit, da tauchte aus den Nebelschwaden vor Tyson ein Torii auf, ein traditionell japanischer Torbogen der den Eingang zu einem Shinto-Schrein kennzeichnet.

Tyson fand das seltsam. Er konnte sich nicht erinnern einen Schrein auf dem Hang gesehen zu haben. Normalerweise hatte ein Friedhof auch nichts auf einer Schreinanlage zu suchen, da der Tod als etwas Unreines im Shintoismus angesehen wurde. Deshalb wurden Friedhof und Schrein für gewöhnlich getrennt. Doch es konnte gut möglich sein, das weit abseits des Tempelgeländes der Friedhof begann und der Schrein auf der anderen Seite des Hanges lag.

Er besah sich des Torii.

Alles um sie herum erinnerte an eine Landschaft aus einem Schwarzweißfilm, doch es bedurfte nicht viel Verstand um zu erkennen dass der Torii alt war, denn der Lack blätterte bereits an vereinzelten Stellen vom Torbogen ab. Dahinter dehnte sich nur die dicke Nebelbrühe aus. Sie schien so dicht, dass man hätte meinen können, ein Stückchen Nebel mit einem Messer ausschneiden zu können. Kein Gebäude war im Hintergrund ausmachen. Die Farbe des Torii wirkte im Dunkeln pechschwarz. Für gewöhnlich war ein Torii rot lackiert, doch Tyson schob diese Sinnestäuschung auf den dichten Nebel.

Von allen Friedhöfen die Dizzy sich hätte aussuchen können musste es dieser sein…

„Frag mal unsere neunmalkluge Dame wie es weitergeht.“, sagte Tyson an Ray gewandt.

Der nickte, zog den Laptop unterm Arm hervor und klappte ihn auf.

„Tja Dizzy. Jetzt sind wir hier. Wie geht es weiter?“, fragte Ray geradeheraus.

Wieder ließ das Bit Beast lange auf seine Antwort warten.

„Geht durch das Tor. Danach wird alles gut…“

„Das wir durch müssen ist jedem klar aber was passiert dann?“

„Das werdet ihr bald sehen.“

Tyson platzte der Kragen und er brauste genervt auf.

„Was soll das Dizzy?! Sprich Klartext mit uns!“

„Wovor fürchtest du dich?“

„Sieh dich doch mal um, dann weißt du was mein Problem ist!“

„Vertrau mir einfach. Bin ich nicht immer eine treue Ratgeberin gewesen?“

Der Punkt ging an das Bit Beast. Die Gruppe sah sich unangenehm berührt an. Noch nie hatte Dizzy schlechte Ratschläge erteilt. Sie war immer darauf bedacht, mit ihrem immensen Wissen, ihre spärliche Kampferfahrung auszugleichen. Außerdem sprach sie in einem so zuversichtlichen Ton, dass es Balsam für die aufgekratzten Gemüter war. Die Bit Beast Dame schien sich nicht im Geringsten zu sorgen, obwohl sie die Stunden zuvor wie auf glühenden Kohlen gesessen hatte.

Das konnte doch nur ein gutes Zeichen sein, oder nicht?

Etwas unentschlossen sahen Ray und Tyson sich an.

Keiner von beiden bemerkte wie stumm Max geworden war, dessen Blick starr geradeaus durch das Tor gerichtet war. Er blinzelte mehrmals. Schüttelte den Kopf, als wolle er ein Trugbild verscheuchen, sah wieder auf und trat zwischen Ray und Tyson hindurch, einige Schritte auf den Torii zu.

„Max? Was ist los?“

„Mum?“

„Wovon redest du?“

„Meine Mum!“, er drehte sich zu seinen Freunden um und deutete auf die Öffnung vor ihnen. „Seht ihr sie nicht? Da steht meine Mum!“

Ray war total perplex und Tyson dachte ihr Freund habe den Verstand verloren.

„Oh Max…“, sagte er erschüttert und schüttelte mitleidig den Kopf. Die Trauer schien ihren Freund wieder zu übermannen. Tyson kam einpaar Schritte auf ihn zu. „Max… Du weißt dass das nicht möglich ist. Deine Mum… Judy ist tot.“

Max wich wütend zurück.

„Du siehst ja nicht mal hin, du Arsch! Da steht meine Mum!“

„Ich weiß das alles ist schwer für…“

„HÖR AUF! UND SIEH MICH NICHT AN ALS OB ICH GESTÖRT WÄRE!“

Tyson wollte seine Hand auf Maxs Schulter legen, doch er schlug sie wutschnaubend weg und wandte sich abrupt um. Noch ehe er ihn ergreifen konnte, rannte ihr Freund durch das Tor, die beiden Männer entsetzt zurücklassend.

