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Der große Drache

von

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Kai stand vor dem Spiegel und versuchte sein widerspenstiges Haar zu bändigen. Er hatte sich in einen Anzug gezwängt. Seine Mutter saß auf ihrer Matte und beäugte misstrauisch das Treiben ihres Sohnes.
 

„Warum hast du dich so heraus geputzt?“, fragte sie endlich.

„Das weißt du doch, ich gehe zu Herrn Matanave und erbitte seinen Segen für Noriko und mich!“, gab Kai, leicht ärgerlich, zurück. Er wusste, was jetzt kommen würde.
 

„Lass das doch. Er wird nie zustimmen. Wir sind nicht gut genug für ihn. Sieh dich doch mal um hier. Wir wohnen am Hügel fast ganz oben. Was sagt das über unsere Verhältnisse? Und wo wohnt Herr Matanave? Genau im Zentrum!“, deklarierte sie.
 

Immer dieselbe Laier. Aber Kai würde es trotzdem versuchen! Ohne noch ein Wort zu sagen ging Kai. Er lief den ausgetretenen Weg, den schon seine glorreichen Vorfahren beschritten hatten, als ihr Name noch mit Respekt ausgesprochen wurde, hinunter zur Bushaltestelle. Kurze Zeit später stand er vor dem ultramodernen Hochhaus in der Innenstadt. Familie Matanave bewohnte das Penthouse. Er ging zum Portier.
 

„Ich möchte zu Herrn Matanave.“, stammelte er vom Glanz des Foyers sichtlich beeindruckt. Der Portier musterte Kai überheblich und dieser fühlte sich unterdresset, nein eigentlich nackt.
 

„Haben sie einen Termin?“, fragte er arrogant.
 

„Ja!“, antwortete Kai so selbstsicher wie möglich, doch innerlich zitterte er.

Gelangweilt griff der Schnösel zum Telefon. Er wählte und sprach kurz in den Hörer. Urplötzlich änderte er seine Haltung. Fast schon unterwürfig klang er. Er war sogar aufgestanden und zum Abschluss verbeugte er sich auch noch. Vorsichtig als wäre der Hörer äußerst kostbar, legte er auf. Dann sah er wieder zu Kai und die alte arrogante Haltung kehrte zurück.
 

„Sie können jetzt hoch.“, meinte er von oben herab.
 

Kai bestieg den Turbolift. Der unvermutet einsetzende Druck zwang Kai fast in die Knie. `Das fängt ja gut an.`, dachte er noch, als der Lift schon wieder anhielt. Oben angekommen betrat er einen Raum, der ihm so groß wie sein komplettes zu Hause vorkam. Wertvolle Möbel schmückten ihn. Er war sehr europäisch eingerichtet, ganz anders als sein zu Hause, welches sehr traditionell ausgestatte war. Eine Tür öffnete sich und Herr Matanave kam auf Kai zu. Er trug einen klassischen Kimono, der in dieser Umgebung deplatziert wirkte. Freundlich kam er auf den Jungen zu und lud ihn ein, ihn auf die Dachterrasse zu begleiten. Von hier aus hatte man einen phantastischen Blick über die Stadt. Doch das konnte Kai nicht so sehr beeindrucken, wie es wahrscheinlich geplant war. Er konnte von zu Hause schließlich auch die ganze Stadt überblicken. Herr Matanave begann das Gespräch.
 

„Ist das nicht ein schöner Anblick? Von hier aus kann ich all meine Fabriken und Immobilien betrachten. Ich genieße diese Aussicht. Aber nun zu dir mein Junge. Meine Tochter sagte mir, ichsollte mich unbedingt mit dir treffen. Es wäre sehr wichtig. Na dann mal los. Wenn meine Lotusblüte sagt, es ist wichtig, dann wird es wohl auch so sein.“ Herr Matanave war sehr redselig. Kai holte tief Luft. `Jetzt oder nie`, sagte es sich, doch bevor er auch nur einen Ton herausbekam redete Herr Matanave schon wieder.
 

