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Die Geister die wir riefen...

von

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„Nun, wir sind da… Wie geht es weiter?“

Erwartungsvoll blickte Max zu seinen Freunden. Sie standen vor dem Einfahrtstor des Hiwatari Anwesens und warteten auf den nächsten Schritt. Das Tor klappte bei jeder Windböe auf und zu, schepperte laut, was die Gemüter nicht beruhigte.

„Hals über Kopf hineinzustürzen, ist wohl nicht so eine gute Idee, oder?“, fragte Tyson sarkastisch. Seine Freunde verneinten, bis Allegro ihnen einen Schrecken verpasste:

„Da oben! Da ist jemand!“

Von der Gruppe kamen erschrockene Ausrufe, dann verschwanden sie panisch hinter der Mauer. Die drei Jungen pressten den Rücken fest an das kalte Gestein und hielten den Atem an. Es vergingen einpaar Sekunden in denen nichts geschah. Niemand kam heraus und sprach sie an. Schließlich wurde Tyson neugierig.

„War da wirklich jemand?“, fragte er die Springmaus.

„Ja. Da bin ich ganz sicher!“

„Und hat er uns gesehen?“, kam es von Ray.

„Das weiß ich nicht. Es ging zu schnell.“

Mittlerweile trat Tyson vorsichtig an das Einfahrtstor, schielte um die Mauerecke und tatsächlich… Er meinte ein graues Gesicht hinter den Vorhängen verschwinden zu sehen.

„Hoffentlich ist der Überraschungsmoment nicht futsch!“, meinte Ray ernst. Er hielt sich nachdenklich das Kinn, senkte den Blick und meinte schließlich. „Wir können nicht einfach wahllos hineinstürmen. Wir haben nichts mit dem wir uns verteidigen können. Wenn wir wenigstens wüssten, in welchem Raum sich Kai aufhält…“

„Na wenn es weiter nichts!“, sprach Allegro. Die schwarze Springmaus hopste von Tysons Schultern und schlüpfte durch die Gitter des Eingangstors, noch bevor die Jungs ihn aufhalten konnten. Max wollte ihren kleinen Freund schon hinterher stürmen, doch Ray hielt ihn zurück.

„Warte! Von uns allen hat er die beste Chance unbemerkt hineinzukommen.“

Natürlich hatte Ray damit Recht, denn die winzige Maus war zwischen den hohen Grashalmen kaum auszumachen. Gelegentlich sah man ihren kleinen Schweif emporragen, mehr war aber nicht zu erkennen. Trotzdem hatte die Gruppe ein mulmiges Gefühl im Bauch.

Bevor Allegro aus ihrer Sicht verschwand, machten sie ihn an der Häuserwand aus. Die Springmaus suchte sich ein Kellerfenster, durch das sie schlüpfen konnte. Erst nachdem sie mehrere überprüft hatte und an deren Scheiben kratzte, fand sie ein offenes und mit einem Sprung, schlüpfte Allegro in den Spalt und verschwand hinter dem trüben Glas.

Nun hieß es für den Rest der Truppe warten…

Die Minuten zogen sich zäh dahin, doch mit jeder weiteren die verging, fühlten sie sich sicherer. Hätte man sie entdeckt, wäre schon längst etwas passiert. Allegro war bereits eine Viertelstunde im Haus und die Jungs damit beschäftigt sich auszudenken, wie sie Kai am besten retten sollten.

Tysons Idee war, mit einem Auto in den Wintergarten zu rasen und dann ihren Freund schnell rauszuholen. Seiner Meinung nach sorgte das für Aufruhr und sah verdammt cool aus! Allerdings lag der Wintergarten im zweiten Stock und Max bezweifelte, dass sie in den nächsten zehn Minuten einen Wagen finden würden, der fliegen konnte. Außerdem hatte er nach der letzten Höllenfahrt, die Nase gestrichen voll von Tysons Fahrkünsten.

Ray war der Ansicht, dass sie nichts ohne nähere Informationen planen sollten. Bevor sie nicht wussten, wo genau sich Kai befand, mussten sie warten bis Allegro zurück war.

„Aber wer weiß was dieses Mistviech mit ihm anstellt! Wir müssen sofort rein!“, protestierte Tyson prompt. Doch Ray schüttelte nur verneinend den Kopf.

„Dranzer wird Kai nichts tun. Wir wissen alle, dass unsere Bit Beasts nur darauf aus sind, uns hier zu behalten. Von verletzten oder töten war nie die Rede! Also hab etwas Geduld und warte!“
 

Warten war bei Tyson aber so eine Sache…

Er war noch nie geduldig gewesen. Weder mit fünf, noch mit zehn, noch mit zweiundzwanzig Jahren. Wie oft hatte er als Kind seinen Bruder mit ungeduldigen Fragen gedrängt, bis dieser nur ein resignierendes Seufzen von sich gab und in Tysons Wünsche einlenkte. Zu gerne hätte er Rays Kommentar ignoriert und wäre doch hineingerannt, nur leider war die Logik seines Freundes nicht nur nachvollziehbar, sondern auch sicherer. Er hasste diese Untätigkeit zu der er verdammt war. Tyson war ein Mann der Taten, deshalb schnaufte er nur auf Rays Aussage, ließ sich an der Grundstücksmauer hinunter gleiten und verschränkte die Arme, mit einem schmollenden Gesicht.

„Fein. Warten wir halt.“

Er blickte nach oben in den Nebel verhangen Himmel und seine Gedanken schweiften zu seinem Freund. In seiner Phantasie malte er sich die schlimmsten Szenarien aus. Immerhin hatte er am eigenen Leib zu spüren bekommen, mit welchen Intrigen Dranzer arbeitete.

Was würde dieses Bit Beast erst mit Kai anstellen?

Die Sonne ließ sich am Himmel blicken.

Ihr heller Schein drang etwas durch die Nebeldecke, wie ein verschwommener gelber Wassertupfer auf einem grauen Hintergrund. Es hatte etwas Tröstliches an sich.

Es wirkte wie ein leichter Hoffnungsschimmer am Horizont.

Oh! Da war sogar eine weitere Sonne!

Wie schön…

Es konnte nie genug Sonnen geben…

„Hä?!“, Tyson setzte sich kerzengerade auf und kniff die Augen zusammen. Als das Trugbild nicht verschwand, rieb er sich mit den Händen über das Gesicht und blinzelte noch einmal nach oben in den Himmel.

Zwei Sonnen?

Wie kam denn das?

