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Namenloser Unterweltensturm

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Namenloser Unterweltensturm

Schweigend trat Dämmerung an den Strand des Vergehens,

Jener alte Bekannte und Zwillingsstern des geröteten Tages,

Den die schaumgekrönten Wellen flüsternd fragten: "Was bringst du uns?

Manchem bereiten wir Empfang, um Vergessenheit anheim zu fallen."
 

Am Ufer des Stroms, getrennt von Diesseits und Jenseits des Erdkreises,

Genaht an die Grenzen der Welt und der ihr zugehörenden Weltenwandler,

Verweilt, entkleidet der sterblichen Hülle, des Menschen Niemand

Und doch Sein, im Vergessen des vormals bedeutenden Namens,

Jeder Wahl beraubt und das Haupt vom Sturm des Todes umkränzt

Wartet er duldsam auf End und Beginn seiner Reise in die Unterwelt,

Da der Schwestern drei ihm gaben und nahmen, was er nahm und verlor.

Die Erste, Klotho geheißen, sponn den Faden des Lebens,

Gewoben aus Erfolg und Verderbnis zugleich, erhöht und erniedrigt,

Ihn sehnen und streben zu lassen nach dem Besten, der Natur verwandt

Auch mit Mitteln der aus innerer Kraft entsprungenen Schlechtigkeit,

Um ihn an das Rechte seines zwiegestaltigen Geistes zu erinnern.

Diesen erwirkte die Zweite durch Zuteilung des Lebensloses,

Auf dass er die Schuld, wenn er selbst nicht zu tragen gewillt,

Lachesis zuweisen konnte, zu urteilen über lastbeschwertes Dasein,

Falls Teil dessen er wurde, was er nicht zu sein und werden begehrte.

Die Dritte, Dunkelste, ward Unabwendbare genannt,

Da des Menschen Ruhm und Ehr, ob geschenkt, geraubt oder erwirkt,

Durch pflichtbewusste Erfüllung der ihr anvertrauten Aufgabe

Allen Taten und Bewegungen der Seele Nichtigkeit bedeutet,

Gefürchtete Atropos, die du zertrennst den einst gegebenen Lebensfaden,

Somit das Werk erst den Wert erlange, den ihm das Wissen zuspricht,

Nichts sei ewig gleich und alles ginge im Wandel unter und ende,

Also der Seele Ewigkeit jedermann im verkehrten Land den Namen stiehlt.
 

Jenem Unbekannten, dem das Lebenslos entwanden die genannten Parzen

Und durch Richtung gen Unterwelt schickten, war keine Rettung,

Panacea nicht, auch kein sonstiges Heilmittel, göttlich oder irdisch,

Dass er nicht zu seiner Zeit den Weg hätte beschreiten müssen.

Schmachumgürtet, gefallen auf des Krieges herrlich Schauplatz,

Lag unter faulem Fleisch des Namenlosen Leib und darbte zwischen

Darnieder geschmetterter Hirnrinde, Eingeweideschmuck zur Zier, denn

Hat Schlachtrausch Blut geleckt, befleckt es stolz mit Tod das Feld.

Was bringt das Heldentum? gestrandet in der Schlucht des Acheron,

Fragt jener, bar der alten Stimme, und bittet Charon um Überfahrt,

Doch kein Zeugnis, keine Münze seiner Augen trägt er bei sich,

Drum ist dem Unterweltenfluss zu schwer die Seel des Überirdischen,

Welchen die Seinen nicht mit Weinen und Klagen dem Staub zurückgegeben.

Vergeblich fleht jener, es kennen keine Glut die Gebeine des Fährmanns,

Übersetzend ein jeden ums andere, der nicht vergessen ward.

Vergessen braucht Erinnerung, was sonstig ist der Mensch?

Wenn nicht mehr als Schattens Traum in den Flügeln eines Fisches

Oder Falters, der nicht weiß, was er einst war.

Ohne Ruhebett im vatermütterlichem Schoß der Erde wurzelt einsam

Hölzern Fußwerk, von der Haut entledigt, abgezogen und verwachsen,

Roher Muskeln Strang sucht am stygischen Ufer nach dem Trank

Der weit entfernten Endlichkeit.
 

Dämmerung sandte Zwielicht über den nebelschwangeren Äther und sprach:

"Den trügerischen Geruch nach Salz vernahm ich ebenso wie ihr,

Und es flüsterte aus den Bewegungen der toten Menschen Glieder,

Als lauschte ich wieder der Brandung des Meeres von alter Zeit,

Als hörte ich den Muschelgesang und sähe die dunkelumschäumten Wellen.

Doch was brachten sie an Land aus vergangenen Tagen, Jahren, Ewigkeiten?

Einst schillernde, nun tote Fischflügel, säumend den Strand des Styx,

Um zu warten auf den Tag des nächsten Meeresherrscherfestes,

Damit das schwarze Ding, das Sätze vergeblich zu beschreiben suchten,

Zumindest einen Namen erhalte, bar des Inhalts zwar, verhüllt allein

Mit der Menge vorgaukelnder Bedeutung eines maskierten Antlitzes."

"Was sprichst du, Dämmerung?", schrien aufbrausend die Wellen. "Verrat!"

Es drang aus jeder Kehle nun reihum dem Meeresgetier entfahren im Chor,

Zum Klingen der splitterbenetzten nackten Ferse und Verse.

"Verrat uns den Namen!"

Und aus dem Raunen formte Schleier aus Leben und Furcht jene Worte,

Stets taumelnd dem Odem des Meeres und der Nacht gefallend:

"Acherontia Atropos", also sprach es und öffnete die Augen der Flügel.

Unlängst schwieg das Lied, es blieb nur das Licht jener Sterne,

Wie Staub abgestreift vom Kleid des bleichschädligen Falters.
 

Warum, verlangst zu wissen du, ich aus dem einsam geformten Wort

Deiner tausendfachen Münder und Zungen, teils gespalten, nicht gewahrte,

dass du des Meeres Kraft verneinst? spricht Wasser doch nur eine Sprache!

Sein Wort heißt Sturm, tosend und taumelnd brechen Namen

An den Klippenklüften und Fugen deines steingesungenen Refugiums.

Ein Sterblicher mag sich nicht auflehnen gegen aller Welten Ursprung,

Heraklitischer Grundstoff und Lebenssaft in den Adern unserer Erde.

Tiamat, Schöpfung fremder Völker, uralte Weise zum Schutze deiner Waisen,

aus deinen Wogen schält sich dorngeschmückt der menschgewordene Krebs

und wagt es, dir zu spotten, drum verschließ die Ohren und horch,

Es klingen die Schwingen der Hoffnung und singen vom Leid der Lebenden.

Nur an diesen Glockenklang gemahnt der Ungläubige, um nicht zu erliegen

Der alleilenden Angst aus schwarzen Flügelaugen im Totenkopfkleide.

Meint er zu strafen, zu siegen, zu leuchten in ferne Gefilde?

So erkennt er nicht, dass seine offenen Hände Mut tragen zu denen,

Die nicht sprechen, weil er selbst sie übertönt, nicht blind sein können,

Da sie trotz der Frage lesen wollen, denn Zuversicht braucht Augen.

Und was er ruft, das ist kein Spott, es ist Erinnerung.

Die Erinnerung an morgen.



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