„Ach wo bleiben nur meine Manieren. Ich habe dir noch gar nichts zu trinken angeboten. Wie wäre es mit einem Remi Martin? Nein? Lieber einen Wein? Ich habe hier eine vorzügliche Auswahl. Einen Chateau Rotschild vielleicht? Oder doch lieber einen Whisky? Ich habe hier einen vierzig Jahre alten Scotch. Den hat mir ein Geschäftsfreund geschickt. Ich wollte ihn für Norikos Hochzeit aufheben, aber was solls, wir können ja schon mal kosten ob er schmeckt. So etwas Edles kann nur jemand genießen, der es auch zu schätzen weiß. Also jemand der nicht auf dem Hügel da drüben sein Dasein fristen muss. Nichts gegen die Leute da drüben, doch wer da lebt hat doch nichts, ist nichts und wird es auch nie zu etwas bringen. Die brüsten sich nur mit ihrer glorreichen Vergangenheit und mit den Heldentaten ihrer Samuraiahnen. Das ist ja auch die einzige Möglichkeit die ihnen bleibt sich mit etwas hervor zu tun.“ Mit einer weit ausladenden Geste wies Herr Matanave auf Kais Heimathügel.
 

„Da ist mein zukünftiger Schwiegersohn aus ganz anderem Holz geschnitzt. Nebenbei bemerkt ist er derjenige, der mir den Whisky geschickt hat. Ich denke die Hochzeit feiern wir nächsten Monat. Noriko wird sich sehr glücklich schätzen so einen Mann zu bekommen.“ Herr Matanave schaute auffällig zufällig auf seine goldene Rolex. „Mein Gott, wie die Zeit vergeht, wenn man sich gut unterhält. Leider habe ich noch einen dringenden Termin, du verstehst, die Hochzeit…“ Gekonnt buxierte Herr Matanave Kai in den Lift. Bevor Kai richtig registrieren konnte, was mit ihm geschah, stand er auch schon wieder in der Lobby. Er rannte in die Nacht hinaus, begleitet von den mitleidlosen, überheblichen Blicken des Portiers. Kai war die ganze Nacht unterwegs. Er wollte nicht nach Hause und in den Augen seiner Mutter lesen können: ich habs dir doch gleich gesagt, auch wenn sie es nie aussprechen würde. Noch hatte er nicht die Nerven dazu. Zu groß war seine Enttäuschung.
 

Warum hatte er nur nichts gesagt, nicht ein Wort war über seine Lippen gekommen. Kai war wütend. Wütend auf Herrn Matanave, der ihn überrumpelt hatte, auf seine Mutter, die es vorhergesehen hatte und am meisten auf sich selbst. Sogar auf Noriko war er sauer. Warum war sie nicht da gewesen? Wenn er sie wenigstens gesehen hätte, vielleicht wären ihm dann die richtigen Worte eingefallen.

Als die Sonne aufging, hatte er die Kuppe des Hügels erreicht, an dessen Flanke sein zu Hause lag. Er saß unter einem großen alten Kirschbaum, der in voller Blüte stand. Von hier aus hatte er einen herrlichen Blick bis hinunter zum Meer.
 

Frühling lag in der Luft. Klar und rein glänzte die See in der Morgensonne. Kais Blick irrte über die Dächer der Stadt. Dort war sein zu Hause. Es sah sogar seine Mutter im Garten werkeln. Ein liebevolles Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Seine Mutter hatte es ja nur gut gemeint, mit ihren Nerv tötenden Ratschlägen. Sie wollte ihm nur Kummer ersparen, das wusste er nun. Kais Blick wanderte weiter. Dort stand das Hochhaus, in dem Norikos Familie residierte und sein Gesicht wurde traurig. Kai ließ sich nach hinten umfallen und lenkte seinen Blick in den Baum über sich. Er wollte lieber nicht mehr an gestern denken. Er genoss die Ruhe und den zarten Duft der Blüten. Wie Schneeflöckchen fielen die filigranen Blütenblättchen herab. Kai träumte in den Tag.
 

