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Lichtbringer

Der Fall des Lichkönigs einmal anders...
von

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Die andere Seite des Tisches

Er haßte es, wenn er seinen Schlaf nicht bekam. Aber manchmal gab es Fälle, die duldeten keinen Aufschub. Vor allem, wenn es mit einem möglichen Putsch gegen die Krone zu tun hatte. Wach war er sowieso schon gewesen, der Kampflärm des aufgewiegelten Pöbels drang ja bis in die Oberstadt.

Fallon hatte sich mit einer offenen Droschke durch die immer noch chaotischen Verhältnisse auf den Strassen zum Gefängnis bringen lassen. Und man hatte es doch tatsächlich gewagt, zwei faule Kohlköpfe nach ihm zu werfen, von denen einer sogar noch getroffen hatte! Es bestand wirklich dringender Handlungsbedarf, das Volk war ja völlig außer Kontrolle!

Im dämmrigen Schein der zwei Öllampen auf seinem Schreibtisch rührte Fallon gemächlich in seiner Teetasse und nahm sich dann ein weiteres Mal die schmuddeligen, teilweise mit Blutspuren beschmierten Geständnispapiere vor. Während er las, rümpfte er leicht die Nase. Er haßte es, wenn seine Leute unsauber und schlampig arbeiteten! Aber genausowenig gefiel es ihm, das jeder dieser zwölf befragten Männer von sich behauptete, die Schlägerei begonnen zu haben, wo doch die vier Offiziere unisono erklärt hatten, es sei der Priester gewesen!

Bedächtig legte Fallon die Papiere wieder zu einem akkuraten Stapel zusammen und sah zu dem Gefangenen auf, der kaum mehr aus eigener Kraft stehen konnte. Das er überhaupt noch stand, nötigte Fallon durchaus einen gewissen Respekt ab, die meisten anderen wären in diesem Stadium längst zusammengebrochen und hätten ihr eigen Fleisch und Blut an die Schatten verraten. Dieser hier hatte nicht ein Wort gesagt.

Er war ein zweifelsohne ein Nordländer, groß und blond, dem das Priestergewand genausogut stand wie Fallon der Reifrock seiner Großmutter. Und irgendwie war da was, das Fallon vertraut vorkam. Aber so sehr er auch nachdachte, er konnte es nicht greifen. Und das ärgerte ihn fast noch mehr als die Tatsache, daß er diese Nacht keinen Schlaf bekommen würde. Er setze sich seine runde Nickelbrille auf die Nase, nahm das Dokument auf, das neben dem Stapel der Geständnisse lag und las.

„Widerstand gegen die Staatsgewalt, tätliche Angriffe gegen Offiziere seiner Majestät, Vortäuschung einer falschen Identität und damit verbundene Amtsanmaßung in einem besonders schweren Fall – aber vor allem Verdacht auf Volksverhetzung und damit verbundene Konspiration gegen die Krone.“

Fallon sah auf, schob seine Brille von der Nase und lehnte sich zurück.

„Eine recht beeindruckende Liste. Da hast du dir ganz schön was eingebrockt. Und dein Schweigen macht es nur noch schlimmer.“

Wieder legte er eine kleine Kunstpause ein und beobachtete sein Gegenüber.

„Wir wissen doch beide, daß du kein Priester bist. Deine Hände und dein Körperbau verraten dich. Du hast in deinem Leben weitaus öfter eine Waffe in den Händen gehalten als ein Gebetbuch. Bursche, du bist noch verdammt jung – mach’ es dir doch nicht so schwer und versau’ dir dein Leben nicht.“ Nicht, daß Fallon wirklich Mitgefühl empfand. Wer hier stand, hatte immer einen Grund. Dennoch versuchte er sich wie immer an einem gütigen Lächeln, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen.

„Du kannst es sofort beenden, es muß nicht so weitergehen. Du zögerst das Unvermeidliche nur hinaus, denn du wirst irgendwann reden. Jeder tut das. Sag’ mir, wer du bist und wer wirklich hinter diesem Aufstand steckt. Du bekommst einen Heiler, ein warmes Essen und einen fairen Prozeß. Dein Leben kann weitergehen.“

Der Gefangene schwieg. In dem Gesicht spiegelten sich mühsam unterdrückter Schmerz und Erschöpfung, aber kein Hinweis auf die Wirkung seiner Worte. Die Augen schienen einfach durch ihn hindurchzusehen. Einer von denen also.