Mit offenem Mund starrte er hinauf und legte den Kopf schief.

„Leute, guckt mal hoch! Das ist irre!“

Fragend blickte der Rest hinauf, da erschien auch schon eine dritte Sonne. Der Anblick war seltsam. Es erinnerte Tyson stark an damals, als die brennenden Feuerbälle auf die Hyänen…

Ihm klappte der Kinnladen runter, als der Groschen fiel und seine Augen weiteten sich.

Stolpernd sprang er auf, zog Max und Ray in einer fahrigen Bewegung hinter sich her und dort wo sie zuvor gestanden hatte, knallte keine Sekunde später etwas Heißes in den Boden. Es fraß sich in die Grundstücksmauer und brachte sie in Form von glühenden Steinklumpen zum Bröckeln, da stürzte auch schon der nächste Feuerball herab.

Max riss das Einfahrtstor auf und die Gruppe stolperte den Kiesweg entlang zum Haus. Alles war besser als bei lebendigem Leib verbrannt zu werden – selbst auf die Gefahr hin, das sie Dranzer nun in die Arme liefen. Sie waren kurz vor der Tür, da knallte eines der Geschosse direkt vor die Treppe. Die Steine flogen nur so durch die Gegend und schützend hielten sie die Arme vor das Gesicht. Trotzdem hörte Tyson Max einen Schmerzenschrei ausstoßen. Er hatte keine Zeit sich großartig darum zu kümmern, packte ihn stattdessen am Arm und die Gruppe rannte ums Haus herum. Etwas Warmes sammelte sich in Tysons Handfläche, die Maxs Arm umschloss und eine Gänsehaut jagte ihm den Rücken hinab. Er konnte sich denken was das war. Ray stürmte ihnen voraus um die Häuserecke.

Sie wollten nachkommen, doch neben ihnen stürzte einer der Feuerbälle herab, wirbelte den Kiesweg nur so auf und haute sie von den Füßen. Tyson kam auf der Grasfläche zum Liegen.

Benommen blinzelte er, rieb sich die Stirn und als er empor blickte, setzte sein Herz für einen Moment aus.

Der Himmel hatte sich in ein Meer aus funkelnden Lichtern verwandelt, die alle auf sie zusteuerten. Sie brachen durch die Nebeldecke und hinterließen dunkle Löcher im Grau.

Tyson hörte Max neben sich stöhnen.

Er raffte sich auf und half seinem Freund hektisch auf die Beine.

„Steh auf! Das ist nicht der Augenblick um schlapp zu machen!“, wies er ihn an. Als er ihn wieder an der blutenden Wunde zu packen bekam, zog Max scharf die Luft ein, biss aber tapfer die Zähne zusammen. Mehr schwankend als rennend sahen sie zu, dass sie aus der Schusslinie kamen. Als die Feuerkugeln auf den Boden eintrafen, hinterließen sie brennende Löcher auf dem Rasen. Das Szenario wirkte wie aus einem Kriegsdrama.

Man hätte meinen können, dass irgendwo am Himmel, ein Haufen Jagdbomber ihre Runden zogen – mit ihnen als Zielscheibe. Die beiden Jungs bogen um die Ecke, hielten sich dicht an der Wand, da hörten sie Rays Stimme rufen:

„Hier her! Wo bleibt ihr denn?“

Ray stand vor dem Hinterausgang der zur Küche führte… oder besser gesagt, dass was davon übrig war. Einer der Feuerbälle hatte die Tür in tausend Stücke zerfetzt. Das restliche Holz qualmte noch an vereinzelten Stellen. Eines der Bretter ragte mit einer messerscharfen Spitze nach oben. Man hätte jemanden daran aufspießen können. Gemeinsam mit Ray, half Tyson ihrem verletzten Freund zuerst in die Lücke hinein. Erst dann folgte er und gleich danach zwängte sich Ray durch den Spalt.
 

Das Erste was die Gruppe im Innern des Gebäudes tat, war, erschöpft auf den kalten Küchenboden zu sinken. Tyson war sich sicher sein Herz bis zu den Ohren schlagen zu hören. Zusammen mit den Schlägen von draußen, vermischte es sich zu einem unruhigen Rhythmus.

Der Erste der wieder in Bewegung kam war Ray. Schwer atmend richtete er sich auf und durchsuchte alle Schränke. Es klapperte und klirrte. Manchmal verstreute er den Inhalt einer Schublade wahllos auf dem Boden. Irgendwann kam er mit einpaar Geschirrtüchern zurück und kniete sich vor Max nieder.

„Hier. Nimm das. Etwas Besseres konnte ich nicht finden.“ Obwohl er nicht Schuld an Maxs Verletzung war, senkte er den Blick und sagte: „Tut mir Leid.“

Doch sein Freund tat nur eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Er nahm eines der Tücher entgegen und drückte es sich fest auf die klaffende Wunde. Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse, aber es drang kein Laut aus seinem Mund. Stattdessen grinste er kurz darauf in seiner typischen Art und meinte:

„Ein Indianer kennt keinen Schmerz und ein Amerikaner schon gar nicht.“

Dieser Satz, gepaart mit Maxs einzigartiger Gabe, jede Situation mit Scherzen zu entschärfen, brachte Ray zum Schmunzeln. Bis Tyson sein erstes Kommentar vom Stapel ließ:

„Kais Bit Beast ist Scheiße!“

„Psst! Nicht so laut! Wenn es hier ist und uns hört…“

„Ist mir egal! Soll es doch kommen. Dieser hässliche Geier mit seinen blöden Feuerbällen kann mich mal kreuzweise am Ar…“

„Tyson! Hör auf!“, Ray sprang auf und taxierte seinen Freund mit zusammengezogenen Brauen. „Du hast eine größere Klappe als gut für dich ist. Das konntest du dir beim Bladen erlauben, aber hier geht es um mehr als nur um einen Titel! Ein falscher Zug von uns und wir sind tot!“

„Aber du hast doch vorhin noch gesagt, dass es unseren Bit Beast nicht darum geht uns zu töten!“

„Ich weiß was ich gesagt habe.“, seufzte Ray leicht gereizt. Dann atmete er einmal Mal tief durch. Er wollte seinen Frust nicht an Tyson auslassen. Außerdem steckte sein Freund wieder im Körper eines Dreizehnjährigen und in diesem Alter… Naja. Tyson war damals ziemlich störrisch und frech gewesen. Um einen ruhigeren Ton bemüht antwortete Ray schließlich:

„Ich dachte auch, dass sie uns nicht verletzten wollen, aber schau was mit Max passiert ist!“

Tysons Blick wanderte zum jungen Amerikaner, der sich die Wunde mit dem inzwischen blutdurchtränkten Handtuch abtupfte. Die roten Flecken auf dem Stoff sahen grausig aus. Seltsamerweise heilte die Verletzung nicht so schnell, wie die anderen zuvor.