„Komm zurück!“, rief Tyson ihm hinterher, bis er bemerkte dass Ray neben ihm zur Salzsäule erstarrt war.

„Was ist mit dir?“

Rays Gesicht wurde blass. Sein Mund stand offen und mit ungläubigen Augen, deutete er geradeaus. Tyson folgte seinem Fingerzeig und erstarrte ebenfalls. Die Nebelbank vor ihnen lichtete sich, dahinter lag aber kein Schrein sondern tatsächlich der Friedhof. Als er dachte der Torii wirke nur durch den Nebel schwarz hatte er sich geirrt. Unheilvoll ragte das pechschwarze Tor vor ihnen auf. Und wie Max behauptet hatte, stand dort, zwischen einigen Gräbern seine Mutter – Judy!

Sie lächelte nicht. Sie freute sich nicht ihn zu sehen.

Stattdessen blickte sie ihn unverwandt an, beobachtete wie ihr Sohn näher kam und nach ihr rief. Als er sie endlich erreicht hatte, schloss Max seine Mutter überglücklich in die Arme und drückte sie fest an sich.

„Mum… Du lebst. Wie ist das möglich?“ Er entließ Judy freudestrahlend aus seiner Umarmung, umfasste ihre Schultern und sah ihr ins Gesicht. „War das alles nur ein blöder Streich? Weil ich immer so fies zu dir war? Warum sagst du denn nichts?“

Erwartungsvoll blickte Max seine Mutter an. Doch sie blieb stumm. Dann umfasste sie eines seiner Handgelenke.

Maxs Braue fuhr verständnislos in die Höhe, da merkte er dass der Boden unter ihm an Festigkeit verlor. Er blickte zu seinen Füßen. Unter ihm quoll in schwachen Fontänen Wasser aus dem Erdboden hervor, vermischte sich mit der Friedhofserde und verwandelte sich in eine pampige dunkle Brühe. Augenblicklich blieb sein Herz stehen.

Er ahnte welchen Fehler er begangen hatte und als er aufblickte wurde er aschfahl. Das Gesicht seiner Mutter änderte sich. Die sanften Augen die er kannte, wurden matt und tot. Ihre Haut wurde aufgedunsen, lief blass an, bis sich jede Sehne darunter dunkel abzeichnete.

Vor ihm stand nicht mehr seine Mutter, sondern eine alte ergraute Frau. Sie hatte Ähnlichkeit mit den Hexen aus Kinderbüchern. Ihr Gesicht wirkte verquollen wie bei einer Wasserleiche, die Lippen waren blau und die Augen, blutunterlaufen, schoben sich ein Stück aus den Augenhöhlen. Ihr dünnes Haar fiel in feuchten Strähnen hinab und Max bemerkte einen modrigen Geruch in der Luft, der widerlich in der Nase biss und ihm den Magen umdrehte.

Mit angsterfülltem Blick riss er sich von ihr los und rief nach seinen Freunden, die bereits auf dem Weg waren. Tyson und Ray hatten ihn fast erreicht, als der Boden unter Maxs Füßen nachgab und er tiefer in die lehmige Erde rutschte. Er saß bereits knietief im Schlamm und versuchte sich frei zu strampeln, da trat das alte Weib einen Schritt auf ihn zu und legte ihre fauligen Hände auf seine Schultern. Sie störte sich nicht daran, dass sie tiefer in die feuchte Erde gesogen wurde, stattdessen zog sie Max langsam mit sich abwärts.

Als der Schlamm bereits seinen Hals erreichte, streckte er panisch seinen Arm in die Höhe und versuchte nach etwas in seiner Umgebung zu greifen, an dem er sich herausziehen könnte – da packte jemand seinen Arm.

Ray war mit einem Hechtsprung nach vorne gerutscht und hatte ihn ergriffen. Doch bei seinem Sprung hatte er sich verkalkuliert. Sein Oberkörper kam dort zum Liegen, wo die Erde bereits nachgab. Er konnte sich nicht mehr mit den Händen hochstemmen, weil sein Arm verschluckt wurde. Sein Kopf drohte im wässrigen Morast bereits zu versinken, während Tyson hinter ihm auf die Knie fiel und seine Beine umschlang. Verzweifelt versuchte er seine Freunde herauszuziehen und sie vor ihrem sicheren Tod zu bewahren. Dann sprudelten stärkere Wasserfontänen aus dem Boden hervor. Der Sumpf begann sich auszubreiten, doch in der Mitte schien er einen kleinen Sog zu bilden, wie ein Strudel!

Die ersten Gräber in ihrer Umgebung begannen von ihrem Stammplatz zu treiben, wie kleine steinerne Boote, die von der Strömung davon getrieben wurden. Rays Oberkörper war bereits im Schlamm verschwunden, Max war überhaupt nicht mehr zu sehen, während Tyson mit ansehen musste, wie alles um ihn herum sich in einen dunklen Tümpel verwandelte.