Wenn Fallon nach der ersten Befragungsrunde durch die Verhörexperten seine barmherzigen Worte sprach, brachen die meisten unter Tränen zusammen und sagten im bereitwillig alles, was sie wußten. Dann gab es die besonders Harten. Das ging dann noch ein, zwei Runden weiter, bis auch diese schließlich einknickten. Und es gab diejenigen, die vor der Konsequenz ihrer Worte noch größere Furcht hatten als vor den Schmerzen seiner Folterknechte. Die waren ein Problem. Und sein Gegenüber schien nicht zu den Harten zu gehören.

Fallon seufzte innerlich. Es würde eine lange Nacht werden.

Er stand auf, schob seinen Stuhl nach hinten, nahm seinen Gehstock mit dem Silberknauf und ging gemächlich um den Schreibtisch herum. Direkt vor dem Gefangenen blieb er stehen.

Obwohl dieser einen Kopf größer war als er, machte er sich keine Sorgen um seine Sicherheit. Das Rascheln der beiden Gefängniswärter an der Tür hingegen zeugte von weniger Zuversicht. Aber Fallon wußte, wann er aufstehen konnte und wann jemand trotz der Ketten versuchen würde, ihn anzugreifen.

„ Du hattest sicher einen guten Grund für das, was du tatest, aber was immer geplant war, es ist gescheitert. Wenn das Volk sich gegen die Obrigkeit auflehnt, folgen Chaos und Anarchie auf dem Fuße. Das kann ich nicht zulassen und deswegen ist es meine Pflicht, die Ordnung wiederherzustellen.“

Der Gefangene starrte über ihn hinweg. Der Versuch, seinem Blick auszuweichen, amüsierte Fallon beinahe ein wenig. Die meisten versuchten zunächst trotzig, seinem Blick zu begegnen und begriffen erst im Laufe des Verhörs, daß ihre Augen sie bereits verraten hatte, bevor sie überhaupt den Mund aufmachten. Dessen war sich dieser hier offenbar bewußt, denn er hatte von Anfang an vermieden, ihn anzusehen.

Langsam ließ Fallon den silbernen Knauf seines Gehstocks über die Brust des Gefangenen gleiten und stoppte genau zwischen den Schenkeln.

„Priester, hm? Wenn ich mich recht erinnere, legt ihr vor der Ordination ein Keuschheitsgelübde ab.“ Er zog den Knauf wieder zurück, schüttelte den Kopf und fuhr mit einem kurzen, leisen Lachen fort. „Möglicherweise tun wir dir damit noch einen Gefallen.“ Den Gehstock in auf dem Rücken verschränkten Händen hin und herwippend, ging er langsam um den Gefangenen herum.

„Nein. Nein, ich denke, wir fangen mit den Fingern an. Einem nach den anderen schälen wir ganz gemächlich Haut und Fleisch ab, bevor wir den Knochen durchsägen. Bis du nie wieder eine Waffe wirst führen können.“

Mit den letzten Worten stand er wieder vor dem Gefangenen und sah auf. Und obwohl die starre Mimik des Gefangenen unverändert schien, sah er es. Das kurze Blitzen, das für einen Moment den Ausdruck der Augen veränderte. Ein feines, zufriedenes Lächeln zuckte in Fallons Mundwinkeln. Vielleicht würde es doch keine so lange Nacht werden.
 

Und er sollte recht behalten. Zumindest, was die Nacht anging. Antworten allerdings bekam er keine. Kurz nachdem die Gefängniswärter den Gefangenen fortgebracht hatten, waren vier dunkel gekleidete Männer gekommen, allesamt Legaten der Kirche, von denen Fallon sogar zwei recht gut kannte. Sie hatten nach dem Gefangenen verlangt und ihn ohne ein weiteres Wort der Erklärung mitgenommen.