„Als wir Dranzer die ersten beiden Male begegnet sind, hat es immer darauf geachtet uns auf Distanz zu halten, aber nicht uns zu verletzten. Dieser Angriff da draußen war aber gezielt auf uns gerichtet.“

„Aber wir leben noch! Woher willst du wissen, ob Dranzer uns nicht einfach nur ins Haus locken wollte?“

Ray wollte zynisch antworten, dass Tysons Zweifel schnell behoben wären, wenn er sich eine Zielscheibe auf den Hintern malen und mit ausgestreckten Armen durch den Garten rennen würde. Etwas musste sich geändert haben, denn Dranzers Verhalten war eindeutig rabiater als zuvor. Da unterbrach ein leises Knarren ihre Unterhaltung.

Die Blicke wandten sich dem Ursprung zu.

Langsam glitt die Küchentür auf und kurz darauf lugte ein graues Gesicht durch den Spalt. Es war alt und fahl. Den kahlen Kopf zierten nur noch wenige graue Haare. Trotzdem war es den Jungs bekannt. Tyson richtete sich auf, fixierte den alten Mann und dachte nach.

„Hey! Das ist doch Kais Butler. Wie hieß der noch mal? Lenin, nein… Auf jeden Fall etwas Russisches.“

„Lew“, korrigierte Max und richtete sich mit Rays Hilfe auf. Ihm war der Name deshalb in Erinnerung geblieben, weil der Hausverwalter eine spürbare Abneigung gegen ihn hatte. Das lag daran, dass der alte Mann nicht verkraften konnte, dass Max als Kind mit seinem Beyblade, diesen blöden Van Gogh versehentlich halbiert hatte. Wenn der Junge ehrlich war, verstand er den Trubel um dieses Gemälde nicht. Seiner Meinung nach galt alles als Kunst, so bald es einpaar Jahrhunderte im Keller verstaubte. Irgendein Idiot ließ sich immer finden, der das Gekritzel mit dem Ausruf kommentierte: „Diese Linien! Diese Kontraste! Das ist Kunst!“

„Vergesst nicht, was Allegro gesagt hat“, erklärte Ray wachsam an den Rest der Gruppe gewandt. „Dieses Ding ist nichts weiter als ein Phantom. Wir dürfen uns nicht in die Irre führen lassen. Wahrscheinlich hat Kai den Butler mit seiner Erinnerung ins Leben gerufen.“

Eine leichte Verbeugung kam von dem Geschöpf.

„In der Tat. Dieser Zustand wird aber nicht auf Dauer so bleiben.“, kam die Antwort von dem Phantom. Der Hausverwalter trat in den Raum und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen. Die Hände hatte er vornehm hinter dem Rücken gefaltet. Sein Blick wanderte von einem Gesicht zum Nächsten. „Nein, wie bedauerlich. Welch Ungeziefer hat sich da bloß in unser schönes Heim geschlichen?“

„Wo ist Kai?“, fragte Tyson prompt. Der Butler schwieg. Doch ein wissendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er würde ihnen nichts verraten, so viel stand fest.

„Wenn du deine Zunge verschluckt hast, dann mach dich vom Acker!“, drohte Tyson.

„Ich befürchte dieser Bitte nicht nachkommen zu können.“

„Aus dem Weg!“

Lew schüttelte bedauernd den Kopf.

„Ihr seid kein guter Umgang für Master Kai. Die Veränderungen die ihr bei dem Jungen bewirkt habt, waren anfangs erfreulich, jetzt sind sie mehr als lästig.“

Der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde ernst.

„Meine Zukunft hängt von dem Jungen ab. Wenn er aus der Irrlichterwelt verschwindet, höre ich auf hier zu existieren. Das kann ich nicht zulassen.“

„Sie sind nur eine Kopie.“, meinte Ray trocken. Seine Brauen zogen sich tief ins Gesicht.

„Kai ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie dagegen nur eine Erinnerung!“

„Nicht mehr lange. Wenn der junge Master hier bleibt, werde ich ewig existieren. Zusammen mit dem Kind. Jede seiner aufkommenden Erinnerungen an den echten Lew, machen mich ein Stückchen lebendiger, bis ich gar nicht mehr von dem Original zu unterscheiden bin.“

„Sie nehmen es in Kauf als eine wandelnde Lüge zu leben?“

„Was ist daran verkehrt? Tatsache ist, ich lebe… und das auch noch ewig. Das kann mein Original nicht von sich behaupten. Letztendlich werde ich dann der einzige Lew sein.“

„Und das auf Kais Kosten?!“, zischte Ray. Die bernsteinfarbenen Augen blitzten erbost zu ihrem Gegenüber, wurden zu schmalen Schlitzen.

„Ein uralter Instinkt der Menschen ist es, für ihr Überleben alles zu tun. Du siehst, ich denke bereits menschlich…“

„Etwas zu egoistisch für meinen Geschmack.“, warf Tyson ein.

„Egoistisch? Ich werde auf Ewig für das Wohlergehen des Jungen sorgen. Was könnte aufopferungsvoller sein?“

Tyson spie verächtlich aus. Lews Phantom war ein Heuchler. Er tat als würde nichts bei dieser Sache für ihn herausspringen. Plötzlich stutzte er. Zum ersten Mal seit Beginn dieser Unterhaltung, fiel ihm auf, dass der Hausverwalter etwas hinter seinem Rücken versteckte.

„Was halten sie da in der Hand?“, fragte er misstrauisch.

Lews Phantom seufzte und schüttelte bedauernd den Kopf. Dann holte er langsam etwas hinter seinem Rücken hervor.

„Mein Original ist ein sehr friedliebender Mensch“, meinte er. Es klang wie eine Entschuldigung. Kurz darauf hielt die Gruppe eingeschüchtert den Atem an, als der Hausverwalter eine Axt zum Vorschein brachte. Der stählerne Keil rostete an vereinzelten Stellen. Die Schneide sah stumpf aus, doch trotzdem wollte niemand am eigenen Leib erfahren, ob sie noch in der Lage war, einen Kopf zu spalten.

