Konfrontation
Konfrontation
„Ryou! Ryou, nun warte doch mal!“
Eine ganze Weile lief Marik dem Weißhaarigen nun schon hinterher. Inzwischen war er in eine Seitengasse eingebogen. Der Ägypter nutzte die Gelegenheit, schloss außerhalb des Trubels zu ihm auf und hielt ihn an der Schulter fest.
„Jetzt bleib' doch mal stehen! Bitte.“
Ryou drehte sich zu ihm um und sah ihm fest in die Augen.
„Wieso?“
Marik sah zum Himmel auf, dann schüttelte er kurz den Kopf.
„Das ist doch albern.“
„Albern? Albern nennst du das?“, wurde der Ägypter auch sogleich angebrüllt. „Weißt du, wie ich das sehe? Als totalen Horror! Aber dass du das nicht nachvollziehen kannst, ist mir schon klar. Dir hat Bakura immerhin während Battle City beste Dienste erwiesen, nicht wahr?“
„Das ist absoluter Blödsinn. Darum geht es nicht, ich...“
„Du hast verdammt nochmal keine Ahnung! Du bist deinen Parasiten immerhin danach los gewesen. Hast du eigentlich einen Schimmer, was ich anschließend noch alles durchmachen musste?“
„Ryou, halt's Maul!“
Das hatte gesessen. Eigentlich hatte Marik nicht vorgehabt, den Weißhaarigen anzuschreien. Doch anders wäre er wohl nicht mehr zu Wort gekommen. „Du tust mir vollkommen unrecht! Weder hege ich irgendwelche Sympathien für Bakura, noch weiß ich nicht, wie es sich anfühlt, besessen zu sein. Du hast recht, nach Battle City war Marlic, wie er sich jetzt nennt, verschwunden. Dafür habe ich ihn bis dahin seit meinem sechsten Lebensjahr mit mir herum getragen. Und auch, wenn es Odeon gelang, ihn unter Kontrolle zu halten, habe ich verdammt nochmal mindestens genau so gelitten wie du!“
Ryou starrte ihn noch immer völlig perplex an.
„Was ich damit sagen will...“, fuhr Marik schließlich in deutlich ruhigerem Tonfall fort. „Es bringt nichts, davor weg zu laufen. Auch ich hätte nicht damit gerechnet, mich diesem Geist noch einmal stellen zu müssen. Aber nun ist es eben so gekommen. Ich sehe es nicht als... Ironie des Schicksals. Ich sehe es als Gelegenheit, das Ganze endlich hinter mir zu lassen. Damit abzuschließen. Und dasselbe solltest auch du tun.“
Ryou sah ihn noch einen Moment an, als habe er die Worte nicht verstanden. Schließlich senkte er den Blick, als Tränen in seine Augen stiegen, und ließ sich an einer Hauswand zu Boden sinken.
„Das... Marlic und du... das war etwas ganz anderes“, flüsterte er.
„Inwiefern?“, hakte Marik nach.
„Du hast nur unter ihm gelitten. Er hat dir nicht die Augen geöffnet.“
„Was meinst du damit?“
„Verstehst du denn nicht?“, schrie Ryou schon fast wieder. „Ich hab' es eingesehen, okay? Dass ich ohne Bakura verdammt nochmal ein Nichts bin! Er hatte vollkommen recht mit dem, was er immer zu mir sagte. Was war ich denn, bevor er in mein Leben trat? Der brave Streber, der ständig nur von allen herum geschubst wurde! Das hat erst aufgehört, als ich diesen verfluchten Ring bekommen habe!“
Er senkte den Kopf zurück auf die Knie. Die Tränen liefen über seine Wangen. Marik seufzte.
„Aber Ryou. Freundlich und nicht aggressiv zu sein, ist doch keine Schande. Es gibt eben Idioten, und das überall. Gewalt war noch nie eine Lösung, ganz im Gegenteil.“
Der Weißhaarige hob zögernd den Kopf und sah ihn aus verweinten Augen an.
„Hey! Glaubst du wirklich, Yugi und die anderen, mich eingeschlossen, wären mit dir befreundet, wenn du dich so verhalten würdest, wie Bakura? Ganz bestimmt nicht. Sieh' ihn dir doch an. Was glaubst du, warum er so wahnsinnig verbittert ist?“
Er beantwortete die Frage nicht selbst, sondern überließ sie Ryou. Der zögerte einen Moment, gab jedoch schließlich seine Überlegung preis.
„Weil er durch seine Art nie Freunde hatte?“
„Ganz genau“, stimmte Marik mit breitem Lächeln zu. „Weil er nicht einmal den Hauch einer Ahnung hat, was dieses Wort bedeutet. Wirklich Ryou, du bist ein toller Mensch, so wie du bist. Und ich bin echt froh, dich kennengelernt zu haben.“
Marik, der auf die Knie gegangen war, erhob sich und streckte dem Weißhaarige eine Hand entgegen.