Sollte er sich so geirrt haben? War der junge Mann wohlmöglich tatsächlich ein Priester? Fallon hielt es nach wie vor für ausgeschlossen. Da steckte etwas anderes dahinter. Aber die Situation hatte sich jetzt grundlegend geändert.

Am kommenden Morgen ließ er alle die, die mit in die Massenschlägerei verwickelt waren, frei. Alle, mit Ausnahme des Mädchens. Er wußte, daß sie unschuldig war. Aber es waren Soldaten des Königs gewesen und die Autorität der Krone durfte niemals angezweifelt werden. Es gärte schon lange im Sumpf der Stadt, nachdem König Terenas sich immer mehr zurückgezogen und seinen Beratern das Feld der täglichen Regierungsgeschäfte überlassen hatte. Früher einmal hatte Fallon tatsächlich Recht gesprochen. Nun sorgte er nur noch für Ruhe. So verurteilte er das Mädchen wegen Diebstahls und Körperverletzung und ließ ihr, wie das Gesetz es vorschrieb, die Hand abschlagen. Die Sicherheit des Reiches mußte unter allen Umständen gewahrt werden.
 

Fallon rührte in seiner Teetasse. Das feine Porzellan wirkte auf dem grob zusammengezimmerten Plankentisch in der zugigen Hütte wie ein Fremdkörper. Zivilisation war das, was den Menschen vom Ork unterschied. Er lehnte sich zurück, hob die Tasse an seinen Mund und genoß einen tiefen Schluck des heißen, rötlichen Getränks.

Ein eisiger Windzug wehte durch die Ritzen der mit Pergament bespannten Fenster der Baracke und ließ die Flammen hinter dem Glas der Öllampe flackern. Im Gegensatz zu den dürftigen kleinen Kanonenöfen der Kuppelzelte hatte die Baracke immerhin einen gemauerten Kamin, was für einen gewissen Komfort sorgte. Dennoch steckten Fallons Hände, die die heiße Teetasse umschlossen, immer noch in den abgeschnittenen Wollhandschuhen. Richtig warm wurde es hier nirgends.

Das Horn hatte noch nicht zur achten Stunde geblasen und er war selbst ein wenig erstaunt, wie schnell sie die Neuankömmlinge untergebracht hatten. Sie hatten mit über dreißig Mann jeden einzelnen Namen aufgelistet. Trotz einiger Proteste war es ihnen gelungen, für alle Männer und Frauen eine Unterkunft zu finden, auch wenn viele jetzt etwas enger zusammenrücken mußten. Fallon setzte die Teetasse ab, nahm die Listen vom Tisch und überflog die Namen. Es verwunderte ihn nicht, zu sehen, daß die meisten der Neuankömmlinge Landsleute aus Lordaeron waren. Das System dahinter war mittlerweile offensichtlich. Nachdenklich schichtete er die Listen wieder zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Viele der Namen würde er in den kommenden Tagen durchstreichen müssen. Den Optimismus der Heerführer bezüglich der nahenden Schlacht konnte er nicht teilen.

Seid er in die Dienste des Königs getreten war, hatte er für das Reich gelebt, was sich auch nach seiner Entlassung nicht geändert hatte. Selbst wenn sie den Lichkönig besiegen würden – diese Schlacht würde der endgültige Untergang von Lordaeron sein.
 

Zwei Tage nach der Urteilsvollstreckung an dem Mädchen standen zwei bewaffnete Gardisten vor seiner Türe. Man hatte ihn in den Palast bestellt. Und das es sich bei den Gardisten um keine Ehrengarde handelte, war Fallon vom ersten Moment an klar.

Angehörige der Kirche genossen gesetzliche Immunität und die hatte er ignoriert. Irgendwie hatte er geahnt, daß die Sache mit dem Priester noch ein Nachspiel haben würde. Er war nach wie vor überzeugt, daß der junge Mann kein Priester gewesen war, zudem hatte er Erkundigungen eingeholt, bevor er mit der Befragung hatte beginnen lassen. Von einem Bruder Ademar hatte man in der Kirche offenbar nie etwas gehört. Dennoch mußte ihn irgend etwas mit der Kirche verbinden, sonst hätten sie ihn nicht geholt.