„Wie ihr seht, wurde mir aufgetragen, euch mit allen Mitteln aus dem Haus zu schaffen“, erklärte Lew beiläufig. Er sprach dabei mit viel Pflichtbewusstsein in der Stimme, selbst seine Brust reckte sich. „Ich möchte es nicht darauf ankommen lassen, doch wenn ihr nicht bereit seid, der Aufforderung nachzukommen, muss ich zu rabiateren Mitteln greifen.“

„Hat ihnen das Dranzer aufgetragen?“, fragte Tyson.

Ein Nicken kam als Antwort.

„Warum? Erst rettet dieses Biest uns vor den Hyänen und jetzt will es uns töten? Das ergibt doch keinen Sinn!“

„Dranzers Pläne haben sich kurzfristig geändert.“, erklärte Lew. Er strich mit seiner Hand über den hölzernen Schaft. „Man könnte sagen, Dranzer hat keine Verwendung mehr für euch. Ich muss euch jetzt bitten uns zu verlassen…“

Der Butler tat einen Schritt auf sie zu.

„Wir können nicht raus!“, erwiderte Max aufgebracht. „Keine Ahnung ob sie heute schon ihre Brille aufgesetzt haben, aber da draußen regnet es Feuerbälle!“

„Das ist nicht mein Problem.“

„Ziemlich unmenschlich für jemanden der ein Mensch sein will!“

Ganz unvermittelt hielt Lew inne.

Max Worte schienen etwas in ihm auszulösen. Die alten Hände umgriffen den Schaft, bis sich die Knöchel deutlich abzeichneten und sein Kopf begann zu beben. Sein Atem kam stoßweise. Das Gesicht wurde fahler, die Falten schienen tiefer zu werden.

„Ich bin ein Mensch…“

Die Stimme hatte sich verändert. Sie klang wie das Flüstern eines Mannes, der auf dem Sterbebett lag. Zu schwach um sich noch laut zu verständigen.

„Kai wird mich zu einem Menschen machen. Ich brauche nur seine Erinnerungen.“

Mit mehr Kraft als man ihm zugetraut hätte, hob der alte Hausverwalter die Axt über seine Kopf und schrie: „Ihr nehmt ihn nicht mit!“

Lew holte aus und schlug nach ihnen. Der Erste der in sein Visier geriet war Tyson. Doch so sehr sich das verrückte Phantom auch abrackerte, er bekam den Jungen nicht zu fassen. Tyson war jung. Er alt und lahm. Zudem hantierte Lew äußerst ungeschickt mit der schweren Axt. Er holte immer wieder aus, doch verfehlte sein Ziel aufs Neue. Der altersschwache Mann konnte einem fast Leid tun. Trotzdem blieben die Jungen auf der Hut. Als Lew sie auseinander getrieben hatte, wanderte Tysons Blick zu seinen Freunden.

Ray gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie aus der Küchentür verschwinden und den alten Mann im Raum einschließen wollten. Das schien eine gute Idee zu sein und beinhaltete keine Verletzten.

Als Lew wieder einen Querschläger verpasste und dabei versehentlich seine Axt in die Küchenzeile rammte, sah die Gruppe ihre Chance gekommen. Während er ächzend die Axt aus dem Holz zog, stürmten sie zur Tür und wollten hinaus entwischen. Ray hatte bereits den Türknauf in der Hand, da zog Lew mit einem Schrei die Schneide heraus, drehte sich zu der Gruppe und rannte mit erhobener Waffe auf sie zu. Ihnen blieb nichts anderes übrig als erneut auszuweichen.

Sie traten ruckartig einpaar Schritte zurück und beobachteten, wie die Axt krachend in der Tür landete. Der alte Mann versuchte unter größter Anstrengung den Keil aus dem Holz zu ziehen. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die spärlichen Haare klebten klatschnass an seiner Halbglatze, während sein Atem schwer ging.

„Das hat doch keinen Sinn“, meinte Tyson zu ihm. „Ich will nicht angeben, aber wir sind einpaar Jahrzehnte jünger als sie. Sehen sie sich doch an, Lew! Sie pfeifen aus dem letzten Loch, während wir nur lässig ausweichen.“

„Das ist das Dumme wenn man nur eine Erinnerung ist“, warf Max ein. „Sie können nur so viel Kraft aufbringen, wie Kai von ihnen kennt!“

Die Gruppe rückte wieder zusammen, hielt einen großen Abstand zum Hausverwalter. Er stand ihnen den Rücken zugewandt vor der Tür, seine Hände umschlossen den Stiel der Axt.

Sein Oberkörper bewegte sich zu den pfeifenden Atemzügen seiner Lunge, während das Keuchen laut zu ihnen drang.

Es war ihr Pech, dass er ausgerechnet an der Tür eine Verschnaufpause einlegte. Tysons Blick wanderte durch die Küche zum Hinterausgang. Durch das Loch in der zersplitterten Tür, konnte er den Feuerregen draußen im Garten beobachten. Mit jedem Schlag der auf den Boden traf, erzitterte die Erde einmal mehr. Es wäre blanker Irrsinn gewesen, dort draußen nach einem anderen Eingang zu suchen. Genauso irrsinnig war es aber, sich hier mit dem wahnsinnigen Butler abzugeben.

„Merken sie nicht wie falsch das ist?“, fragte er schließlich geradeheraus. „Sie wollen ein Mensch sein, aber sind bereit jemanden zu töten! Das ist das Unmenschlichste überhaupt!“

Mit einem grimmigen Ausdruck verschränkte Tyson die Arme vor der Brust.

„Selbst wenn Kai tausend Jahre in der Irrlichterwelt bleibt… Selbst wenn sie Abermillionen Erinnerungen von ihm abzwacken, allein die Tatsache, dass sie bereit sind zu morden, gibt ihrem Weg zur Menschlichkeit einen gehörigen Dämpfer!“

Lew hörte auf zu Atmen. Sie konnten beobachten wie sein Oberkörper stillstand.

Dann plötzlich bebten seine Schultern und keine Sekunde später, vernahmen sie ein Gackern aus seinem Mund. Es schallte unheimlich durch den Raum, jagte dem einen oder anderem von ihnen eine Gänsehaut über den Rücken. Das Lachen wurde dunkler, erfüllte jeden Winkel im Raum. Es passte gar nicht mehr zu einem Menschen und schmerzte bald schon in den Ohren. Man hätte es mit dem dumpfen Dröhnen einer ungeölten Industriemaschine vergleichen können. Es klang verzerrt, kalt, wahnsinnig…

Während seines unheimlichen Anfalls, zog Lew die Axt aus der Tür. Dabei tröpfelte etwas hinunter auf die ockerfarbenen Fliesen. Der alte Mann krümmte sich vor ihnen, bis er sich langsam zu ihnen wandte.