Sanft schwebte ein neues Blatt vom Baum. Es drehte sich um sich selbst und tanzte in der warmen Frühlingsluft wie eine Ballerina. Genau so graziös wie Noriko, blitzte es durch Kais Gedanken. Noriko, so zierlich und zart, fast zerbrechlich. Ihre Bewegungen wie Elfenreigen, ihr Körper schlank und biegsam wie Schilf, ihre Haut milchig hell, ihr Haar wie eine Flut, die Augen groß und dunkel, ihre Lippen blutrot wie frisch erblühter Mohn und ihr Duft wie der einer Lotusblume. Sie war so anbetungswürdig und für Kai- unerreichbar. Eine Träne stahl sich in seine Augen und lief in sein Haar. Kais Gedanken eilten zurück.
 

Er hatte Noriko zum ersten Mal im Bus gesehen, gleich an seinem ersten Tag, an dem er zur Uni fuhr. Er war sofort von ihr verzaubert. Beim Aussteigen wurde er von hinten angerempelt und prallte gegen Noriko. Sie machte einen eleganten Ausweichschritt, verlor aber dabei ihre Bücher, die sie im Arm gehalten hatte. Kai fiel auf die Knie. Geschwind schnappte er sich ein paar der verstreuten Bücher und hoffte inständig, dass sein Grinsen nicht all zu dämlich aussah, als er Noriko die Bücher reichte.
 

„Also entweder hat gerade die Erde gebebt oder dein Anblick hat mich umgehaun.“, stammelte er. Noriko sah ihn mit ihren wahnsinns Augen an und dann lächelte sie und für Kai ging die Sonne auf.
 

„Danke.“, hauchte sie: „Ich glaube, es war wohl ein Beben.“
 

Der Zufall wollte es, dass sie einige Kurse zusammen belegten. Der Platz neben Noriko war noch leer, als Kai den Raum betrat. Kai war eigentlich ein echt smarter Typ, nie um einen lockeren Spruch verlegen, doch als er neben Noriko trat, sich höflich verbeugte und den Mund aufmachte, purzelten da höchst seltsame Worte hervor:
 

„Sehr ehrenwerte Dame, würde es als unangebracht erscheinen, wenn ich mich erdreisten würde zu fragen, ob der Platz neben ihnen noch zur Verfügung stünde und ihr meine Gegenwart neben euch ertragen könntet?“
 

Noch während er sprach, fläzte sich ein übler Bursche auf den Platz.

„Fertig mit dem Geseiere? Verzieh dich Mensch, eh ich dir den Hintern versohle!“

Noriko drehte sich zu dem Flegel um. Ihr Blick war eiskalt und tödlich.

„Was denn, Süße?“, tönte der Fiesling. In Kai erwachte der Samuraistolz seiner Vorväter. Mit beiden Händen schnappte er sich den Knaben am Revers seines Sakkos und zog ihn auf die Füße.
 

„Lass mich los, lass mich sofort los!“, brüllte dieser. Kai grinste. Er hatte gesehen, wie Noriko ihre Tasche hinter den Jungen geschoben hatte.

„Aber gern doch.“, antwortete Kai lächelnd und gab dem Typen einen kleinen Stoß. Der verblüffte junge Mann taumelte nach hinten und flog schwungvoll über Norikos Tasche. Drohend blieb Kai stehen.
 

„Ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn sie hier Platz nehmen würden.“, erklang Norikos melodiöse Stimme.

Das war ihr erster Tag an der Uni. Der erste von vielen, in denen sich Kai und Noriko immer näher kamen. Und dann kam die Katastrophe. Norikos Vater hatte Pläne mit ihr. Pläne, in denen kein Kai vorkam. Er war verzweifelt.
 

„Ich wünschte, der große Drachen würde erwachen und alles verändern!“, flüsterte er. Kai bemerkte nicht, dass die Vögel aufhörten zu singen und die Landtiere aufgeregt dem Gipfel zustrebten. Erst als der große Drache grollt und sich schüttelte, kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Entsetzt sah er wie die Häuser zu seinen Füßen einstürzten. Und dann kam eine riesige Welle. Sie begrub alles unter sich, spülte die Schiffe aus dem Hafen, überflutete die Häuser.
 