Er würde sich dafür verantworten, auch wenn er sich in keiner Weise etwas vorzuwerfen hatte, denn er hatte getan, was er tun mußte.

Man führte ihn in einen kleineren, schlichten Arbeitsraum des Palastes und ließ ihn dort warten. Schräg in der Ecke vor der gegenüberliegenden Türe, die zweifelsohne verschlossen war, stand ein mächtiger, aber schmuckloser Schreibtisch aus Kirschbaumholz vor einem ledergepolsterten Stuhl. An der Wand darüber hing ein Gobelin mit dem königlichen Wappen. Die Schritte der Gardisten entfernten sich nicht von der Tür, also standen sie Wache. Die Lage war tatsächlich ernst. Nach so vielen Jahren nun auf der anderen Seite des Tisches zu stehen war für Fallon eine ganz neue Erfahrung, die er mit einer gewissen Faszination auf sich wirken ließ. Er wußte nicht, wie sein Leben nach diesem Tage aussehen würde oder ob es überhaupt noch ein Leben nach diesem Tage gab. Trotzdem war er erstaunlich gelassen.

Er hörte, wie es im Schloß der gegenüberliegenden Türe knackte, dann wurde sie geöffnet. Ein Gardist hielt den Türflügel auf und ein schlanker, silberbärtiger Mann in einem schlichten Wams trat ein. Fallon stutzte kurz, dann verbeugte er sich tief. Mit seiner Majestät selbst hatte er wirklich nicht gerechnet.

Der König hatte sich mittlerweile hinter dem Schreibtisch niedergelassen und sah Fallon mit seinen blauen Augen forschend an. Es war Jahre her, daß Fallon den König getroffen hatte. Er war alt geworden. Und er sah müde aus. Die ständigen Querelen der Adligen sowie die Eskapaden seines Sohnes, von denen man immer wieder hörte, hatten offenbar ihre Spuren hinterlassen.

Für eine Weile hing eine bis zum Zerreißen gespannte Stille in dem kleinen Raum, während Fallon und der König sich schweigend ansahen. Etwas in Fallon drängte ihn, das Wort zu ergreifen.

„Ich bedauere den Vorfall mit dem Priester, aber angesichts der Umstände schienen mir die Maßnahmen als geboten. Es bestand der dringende Verdacht, das er ein Aufwiegler ....“

Der alte König winkte ab. „Es geht nicht um den Priester. Der junge Novize hat sich höchst ungebührlich verhalten, weswegen die Kirche keinerlei Anschuldigung euch gegenüber erhebt. Es geht um das Mädchen“

Fallon war ehrlich verblüfft. An die kleine Dirne hatte er gar nicht mehr gedacht.

Terenas seufzte. „Ich erinnere mich an einen jungen, motivierten Mann, dem Gerechtigkeit über alles ging. Wann habt ihr aufgehört, Recht zu sprechen, Egmunt Fallon?“

Es stimmte. Im Falle des Mädchens hatte er reine Willkür walten lassen. Und damit gleich mehrere Gesetze auf einmal gebrochen. Der Blick des Königs verriet ihm ganz klar, daß dieser kein Verständnis für die Erklärung haben würde, daß es schon längst nicht mehr um Recht ging. Das es nur noch darum ging, die Ordnung im Reich zu wahren um die Krone zu schützen. Er sah den König ruhig an. Es gab sowieso nichts mehr zu verlieren.

„Als ihr aufgehört habt, der König des Volkes zu sein.“

Fallon wußte nicht genau, was er als Reaktion seitens des Königs erwartet hatte – aber mit Sicherheit nicht dieses nachdenkliche Nicken.

„Ihr habt recht, Fallon. Ich habe mich in den letzten Jahren viel zu wenig um die Belange meines Volkes gekümmert. Und die, die sich hätten kümmern sollen, kümmerten sich in erster Linie um sich selbst. Ich verstehe gut, was ihr tatet und weiß sehr wohl, daß ihr bei allem stets die Sicherheit des Reiches im Sinn hattet. Billigen kann ich es nicht.