Tyson hielt den Atem an.

Lews Gesicht… Es begann zu schmelzen!

Nase, Augen und Ohren verschwammen zu einer deformierten Masse. Nur der schmale Mund klaffte im Gesicht, wie eine tiefe Schnittwunde. Die Mundwinkel deuteten skurril nach oben, als hätte man sie Lew gewaltsam, mit einem Tacker, unter den Augen befestigt. Es war eine hässliche, grinsende Grimasse, während die Unterlippe immer weiter nach unten schmolz und sich mit dem Kinn vermischte. Sein Gesicht erinnerte an einen Brocken Wachs, den man in Form gebracht und später in der prallen Sonne vergessen hatte. Man konnte nur noch erahnen, was der Klumpen zuvor darstellen sollte. Lews Phantom schien sich wieder in einen Gesichtslosen zurückzuverwandeln. Jede menschliche Partie tropfte langsam zu Boden.

„Morden ist nicht menschlich?“, drang es schließlich aus dem Schlitz. Das linke Auge war ganz verschwunden. Überrollt von einer wachsweichen Hautschicht. Nur ein mickriger verformter Punkt, in der anderen Gesichtshälfte, war von dem rechten Auge übrig geblieben. Die schwarze Pupille schielte zu ihnen herüber.

„Um sein Überleben zu kämpfen, auf biegen und brechen, ohne Rücksicht auf Verluste, gehört zum menschlichen Dasein dazu, wie der erste Atemzug!“

Das Phantom spie die Worte verächtlich heraus.

„Eure Geschichtsbücher sind voll davon! Voller Verrat und Hass. Ihr könnt es nicht leugnen! Mord und Totschlag ist überall, seit Anbeginn eurer Zeitrechnung! Kain und Abel, Menschenopfer, der dreißig Jährige Krieg, Weltkriege! Ganze Landstriche hat der Mensch vernichtet… Ganze Völker ausgerottet!“

Lew breitete die Arme aus. Er schrie seine Worte voller Überzeugung hinaus. In der linken Hand hielt er die Axt empor, wie ein Wanderprediger vor seinen Zuhörern.

„Ich bin menschlicher als ihr alle zusammen! Niemand kann es mir nachtragen wenn ich töte! Ich handle wie Millionen von Menschen vor mir! Ich bin genauso wie sie alle! Ich bin ein Teil der Menschheit! Nur der Stärkste gewinnt!“

„Schauen sie sich mal ihre hässliche Fratze an! Ich kann mir denken warum ihr Gesicht dahin schmilzt! So widerlich sieht nur ein Mörder aus!“

„Kai wird es wieder richten. Der Junge braucht nur an seinen guten alten Freund Lew zu denken und schon ist mein Gesicht wieder da! Seine Erinnerungen werden meinen erschöpften Körper heilen, wie ein wohltuendes Bad.“

„Wenn ich Kai wäre, würde ich mit hundertachtzig Sachen schreiend den Rückwärtsgang einlegen!“, mischte sich Tyson ein.

„Dann eben Dranzer!“

„Sie sind für Dranzer doch nur ein Mittel zum Zweck! Wissen sie was es normalerweise mit Gesichtlosen macht?! Wir haben es mit eigenen Augen erlebt!“, mit einem Schauer dachte Tyson an die Phantome, die Dranzer zuvor in der Innenstadt getötet hatte. „Sie glauben doch nicht allen ernstes, dass sie eine Ausnahme sind?! Nur ein falsches Wort von ihnen und es wird sie mit seinem Feueratem in ein Häufchen Asche verwandeln!“

„LÜGE!“

Lew stürmte auf die Gruppe zu und schlug in wilder Raserei um sich. Plötzlich war er viel schneller. Sein Wahnsinn schien ihm Kraft zu verleihen.

Er holte aus, schlug zu.

Holte aus, schlug zu.

Immer wieder, ohne aus der Puste zukommen.

Jeder Hieb wurde begleitet von seinem wirren Schrei.

Das wachsweiche Gesicht tröpfelte zu Boden, wie zähflüssiger Honig. Jedes Mal wenn Lew seine Lippen zu einem Schrei aufriss, klebten sie aneinander und zogen dünne Fäden.

Es war ein grausiger Anblick… und er machte ihnen Angst.

Als Ray einem Schlag auswich, rutschte er auf einer der Pfützen aus, die Lew verursacht hatte. Er geriet ins Straucheln und landete mit einem erschrockenen Ausruf auf dem Rücken. Tysons Augen weiteten sich entsetzt, als er beobachtete, wie das Phantom auf seinen erstarrten Freund zukam. Die Axt hoch erhoben, bereit Ray den Schädel zu spalten. In diesem Moment wusste Tyson nicht, ob ihn ungeahnter Mut oder viel mehr Dummheit ritt. Jedenfalls setzten sich seine Beine selbstständig in Bewegung. Er stürzte auf den Hausverwalter zu, noch ehe dieser die Möglichkeit hatte, seinem Freund etwas anzutun. Mit der Schulter versetzte er ihm einen heftigen Stoß gegen die Seite, bekam dabei aber den Holzstiel der Axt gegen die Schläfe. Eine schmerzhafte Explosion in seinem Kopf folgte und Tyson verschwamm die Sicht. Der alte Mann prallte inzwischen gegen die Küchezeile.

Einpaar Schubladen machten sich durch die Wucht selbstständig und sprangen auf. Aus einer von ihnen regnete Besteck auf die Fliesen hinab. Ansonsten blieb Lew unverletzt.

Tyson aber stürzte benommen, mit dem Rücken voraus, zu Boden.

Als er auf den kalten Fliesen lag, tanzten die Wände um ihn herum, das Blut pochte heftig gegen seine Schläfe und ihm dröhnte der Schädel. Betäubt vernahm er Rays Silhouette, die sich über ihn beugte und seine Schultern packte. Tyson wurde ruckartig auf die Beine gezerrt. Sein Kopf klappte zur Seite und kam auf einer Schulter zum Liegen. Während Ray seinen Freund von der Gefahrenquelle wegzog, hörte Tyson Max etwas rufen. Es klang als würde er absichtlich das Phantom provozieren.

Sein Plan ging auf. Der alte Hausverwalter stützte sich von der Küchenzeile ab und jagte ihm hinterher, während Ray versuchte, seinen Freund wieder auf die Beine zu bekommen.