Ohne Erbarmen radierte sie die Stadt aus. Binnen weniger Minuten war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Alles hatte sich verändert. Endlich löste sich Kais Erstarrung. Er hastete den Hügel hinab. Bis zu ihm nach Hause war es nicht sehr weit. Das Haus lag ja am Hügel ziemlich weit oben. Wie oft hatte er als Kind geflucht, wenn er von der Schule, die am Hafen lag, zurück nach Hause den langen steilen Weg hinauf trottete. Jetzt dankte er Gott dafür. Bis hierher kam die Welle nicht.
 

Endlich erreichte er das Haus. Die eine Seite war stark zerstört. Hastig räumte er Balken bei Seite. Er riss sich die Hände blutig, doch er spürte den Schmerz kaum. Endlich hörte er wage Hilferufe, die Stimme seiner Mutter. Er arbeitete wie besessen. Noch ein Balken, da sah er ein Stück Stoff. Das war eindeutig Mutters Kleid. Kai rief, doch er bekam keine Antwort. Vorsichtig räumte er den Schutt bei Seite. Behutsam zog er seine Mutter aus den Trümmern. Sie war ohnmächtig und blutete.
 

„Alles wird gut, alles wird wieder gut!“, wiederholte er wie eine Beschwörungsformel. Langsam kam sie zu sich. Sie hustete den eingeatmeten Staub aus.
 

„Hast du sie gefunden? Nein? Du musst sie suchen!“, brachte sie zwischen zwei Hustenanfällen hervor.
 

„Wen suchen? Hattest du Besuch?“, fragte er, doch die Hustenattacke raubte seiner Mutter die Worte. Kai wand sich um und begann erneut im Schutt zu graben. Er suchte an derselben Stelle, an der er seine Mutter gefunden hatte, denn er hatte dort auch die Überreste der alten Teetassen gefunden, die nur zu besonderen Anlässen benutzt wurden, gefunden. Es musste also ein besonderer Besuch gewesen sein. Kurze Zeit später sah er eine Hand in Schutt. An einem Finger steckte ein kleiner goldener Ring mit einem kleinen grünen Stein. Das war Norikos Ring, er selbst hatte ihn ihr an den Finger gesteckt. Kai arbeitete mit dem Mut der Verzweiflung bis auch Noriko neben seiner Mutter im Garten unter dem Kirschbaum ruhte. Ihr Atem ging sehr flach, sie blutete aus vielen Wunden und ihr Gesicht war erschreckend bleich.
 

„Sie kam heute Morgen vorbei und wollte dich sprechen. Sie ist eine sehr nette und wohlerzogene junge Frau.“, erzählte Kais Mutter, während Kai Noriko den Schmutz und das Blut aus dem Gesicht wischte. Leicht flatterten Norikos Augenlider. Zögernd, als würde es sie viel Kraft kosten, öffnete sie die Augen, ein kleines Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht und für Kai ging die Sonne auf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Salix
2011-07-03T15:54:37+00:00 03.07.2011 17:54
Kann mich den Beiden nur anschließen. Aber auch schön den gesellschaftlichen Unterschied an den Wohnorten zu verdeutlichen.
Und daran dann das Ende der Story zu knüpfen, raffiniert.
Salix
Von: Futuhiro
2011-06-08T18:24:29+00:00 08.06.2011 20:24
Ich habe es erst heute kommentiert, weil ich erstmal warten wollte, ob das noch weitergeht. Irgendwie war das Ende etwas seltsam für ein Ende. Ich dachte, da kommt noch was. ^^
Sieht nun aber doch nicht so aus. Q___Q
Die Geschichte ist heftig. Und hat irgendwie so viel Bezug zu den aktuellen Geschehnissen in Japan. Find ich klasse. Ist mal eine andere Art, damit umzugehen. Norikos Vater war cool, der hat mir gefallen.
Von:  evil_dime
2011-06-07T09:31:07+00:00 07.06.2011 11:31
Uaaah... krass! 0.0
Ich fand Kais Auftritt bei Norikos Vater sehr, sehr klasse. Der arme Junge hatte so offensichtlich so überhaupt keine Chance. ;D Der 'Drache' dann aber... *schauder* Kai wird sicher nie wieder leichtfertig die Götter um Hilfe anrufen.
Sehr spannende Idee. ^^
- Dime



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