Aber werde ich euch nicht verurteilen. Denn auch ich trage meine Schuld an dem Leid Unschuldiger.“

Terenas hatte sich im Stuhl zurücksinken lassen. Fallon, ein wenig überrascht von der Entwicklung des Gespräches senkte für einen Moment respektvoll den Blick. Der König mußte die siebzig bereits überschritten haben und obwohl seine Augen in der Tat müde wirkten, hatte Fallon etwas in ihnen entdeckt, was ihm vorher entgangen war. In ihnen brannte immer noch ein jugendliches Feuer. Oder brannte es wohlmöglich wieder?

„Recht werdet ihr in meinem Namen allerdings nicht mehr sprechen. Ihr werdet eure Akten der letzten zehn Jahre in den Palast liefern, denn die Krone wird jedem, der von euch fälschlich verurteilt wurde, eine Entschädigung zahlen.

Ihr seid ein intelligenter Mann, Fallon. Ich bin sicher, ihr werdet auch weiterhin gut für euren Lebensunterhalt sorgen können. Deswegen werdet auch ihr zahlen. Das Mädchen, das durch euch ungerechtfertigter Weise seine Hand verloren hat, wird von euch eine lebenslange Rente bekommen. Das wird ihr die Hand zwar nicht zurückbringen, aber es wird ihr Leben ein wenig erleichtern. Und euch wird es immer wieder an unser Gespräch erinnern.“

Der König erhob sich und zum ersten Mal glitt ein leichtes Lächeln über sein Gesicht.

„Es mag vielleicht eine gewisse Befriedigung für euch sein, wenn ich euch sage, daß ihr einen Teil dazu beigetragen habt, daß sich von nun an einiges ändern wird. Zum Guten, wie ich hoffe. Ihr habt einen König daran erinnert, daß er nicht ein Land regiert, sondern Menschen.“ Mit diesen Worten verließ Terenas den Raum und der Gardist schloß die Türe hinter ihm.
 

Der Klang eines Hornes schreckte Fallon aus seinen Erinnerungen hoch. Es passierte in letzter Zeit häufiger, daß seine Gedanken in die Vergangenheit abschweiften. Ja, es änderte sich tatsächlich einiges in Lordaeron, insbesondere in der Hauptstadt. Gesetzte wurden geändert, drakonische Strafen wie die Amputation von Gliedmaßen abgeschafft und die Folter verboten. Vor dem Gesetz schienen wieder alle gleich.

Darüber hinaus wurden in der Unterstadt Strassen befestigt, mehrere Heilerhäuser eingerichtet und Schulen gebaut. In den Armenhäusern wurde großzügig Speisung verteilt und wer erwischt wurde, das er Arbeiter in sklavenähnlichen Verhältnissen schuften ließ, mußte mit einer empfindlichen Strafe rechnen. Eigentlich hätte es der Beginn einer neuen Epoche sein können.

Aber der junge Novize ließ Fallon nicht los. Er konnte nicht akzeptieren, daß er sich so geirrt haben sollte, also stellte er eigene Nachforschungen an. Und stach dabei in ein Wespennest.

Als er die Zusammenhänge verstand, war es bereits zu spät. Der Kronprinz und der Reichsmarschall waren schon auf dem Weg nach Stratholme und die Katastrophe nahm ihren Lauf. Den Novizen hingegen hatte der Erdboden verschluckt.

Fallon seufzte leise, nahm noch einen letzten Schluck Tee, dann stellte er behutsam die Tasse beiseite. Es klopfte. Der Richter nickte leicht. Er schätzte es, wenn seine Besucher pünktlich kamen.
 

Mißmutig eilte Mathis, die Hände in den Taschen vergraben, auf die Gefängnisbaracke zu, in der der Richter Quartier bezogen hatte. Wenn Menschen so eng aufeinanderhockten, kam es zwangsläufig immer mal wieder zu Reibereien, meist unter Alkoholeinfluß und so hatte man die Baracken gebaut, um Streithähne ausnüchtern und kleinere Bagatellvergehen ahnden zu können. Schwerere Fälle wurden in die Verliese der Burg gesperrt.