„Tyson, komm schon!“, hörte er Rays Flehen. Einpaar leichte Ohrfeigen trafen auf seine Wange. „Bitte steh auf! Lass uns jetzt nicht hängen! Wir können dich jetzt nicht durch die Gegend tragen!“

Ein unwilliges Stöhnen kam von Tyson. Doch schließlich blinzelte er, bis die Konturen seiner Umgebung wieder klarer wurden. Er hörte wie Max das Phantom bis aufs Blut triezte. Es jagte ihm hinterher, während sein Freund immer wieder Möbel in dessen Weg rückte. Stühle wurden verschoben, die Axt prallte auf den soliden Küchentisch, es trampelte und klirrte aus jeder Ecke. Bis Max mit seinem orangen Overall an der Tischkante hängenblieb. Einer der Ärmel, die er sich um die Hüfte gebunden hatte, ließ sich trotz ziehen und zerren nicht von der Kante lösen. Der Stoff zog sich in die Länge und Lew holte wieder aus.

Da schoss aber ein kleiner blauer Blitz zwischen Lews Beinen hindurch.

Er umkreiste das Phantom und verschwand schließlich knisternd in dessen Hosenbein.

Zuerst stutzte der Hausverwalter, bis er das unangenehme Ziehen an den Waden spürte.

„Was ist das?! Das ist ja widerlich! WEG VON MIR!“

Die Axt glitt aus den Händen. Das entstellte Gesicht des Phantoms, mit dem schnittähnlichen Mund, war in heller Aufregung. Lew hüpfte auf einem Bein, das kleine verformte Auge schien in seiner Höhle zu erzittern, während die Tirade nur so vor Hass triefte.

„Ekliges Dreckstier! Scher dich hinaus! Dieses Haus duldet keine Ratten! ARGH!“

Das Phantom schlug sich auf die Brust, wo sich deutlich eine kleine Ausbeulung erkennbar machte. Sie bewegte sich unter dem Stoff der Jacke, von einer Seite auf die andere, versetzte dem alten Mann immer wieder kleine heftige Stromstöße.

Ein Quieken drang zu Tyson.

„Verschwindet! Ich halte ihn auf! Raus mit euch!“

Doch Max befreite sich von der Tischkante und als der Hausverwalter sich nach der Axt beugte, setzte er den Fuß auf das Werkzeug und schob es mit einem heftigen Ruck, auf die andere Seite des Raumes - direkt vor dem zerstörten Hinterausgang.

Mit einem wütenden Aufschrei griff Lew nach Max. Er packte den jungen Amerikaner am Kragen und drückte ihn zu Boden. Die alten Hände umschlossen mit einer ungeahnten Kraft den Hals des Jungen und würgten…Würgten bis Max anfing zu keuchen!

Aus Angst er könne Max auch versehentlich einen Stromstoß verpassen, ging Allegro dazu über, Lew mit Bissen und Kratzern zu attackieren, doch der Griff ließ nicht locker.

Lews Hände wollten Max unter allen umständen zum Schweigen bringen.

Die freche Zunge sollte nie wieder ein Wort von sich geben.
 

Ray ließ von Tyson ab, stürmte auf Lew zu und versuchte ihn von seinem Freund runterzuziehen. Doch er war jetzt gefangen in einem dreizehnjährigen Körper. Es bedurfte viel Kraft, dem alten Mann überhaupt eine Regung abzuverlangen – ihn von seiner Tat abzuhalten! Als Tyson sich benommen aufrichtete, wollte er sofort zur Hilfe eilen, doch er trat gegen etwas, dass klirrend auf dem Boden lag.

Eine der verstreuten Gabeln.

Er hob das Besteck auf, drehte es in der Hand und schluckte…

Das er jemals auf so einen brutalen Gedanken kommen würde, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Als Maxs Lippen bereits eine bläuliche Färbung erhielten, umgriff er entschlossen die Gabel, tat es Ray gleich und warf sich auf Lews Rücken. Gleichzeitig rammte er die Spitzen der Gabel in Lews Halsbeuge.

Ein Schmerzensschrei, der durch Mark und Bein ging, erfüllte den Raum.

Das Phantom bäumte sich auf und Ray fiel von ihm ab, während Tyson ein paar Schritte von seiner Tat zurückwich.

Mit zitternden Händen umgriff Lew die Gabel.

Sein entstelltes Gesicht verzog sich zu einer gepeinigten Grimasse, als er sie herauszog. Eine gelbliche Flüssigkeit quellte aus der Wunde. Er sah auf das kleine Metallstück in seiner Hand, bis er mit den Zähnen knirschte und dann Tyson anvisierte. Der Durst nach Rache war unverkennbar.

Er ließ von Max ab, der keuchend am Boden lag und nach Luft schnappte, fokussierte den anderen Jungen mit gieriger Mordlust in den Augen. Er tat einen Schritt auf ihn zu…

Rumms

… bis Ray ihm einen heftigen Stoß mit der Schulter verpasste.

Der alte Mann strauchelte in seine Richtung und Tyson hatte einen Geistesblitz. Er fiel auf die Knie und kauerte sich zu einem Bündel zusammen, bis Lew über ihn stolperte. Seine Arme flogen nur so durch die Luft, während das Phantom verzweifelt versuchte das Gleichgewicht zu finden. Es fiel auf die zerborstene Tür zu, deren scharfes Holzscheit, in der Mitte des Lochs bedrohlich empor ragte.

Ein kleiner blauer Blitz schoss von Lew davon.

Tyson schloss die Augen. Er wollte das Kommende nicht sehen.

Schließlich schallte ein lautes Krachen durch den Raum, gefolgt von einem qualvollem Schrei, der einem die Gänsehaut über den Rücken jagte.

Erst dann kehrte eine gespenstische Stille ein.
 

Die Minuten zogen sich dahin, bis Tyson eine Hand auf seiner Schulter spürte.

„Lass uns abhauen, schnell!“, hörte er Max sagen. Seine Stimme klang hektisch.

Es dauerte bis sich Tyson dazu überwinden konnte die Augen auf Lew zu richten.

Aufgespießt hing das Phantom in der zerborstenen Tür. Der lange Holzscheit ragte aus seinem Brustkorb, während der Oberkörper, verborgen vor ihren Blicken, im Freien lag.

„Tyson!“, wurde er gedrängt.