„Na, was ist jetzt? Gehen wir in den Palast und sehen nach dem Pharao?“
Ryou wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, dann lächelte er.
„Ja, lass uns gehen.“
Er ergriff die dargebotene Hand und ließ sich von dem Ägypter auf die Beine ziehen. Dann machten sie sich auf den Weg in den Palast.
Alle drei waren ihm gleichzeitig um den Hals gefallen. Nun fand sich Atemu inmitten seiner Freunde wieder. Umringt von den Menschen, die ihm schon so oft aufopferungsvoll zur Seite gestanden waren. Ohne deren Unterstützung es ihm vielleicht das ein oder andere Mal nicht gelungen wäre, sich gegen die Mächte zu behaupten, die ihn auf den Knien sehen wollten. Während Yugi und Joey ihn einfach nur anstrahlten, standen kleine Tränen in Teas Augen. Immer wieder prasselte die Frage auf ihn ein, wie es ihm ginge, und er schlug vor, sich erst einmal in einem der großen Säle des Palastes niederzulassen. Diener brachten Tee und ein wenig Obst.
„Mir geht es bestens, vielen Dank“, beantwortete er schließlich die Frage seiner Freunde. „Was mich eher überrascht hat, ist euer Erscheinen. Was ist geschehen?“
„Wir waren gerade im Park. Plötzlich wurde uns allen schwarz vor Augen, dann haben wir uns in dem Sandsturm wiedergefunden“, erklärte Joey.
„Seltsam. Und ihr seid die einzigen?“, fragte Atemu.
„Nein“, entgegnete Yugi. „Ryou und Marik sind ebenfalls hier. Allerdings hat Ryou ziemliche Panik bekommen, als Mana Bakura erwähnte. Er ist davon gelaufen. Marik kümmert sich um ihn.“
Der Pharao nickte.
„Verständlich. Was ist mit Tristan? Und Duke?“
„Sie waren nicht bei uns“, erwiderte Joey. „Ich glaube nicht, dass sie ebenfalls hier gelandet sind. Hast du zufällig eine Ahnung, wie wir hier herkommen, Alter? Ich meine, wir haben ja schon einige seltsame Dinge erlebt. Aber selbst diese Spiele der Schatten waren manchmal nicht so abgefahren, wie das hier.“
Doch Atemu schüttelte ratlos den Kopf.
„Ich weiß es wirklich nicht. Doch ich kann nicht behaupten, dass es mich stört, euch zu sehen. Im Gegenteil“, fügte er mit einem Lächeln hinzu. „Aber ich kann mir vorstellen, welche Fragen euch plagen. Ihr werdet irgendwann auch wieder zurück wollen.“
Yugi und seine Freunde konnten dies nicht leugnen. Gewiss freuten sie sich, den Pharao wiederzusehen. Doch irgendwann würden sie in ihre Zeit zurückkehren müssen. Wie genau verhielt es sich eigentlich? Lief die Uhr in Domino City ganz normal weiter? Hatte sein Großvater bereits das Verschwinden seines Enkels bemerkt? Und wenn ja, welche Sorgen machten sich wohl auch die Eltern und sonstigen Verwandten seiner Freunde? Der Gedanke bedrückte ihn. Er hatte seinem Großvater schon die eine oder andere schlaflose Nacht beschert. Er hatte dabei jedes Mal ein schlechtes Gewissen gehabt, das sich auch jetzt wieder in ihm breit machte.
„Aber sag, wie geht es dir wirklich?“, meinte Yugi schließlich. „Mana hat uns erzählt, was geschehen ist. Warum Seto Anubis gebeten hat, dich zurück zu schicken. Und warum er sich darauf eingelassen hat, dass auch Marlic und Bakura wieder kommen.“
Atemu nickte.
„Men-nefer hat wahrlich große Verluste erlitten. Vor allem, was Menschenleben anbelangt“, erwiderte er mit deprimiertem Unterton. „Doch bisher hat Caesians Armee keine weiteren Schritte mehr gemacht. Mein Cousin zieht bereits in Erwägung, dass alleine die Gerüchte um meine Rückkehr den Feind dazu bringen würden, abzuziehen. Was natürlich zu wünschen wäre. Nicht, dass ich auf dem Ruhm aus wäre.“
„Aber es wäre doch echt cool, wenn der Kerl seine Sachen von jetzt auf gleich packt, weil du wieder du wieder da bist, oder?“
Atemu konnte sich ein Grinsen auf Joeys Aussage hin nicht verkneifen.