Eigentlich war Mathis recht stolz auf seine Arbeit. Aus ineinandergekeilten, mit Schiffsteer abgedichteten Baumstämmen hatte er auf einem massiven Steinsockel ein flaches Gebäude mit zwanzig kleinen Zellen entworfen. Wer daraus entkommen wollte, mußte sich schon etwas einfallen lassen. Daneben gab es noch einen beheizbaren Wachraum sowie den Raum des Richters, von dem aus dieser über die Ordnung im äußeren Ring wachte. Und was kaum einer wusste - die Baracken hatten sogar einen Keller. Mathis hatte das Gebäude auf einer kleineren, natürlichen Kaverne errichten lassen.

Gerne ging Mathis hier allerdings nicht hin. Und schon gar nicht heute. Jaelle, Golofin und die anderen feierten jetzt im ‚Hängenden Prinzen’, außerdem hatte es unbestätigte Gerüchte gegeben, daß Niamanee wieder aufgetaucht sei. Die Musik und das Lachen aus dem Gasthaus verhallten langsam hinter ihm. Um wie vieles lieber wäre er jetzt dort gewesen als nun dem Richter gegenüberzusitzen.

Die meisten respektierte ihn und die Arbeit, die er hier tat. Aber es gab wohl kaum jemanden, der ihn mochte. Viele, die dereinst aus Lordaeron- Stadt geflohen waren, hatten die Unruhen damals nicht vergessen. Böse Stimmen behaupteten sogar, Richter Fallon habe den jungen Ademar auf dem Gewissen, da man ihn nie wieder gesehen hatte. Das wiederum glaubte Mathis nun nicht, aber auch er hatte es sehr bedauert, das der junge Novize Lordaeron hatte verlassen müssen. Er persönlich trug dem Richter allerdings nichts nach. Die Dinge waren halt so wie sie sind.

Vor der schweren Holztüre angekommen holte Mathis noch einmal tief Luft und klopfte.

Von innen ertönte die nasale Stimme des Richters. „Kommt herein, Steinmetz, die Türe ist offen.“

Zögernd trat Mathis ein und deutete eine leichte Verbeugung an. Fallon, der immer noch hinter seinem groben Arbeitstisch saß, wies auf den Schemel, der davor stand.

„Setzt euch, Godefrey. Mehr Komfort kann ich euch leider nicht bieten. Aber vielleicht möchtet ihr ja einen Tee.“

Mathis nickte dankend und Fallon erhob sich, ging zu dem schmalen Schrank an der Wand und holte eine weitere Tasse aus zartem, weißem Porzellan hervor. Er legte ein kleines, silbernes Sieb auf, löffelte aus einer silbernen Dose einige Teekräuter hinein und goß daß Ganze mit heißem Wasser aus dem Kaminkessel auf. Dies tat er mit so akkuraten Handgriffen, das Mathis gar nicht anders konnte, als ihn fasziniert zu beobachten.

Nachdem Fallon dem Tee noch einen Löffel groben Zucker hinzugefügt und umgerührt hatte, schob er Mathis die dampfende Tasse hin, der sie beinahe schon ehrfürchtig ergriff.

Während Fallon sich ebenfalls noch eine weitere Tasse Tee aufbrühte, begann er zu sprechen.

„Wißt ihr eigentlich, worum es hier geht, Godefrey?“

Mathis verstand die Frage nicht ganz. „Ich...ich denke, es geht um den ermordeten Magier.“

Fallons Mundwinkel zuckte für einen kurzen Moment nach oben. „Worum es hier in Nordend geht.“

Was für eine banale Frage. Nur stellte der Richter niemals banale Fragen. Mathis beschloß, lieber etwas vorsichtig zu sein. „Wir sind hier, um den Lichkönig zu vernichten.“

Fallon nickte. „Ja, so sieht es aus. Aber habt ihr euch schon einmal gefragt, warum hier so viele Menschen aus Lordaeron zusammengekommen sind?“ Seine Stimme hatte einen leicht provozierenden Unterton.

Mathis fühlte sich ein wenig vorgeführt. Irgend etwas wollte Fallon von ihm, aber er begriff nicht, was. Zumal die Antwort auf die Frage nun wirklich offensichtlich war.