„Ja, Max… I-Ich weiß…“, stotterte er und wandte sich von dem Anblick ab. „Lass uns abhauen. Kai sollte keine Minute länger in diesem Haus bleiben…“
 

*
 

Vor dem Hotel ertönte viertelstündlich die Sirene eines vorbeifahrenden Streifenwagens. Jedes Mal gefror Mariah das Blut in den Adern. In ihrem Kopf spielten sich grausige Szenarien ab. Sie sah Ray, wie er von japanischen Polizisten verhört wurde oder in der Irrlichterwelt gefangen umherirrte. In den Nachrichten gab es nur noch drei Themen:

Das niedergebrannte Hiwatari Anwesen, der vermutlich damit zusammenhängende Angriff im Krankenhaus und die Personen, nach denen gefahndet wurde.

Es gab keine Möglichkeit sich abzulenken. Die Themen schwebten im Raum, wie eine stickige Dampfwolke und drückten auf das Gemüt – jedenfalls auf Mariahs.

Kais Schwester begriff den Ernst der Lage nicht. Das kleine Mädchen hatte sich ihre Langeweile damit vertrieben, aus einem Stapel Kissen ein Fort zubauen, wobei ihr Mr. Kinomiya assistierte. Es war seine Art, Jana abzulenken, denn sie begann irgendwann nach ihrem Bruder zu fragen. Der alte Mann und Mariah hatten sich vielsagende Blicke zugeworfen und waren schließlich übereingekommen, dass Thema schnellstmöglich zu wechseln. Wie sollte man einem Trisomie kranken Kind erklären, dass ihr Bruder von einem bösen Geist verschleppt wurde?

Irgendwann war Jana schließlich auf einem Stapel Kissen eingeschlafen, zusammen mit dem ausgelaugten Tattergreis. Man merkte das Mr. Kinomiya zu alt war um noch mit dem Level eines lebhaften Kindes mitzuhalten.

In einer anderen Situation hätte Mariah über den Anblick gelacht, der sich ihr bot. Wie Mr. Kinomiya auf dem Boden saß, mit dem Rücken angelehnt an den Sessel, auf seinem Schoß ein Stapel Kissen, während Jana hinter ihrer Fortmauer zusammengekauert auf dem Teppichboden schlummerte.

Doch die letzten Nachrichten versetzten die Frau wieder in Aufruhr.

Die verkohlte Leiche, die im Hiwatari Anwesen gefunden wurde, war angeblich verschwunden. Verängstigten Zeugenaussagen zufolge, soll sie sich selbstständig gemacht haben und einfach aus dem Krankenhaus davon spaziert sein. Allerdings war der Bericht noch immer nicht von der Polizei bestätigt worden. Es soll sich dabei nur um ein Gerücht einer überabeiteten Pathologin gehandelt haben. Die Nachrichtensprecher konnten sich witzige Kommentare nicht verkneifen und sprachen spöttisch von einer Invasion der Zombies. Galux schien das verschwinden der Leiche zu beruhigen. Der Meinung des Bit Beast nach zu urteilen, brauchte Dranzer die menschlichen Überreste wohl in der Irrlichterwelt, deswegen waren sie verschwunden. Das konnte nur bedeuten, dass Dranzer in dieser Welt nicht mehr nach ihnen suchte. Doch… hieß das nicht auch, dass sie ihren Willen bekommen hatte?

War die Gruppe nun in der Gewalt der Uralten?
 

„Bitte!“

„Nein.“

„Ich flehe dich an!“

„Nein Mao.“

„Bitte Galux! Tu es mir zuliebe!“

Die werdende Mutter blickte das Bit Beast aus flehenden Augen an. Sie zog absichtlich eine bekümmerte Schnute und bettelte voller Inbrunst, schöpfte ihre gesamten Register aus.

„Ich muss wissen wie es ihm geht. Diese Ungewissheit macht mich wahnsinnig! Kannst du das nicht begreifen?“

„Um ehrlich zu sein, nein. Er hat dich so schlecht behandelt und ihr streitet nur. Was interessiert dich dieser Junge noch?“, das Bit Beast sah ihre Besitzerin aus großen Augen an und etwas enttäuschtes lag in ihrem Blick.

„Du hast doch mich? Bin ich dir nicht genug?“

„Galux, du bist die beste Freundin die man sich wünschen kann und ich mag dich sehr. Aber Ray ist mein Mann!“

„Ein Mann, der sich von dir abwendet…“

„Ich muss auch an mein Kind denken. Soll es ohne Vater aufwachsen?“

Galux blickte sie aus ernsten Augen an und schwieg. Dann schüttelte es den Kopf.

„Ich werde dich nicht in die Irrlichterwelt bringen. Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Eine Frau in deinen Umständen an diesem Ort… das ist Wahnsinn.“

„Du hast Skrupel mich dort hinzubringen, aber dass Ray dort ist, kannst du ohne Reue mit deinem Gewissen vereinbaren?!“, zischte Mariah schließlich. Aus ihren Augen sprach tiefe Enttäuschung. „Mag sein das Ray und ich vor der Scheidung stehen. Bis vor einpaar Stunden dachte ich, dass wäre das Schlimmste was mir widerfahren könnte. Aber wenn ihm dort etwas passiert… Wenn er nicht mehr zurückkommt… Galux! Das würde ich dir niemals verzeihen!“

Das Bit Beast zuckte zusammen, wie unter einem Peitschenhieb. Es sah ihre Besitzerin aus großen Augen an.

„Aber… warum gibst du mir die Schuld?“

„Vielleicht könnte ich ihnen helfen? Vielleicht brauchen sie uns?!“

„Du kannst nichts ausrichten, Mao! Ich sehe keine Möglichkeit ihnen zu helfen…“

„Es muss doch etwas geben“, Mariah traten verzweifelte Tränen in die Augen. Ihre Hände ballten sich zu zitternden Fäusten. „Irgendwas…“

Galux sah nur Kummer im Gesicht ihrer Besitzerin. Die Trauer schwappte auf das Bit Beast über, wie eine Welle die gegen einen Felsen brandete. Schließlich senkte es resignierend den Kopf und seufzte. Ohne Ray würde Mariah nicht einen Tag glücklich sein. Das wurde Galux langsam klar.

„Na gut.“, flüsterte sie und erhob sich vom Fenstersims.

„Du bringst mich zu ihm? Oh Galux, vielen…“

„Nein! Du verstehst mich falsch.“

„Aber...“

„Ich werde gehen. Alleine!“

Kurzes Schweigen trat ein.