Zwei seiner besten Freude wurden wortwörtlich von der Erde verschluckt und er konnte nichts tun, als hilflos an Rays Beinen zu zerren. Dann verflüssigte sich auch die Erde unter seinen Knien. Tyson sackte schreiend einen halben Meter abwärts, bis er von der lehmigen Strömung mitgerissen wurde. Ray entglitt ihm aus der Hand. Verzweifelt strampelte Tyson gegen den Sog an, doch er wurde immer weiter in die Mitte getrieben, bis er schließlich von einer Welle aus Schlamm begraben und von dem Strudel in die Tiefe gerissen wurde.

Die Strömung drehte sich noch einige Zeit, erstickte die Schreie ihrer Opfer, bis sie nicht mehr zu hören waren.

Erst dann schien sie besänftigt und verlangsamte ihre Fluten, bis sie endgültig abebbte. Die Wassermassen zogen sich wieder zurück in den Untergrund, der Boden erhärtete und hinterließ nur trockene Friedhofserde, die sofort von Gras überwuchert wurde. Die Grabsteine, die dem Sog zum Opfer gefallen waren, schossen wieder aus der Erde empor, zierten ihren Platz als sei nichts gewesen.

Erst dann kehrte Stille ein und der Nebel lichtete sich - wie der Vorhang einer Theaterbühne die den Blick auf eine neue Kulisse frei gab. Der schwarze Torii löste sich mit den Nebelschwaden auf…



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Votani
2012-09-20T00:31:30+00:00 20.09.2012 02:31
Hey. (: Ich bin gerade dabei deine FF zu lesen und obwohl ich eigentlich kein grosser BB-Fan bin, reisst mich die Geschichte echt mit. Die Charakter sind gut dargestellt (Insbesondere Tysons Grossvater bringt mich immer wieder zum Schmunzeln), die Handlung ist spannend und die actionreichen Szenen fesseln einen richtig. Ich bin schon gespannt, wie es weitergeht und werde sicherlich noch den ein oder anderen Kommentar dalassen. :D
Von: abgemeldet
2011-07-18T20:21:15+00:00 18.07.2011 22:21
Ich kann mich echt nur anschließen!Das war der Hammer! Ich konnte mir das alles so genau vorstellen. Manchmal sogar zu genau! Die stelle wo Kai die Scwester vermöbelt einfach schaurig! Ich habe eine Gänsehaut! Das ist wirklich eine ganz besondere FF! Drehbuch trifft es wikrlich! Ich könnte mir das hier als Fortsetzung vorstellen nur im Horror Genre! Du findest auch so herrliche umschreibungen wie das heir:
"Die ersten Gräber in ihrer Umgebung begannen von ihrem Stammplatz zu treiben, wie kleine steinerne Boote, die von der Strömung davon getrieben wurden."
Das klingt so wundervoll und dann wieder so unheimlich! Ich muss das Kapitel erstmal auf mich wirken lassen. Bin immer noch total von den Socken.

Ich kann es wirklich nicht erwarten mehr zu lesen!!!

Gruß
Von: abgemeldet
2011-07-12T18:04:45+00:00 12.07.2011 20:04
GEIL, GEIL, GEIL, GEIL, GEIL, GEIL, GEIL, GEIL, GEIL! *Endlosschleife*

Sorry, ich kann nichts knostruktives schreiben v_v
Gibt nichts auszusetzen!

Bye Chel
Von: abgemeldet
2011-07-11T18:01:57+00:00 11.07.2011 20:01
Stark! Das war schon kein lesen mehr, das war.... die Erzählstimme zu einem unfassbar spannenden Film. Nein, Erzählstimme auch nicht. Das Drehbuch. Und man selbst ist mitten drin.
Wirklich ein wahnsinnig intensives Kapitel. Can't wait für the next one!
Von: abgemeldet
2011-07-11T18:01:57+00:00 11.07.2011 20:01
Stark! Das war schon kein lesen mehr, das war.... die Erzählstimme zu einem unfassbar spannenden Film. Nein, Erzählstimme auch nicht. Das Drehbuch. Und man selbst ist mitten drin.
Wirklich ein wahnsinnig intensives Kapitel. Can't wait für the next one!
Von:  Minerva_Noctua
2011-07-11T07:47:28+00:00 11.07.2011 09:47
Ein sehr mitreißendes Kapitel.
Furchtbar, was Dranzer mit Kai anstellt bzw. zu was er ihn benutzt.
Die Handlung ist sehr spannend und die Beschreibungen wahnsinnig gut.
Deine Schreibweise ist lebhaft und detailliert.
Ich kann die Fortsetzung kaum erwarten^^!

Bye

Minerva


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