„Der Vatermörder auf dem Frostthron hat mit seiner verfluchten Geißel unser Land genommen und zerstört. Wir wollen Vergeltung!“

Der Richter nickte nachdenklich. „Ja, die Propaganda hat wirklich gut funktioniert, nicht wahr?“

Mathis fühlte sich überfordert. „Was hat das denn nun mit dem Mord zu tun? Deswegen bin ich doch hier, oder?“

Jetzt schüttelte Fallon den Kopf. „Nein, Godefrey. Deswegen habe ich euch nicht kommen lassen.“

Jetzt war Mathis vollends verwirrt. Und langsam auch verärgert. „Ich bin nur ein einfacher Mann, Richter Fallon. Frage und Antwortspiele liegen mir nicht. Wenn es nicht um den Mord geht, was wollt ihr dann?“

Jetzt lächelte Fallon. „Euch.“ Er lehnte sich mit seiner Teetasse in den Stuhl zurück.

„Es ist an der Zeit, dass wir uns einmal unterhalten. Was den Mord angeht – wir wissen, warum er geschehen ist. Und wir haben auch eine Ahnung, wer es war und wo er zu finden ist.“

Fallons fahlblaue Augen hefteten sich auf Mathis, der sich gar nicht mehr wohl in seiner Haut fühlte. „Riviel Mooswanderer war einer von uns. Und ermordet wurde er, weil er zuviel wußte. Mathis Godefrey, die wahren Verräter sitzen hier in der Argentumsfeste.“

Am liebsten wäre Mathis aufgestanden und gegangen, von solchen Dingen wollte er eigentlich gar nichts hören. Mathis war ein einfacher – aber kein dummer Mann. Das hinter dem Tod von Riviel weitaus mehr setckte, war ihm vom ersten Moment an klar. Er war sich nur nicht sicher, ob er es auch wissen wollte.

Der Ausdruck auf Fallons Gesicht legte nahe, daß er genau wußte, was in Mathis Kopf vorging. Er rührte in seiner Tasse, trank einen Schluck und begann dann wieder, bedächtig zu sprechen.

„Arthas hat auch Quel Thalas überrollt und zerstört. Aber habt ihr Blutelfen bei dem Schlachtzug der Horde gesehen? Es mögen vielleicht einige Dutzend sein, aber der Großteil der Überlebenden ist damit beschäftigt, das eigene Land wieder zurückzuerobern und aufzubauen. Wir Lorden jedoch bieten unsere letzten Kräfte und Reserven auf um blindlings in einen Krieg auf dem Territorium des Gegners in einer feindseligen Umgebung zu rennen und überlassen unser Land einem Feind, der weder an Ackerbau, noch an Viehzucht interessiert ist.“

Mathis sah Fallon fragend an. Der Richter trank wieder von seinem Tee und ließ seine Worte noch ein wenig wirken.

„Arthas interessiert nicht Land, sondern Menschen. Und die bekommt er gerade in ganzen Schiffsladungen an die Haustür geliefert.“

„Aber die Geißel hat das Land verdorben – da ist nichts mehr mit Ackerbau und Viehzucht. Wir haben kein Land mehr!“ warf Mathis ein.

Fallon lächelte dünn. „So, hat sie das? Wart ihr in der letzten Zeit mal in Lordaeron?“

Mathis, der mit den ersten Schiffen nach Nordend gekommen war, schüttelte den Kopf.

„Abgesehen von den Verlassenen, die immer noch die Ruinen der Hauptstadt für sich beanspruchen gibt es kaum mehr Untote, vielleicht hier und da noch ein paar versprengte Gruppen. Und die Natur hat sich erstaunlich schnell wieder erholt, im letzten Sommer stand das Land wieder fast überall in voller Blüte. Was es aber mittlerweile reichlich dort gibt, sind Truppen aus Sturmwind.“

So richtig glauben konnte Mathis die Worte des Richters nicht. „Und Stratholme?“

Jetzt zuckte Fallon mit den Schultern. „Wurde von den Magiern aus Dalaran versiegelt. Wir wissen so gut wie nichts darüber.“

„Woher wißt ihr das alles?“

„Riviel ist für uns gesprungen. Er war unser Auge in Lordaeron wie auch in Dalaran. Das hat jemandem nicht gepaßt.“

Die Worte von Gorben kamen Mathis wieder in den Sinn. Die Soldaten aus Sturmwind, die angeblich den Gutsherrn Walbing getötet hatten. Daher also die Informationen. Und deswegen hatte er es auch so eilig gehabt, den Richter zu holen.