Mit offenem Mund starrte Mariah ihr Bit Beast an. Es dauerte eine ganze Weile bis sich wieder ihre Zunge lockerte.

„Ganz allein? Ist das nicht… gefährlich?“

Galux schwieg. Es sprang vom Fenstersims und tapste langsam auf die Eingangstür zu, ohne eine Antwort. Auf ihrem Weg hielt es noch einmal vor den Schlafenden. Es beobachtete das Gesicht des Mannes und schließlich das ruhende Kind.

„Versprich mir, dass ihr diesen Raum nicht verlasst.“, kam die Aufforderung. „Bleibt zusammen und tut nichts bevor ich nicht zurück bin.“

„Ist es gefährlich für dich?“, wiederholte Mariah ihre Frage. Das schlechte Gewissen plagte sie plötzlich. Sie hatte das Gefühl, das Galux sich nur ihr zuliebe in Gefahr begab, um ihr ihre Loyalität zu beweisen.

„Ich bin ein Bit Beast. Ich komme klar.“

„Aber du hast gesagt, dass du gegen die Uralten auch nicht ankommst.“

„Verschwende keine Gedanken daran, Mao.“

„Wie kann ich das jemals gutmachen? Du hast so viel für mich getan…“

Kurze Stille kehrte ein.

„Da gibt es etwas…“

Galux wandte den Kopf von ihr weg und Mariah meinte, eine leichte Röte um die Wangen des Bit Beasts zu erkennen.

„Schenkst du mir… eine Strähne?“

„Was?“

„Eine Haarsträhne.“, schüchtern blickte das Bit Beast sie an. Es war das erste Mal, dass Mariah eine solche Emotion bei Galux sah. Sonst schien es voller Selbstbeherrschung.

„Ich liebe deine Haare. Sie duften nach Frühling. Blumen, Wälder und Heiterkeit…“

Sprachlos blinzelte Mariah ihr Bit Beast an und fuhr sich mit der Hand durch ihre Haar. Sie war durchaus stolz auf ihre kleine Löwenmähne, aber so ein Kompliment war ihr noch nie zu Teil geworden. Um ehrlich zu sein, hatte sie ihre Haare seid ihrer Schwangerschaft nämlich vernachlässigt. Sie gehörten dringend geschnitten und wiesen an den Spitzen den typischen Spliss auf, wenn man viel zu lange dem Friseur ferngeblieben war. Das ihr Bit Beast ihr Haar mit so etwas wie dem Frühling in Verbindung brachte – wie seltsam?

Letztendlich huschte doch aber ein sanftes Lächeln über Mariahs Gesicht. Sie wandte sich ihrem Reisekoffer zu und kehrte Galux den Rücken. Es raschelte als sie einpaar Sekunden nach etwas suchte. Aus einem Kosmetikbeutel holte sie eine kleine Schere hervor. Sie schnitt sich großzügig eine ihrer langen Strähnen ab, ganz gleich ob jetzt eine kleine Lücke in ihrer Frisur prangte. Immerhin ließ es sich noch leicht überkämmen.

Dann nahm sie auf dem Bett platz und flocht die rosige Strähne zu einem schmalen Zopf.

Dabei setzte Galux sich neben sie und beobachtete stillschweigend ihre Handarbeit. Es wirkte wie ein friedliches Beisammensein, bis sich Mariah zu ihr drehte.

„Wie kann ich es dir anlegen?“

„Tu es einfach.“

„Aber ich kann dich nicht anfassen.“

„Wenn wir beide es wünschen, wird es möglich sein…“

Die junge Frau legte zaghaft das geflochtene Band, um Galux Hals und tatsächlich... unter ihren Fingerspitzen konnte sie das samtweiche Fell spüren. Sie band den Zopf um das Bit Beast, wie ein kostbares Halsband, mit einer hübschen Schlaufe vorne. Dann streichelte sie ihrem Bit Beast über den Kopf, das nur wohlig schnurrte. Sie fand Galux schon immer wunderschön. Doch noch nie sah es edler aus, wie in diesem Moment.

„Danke.“, sagte das Bit Beast.

„Ich bin es die zu danken hat.“

„Vergiss nicht was du mir versprochen hast. Ihr dürft das Zimmer nicht verlassen. Bleibt zusammen. Ich komme zurück sobald ich kann.“

Mariah nickte und als sich Galux erhob und vom Bett sprang, meinte es:

„Ich bringe dir deinen Mann zurück. Versprochen!“

Zusammen schritten Mensch und Bit Beast zum Ausgang.

Die junge Mutter öffnete die Zimmertür einen Spaltweit und kurz bevor Galux hinaushuschte, fragte sie: „Versprichst du mir auch etwas?“

Erwartungsvoll wurde sie gemustert.

„Bring nicht nur die Jungs heil zurück, sondern auch dich…“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  TKTsunami
2012-01-07T22:19:42+00:00 07.01.2012 23:19
Wuhu
Wieder ein spannendes kapi
und iwie hab ich das gefühl das gallux nicht zurückkommt...
es regnet feuerbälle *_*
Endlich kommen die sonnenschirme zum einsatz XD

PS: Böse FF-Klauer. Sowas ist echt mie sund billig!
Ich sag auch bescheid sobald ich was sehe


TK was here
Von:  Minerva_Noctua
2012-01-05T13:12:23+00:00 05.01.2012 14:12
Das Kapitel ist spannend und anschaulich.
Obwohl es recht lang ist, kam es mir diesmal recht kurz vor.
Aber das liegt unter Umständen daran, dass Lews Angriffe recht flott kamen und die Erzählung rasant vorwärts ging.
Ich kann mich bei bestem Willen nicht beschweren.
Es hat mir sehr gut gefallen und natürlich bin ich umso mehr gespannt, was mit Kai passieren wird und den Jungs. Dranzer ist ja so unheimlich nah. Und ich frage mich, wann die anderen Uralten merken, dass ihre Kinder von Dranzer bedroht werden. Wird für die Gute sicherlich nicht allzu lustig.
Die Charaktere von allen triffst du so wahnsinnig gut.
Es macht richtig Freude diese FF zu lesen^^!

Liebe Grüße,

Minerva

PS.: Das ist vielleicht eine Schweinerei, dass dir deine FFs geklaut werden o.O
Ich kann diese Person nicht begreifen. Sie verdient ja nicht einmal Geld damit - was es ja auch nicht besser macht, nur irgendwie nachvollziehbarer. Aber so? Das ist bescheuert und widerlich.
Wenn ich was sehe, sag ich bescheid.


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