Mathis hatte sich noch nie um große Zusammenhänge geschert. Er hatte seine Welt immer klein und überschaubar gehalten und das Gefühl, daß er aus ihr hinausgezerrt wurde, gefiel ihm nicht. Gleichwohl war im klar, daß die Türe bereits ins Schloß gefallen war, als er Niamanee getroffen hatte. Wenn das Licht ihn nun auf einen neuen Pfad gesetzt hatte, dann war es halt so. Er sah Fallon nachdenklich an.

„König Varian möchte König von Lordaeron werden? Reicht ihm Sturmwind nicht?“

„Lordaeron ist ein reiches Land, verglichen mit Sturmwind. Der Großteil von Azeroths Eisen, Silber, Kupfer, sogar Gold wird in den Bergen gefördert, das Land besitzt große Waldbestände und fruchtbaren Boden. All dies hat Sturmwind nicht. Das Land mußte bisher vieles teuer aus Lordaeron kaufen.“

Mathis winkte ab. „Das mag ja so sein, wie ihr sagt, aber kein Lorde würde ihn als König akzeptieren.“

„Ich würde auch lieber Fordring auf dem Thron von Lorderon sehen. Ist ein guter Mann. Was aber, wenn es nicht so kommt? Was, wenn es nie vorgesehen war, das es dazu kommt?“

Mathis runzelte die Stirn. „Wollt ihr etwas damit andeuten, daß König Varian mit dem Lichkönig gemeinsame Sache macht?“

Fallons Gesicht blieb ausdruckslos. „Das wäre ein bißchen zu einfach.“ Er stellte seine leere Tasse ab und machte es sich wieder auf dem Stuhl bequem.

„Als König Terenas begann, in jüngster Vergangenheit sein Land zu reformieren, haben nicht alle davon profitiert. Viele der Adligen fühlten sich in ihren Möglichkeiten und vor allem in ihrer Macht beschnitten. Da sind die Magier von Dalaran, denen schon seid geraumer Zeit der wachsenden Einfluß der Kirche auf Lordaeron mißfällt. Und zu guter Letzt haben wir noch einen überambitionierten Kronprinzen, der es gar nicht abwarten kann, seinen Vater zu beerben. Sie alle hatten eine Motivation, einen unheiligen Pakt einzugehen, um ihre Ziele zu erreichen.

Ich habe mich lange gefragt, wie es möglich war, daß der Lichkönig mit seiner Geißel Lordaeron so überrollen konnte. Die einzige, schlüssige Antwort darauf ist- er hatte Hilfe von Innen. Aber keiner der oben genannten wäre alleine dazu in der Lage gewesen.

Ich werde jetzt nicht weiter ins Detail gehen, aber für mich sieht es ganz so aus, als seinen alle, einschließlich des Lichkönigs nur Schachfiguren auf einem Brett. Aber wer ist der Spieler? Genau das versuchen wir herauszufinden. Nur rennt uns leider dabei die Zeit davon.“

Mathis fühlte sich etwas schwindelig und sah auf seine Füße. Bis zum heutigen Abend hatte er mehr oder weniger aufgeregt der kommenden Schlacht entgegengesehen und sich an die Vorstellung geklammert, daß danach alles wieder ins Lot kommen würde. Die Ahnung, daß mitnichten alles gut werden würde hatte sich wie ein eisiges Band um seine Brust gelegt. Er dachte an seine Frau und rief sich die Gesichter seiner Kinder wieder in die Erinnerung. Und er dachte an Jaelle.

Sein Blick wanderte wieder zu Fallon. „Wie kann ich helfen?“

Fallon erhob sich und sah Fallon mit wachsender Zufriedenheit an. „Ich brauche eure bautechnischen Kenntnisse der Königsfeste. Und ich weiß, daß ihr mit einem der Paladine befreundet seid. Bringt ihn zu uns. Wir brauchen die Paladine auf unserer Seite.“



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