„Natürlich. Aber viel wichtiger wäre mir dabei, dass niemand mehr zu Schaden kommt. Mein Volk scheint in den letzten Monaten genügend durchgemacht zu haben.“
„Aber es ist schon beunruhigend, oder?“, meinte Tea schließlich.Der Pharao musterte sie einen Moment, dann fuhr sie fort. „Ich meine, Mana hat uns erzählt, was genau sich zugetragen hat. Dieser Caesian... irgendetwas scheint bei diesem Kerl nicht mit rechten Dingen zuzugehen.“
„Genau das ist es, was mich an einem baldigen Abzug zweifeln lässt“, stimmte Atemu zu. „Laut den Berichten, die ich vernommen habe, scheint der Strom an Soldaten, die ihn unterstützen, nicht abzureißen. Unsere Späher haben allerdings Weit und Breit keine Krieger nachrücken sehen. Die ganzen letzten Wochen nicht. Es stellt sich also noch immer die Frage, woher er solche Kräfte nimmt. Denn auch seine Partei hat in den Schlachten große Verluste erlitten. Des Weiteren sind viele seiner Soldaten erkrankt oder zumindest stark geschwächt. Da stimmt irgendetwas ganz eindeutig nicht. Zudem erzählte Seto, dass sein weißer Drache von einer Bestie angegriffen worden sei. Da selbst er sein Ka kurz darauf zurück rufen musste, können wir davon ausgehen, dass dieses Wesen wirklich stark ist. Was genau es jedoch ist, konnte mir niemand sagen. Es ist wohl genau so schnell wieder verschwunden, wie es aufgetaucht ist.“
Ein lang gezogenes Schweigen folgte den Ausführungen Atemus.
„Das hört sich gar nicht gut an“, meinte Tea schließlich besorgt. Doch Joey winkte ab.
„Ach, komm schon. Wenn der Kerl nochmal herum stresst, beschwört unser Pharao eben die drei Götter, oder am besten gleich Horakhti und setzt dem ganzen ein Ende.“ Er ballte die Faust und reckte sie in die Höhe. „Hey, wir reden hier von 'dem anderen Yugi'! Unserem königlichen Kumpel Atemu! Wäre doch gelacht, wenn er das nicht auch noch packen würde! Du trittst dem Kerl einfach kräftig in den Hintern und dann überlegst du dir, ob du weiter regieren oder doch lieber wieder deine Ruhe haben willst.“
„Hört sich gar nicht mal schlecht an“, stimmte Yugi mit einem zaghaften Lächeln zu. Atemu erwiderte es. „Aber eines frage ich mich noch immer. Mana meinte, du hättest eine Präsenz gespürt, weswegen sie sich überhaupt in die Nähe des Sandsturmes begeben hat. Was hat es damit auf sich?“
Der Pharao nickte. „Ja, so war es. Ich stand auf einem der Balkone und erblickte das Toben am Horizont. Irgendetwas sagte mir, dass dort jemand sei, der Hilfe benötigte. Jetzt weiß ich auch, warum ich das empfunden habe.“
„Und wieso?“, hakte Joey nach, der kein Wort zu verstehen schien.
„Yugi und ich waren lange Zeit durch ein enges Band verbunden. So etwas verschwindet nicht einfach“, erwiderte Atemu lächelnd.
Schließlich kamen auch Ryou und Marik hinzu. Während der Weißhaarige sein Gegenüber wie immer höflich begrüßte, verfiel der andere gleich wieder in die formelle Anrede des ägyptischen Hofes. Längst hatte sich die Sonne von der Welt verabschiedet, da unterhielten sie sich noch immer. Auch über das, was seit ihrem letzten, gemeinsamen Tag in Domino City passiert war. Nicht viel, wie man sich denken konnte. Der Alltag hatte schneller Einzug gehalten, als ihnen allen lieb gewesen war. Zugleich hatten sie sich zum ersten Mal seit langem gefühlt wie ganz normale, heranwachsende Menschen. Schule, lernen, Parties, Nachmittage im Schwimmbad oder in der Eisdiele... Sie alle waren trotz der bedrückenden Ereignisse, die über Men-nefer hingen wie ein Damoklesschwert, bester Laune. Bis sie plötzlich ein kühles Lachen von der Tür vernahmen, die in den Saal führte.
„Ist das nicht rührend? Der Kindergarten, wie der gute Kaiba immer zu sagen pflegte, ist wieder vereint. Na ja, zumindest größtenteils.“
Yugi brauchte sich gar nicht umsehen, um zu wissen, wem die Stimme gehörte. Dafür schnellte Mariks Kopf abrupt in die Höhe. Er blickte in violette Augen, die seinen so ähnlich waren, und sich in dem, was darin lag, doch deutlich unterschieden. Dieses widerwärtige Grinsen, das eindeutig zu oft auf seinen eigenen Zügen gelegen hatte, feixte ihm entgegen. Die Haare standen wahllos in alle Richtungen ab, wie schon damals. Er hatte sich kein Stück verändert. Lediglich die Kleidung, die nun der hiesigen Zeit angepasst war. Eine übliche, schwarze Tunika umschlang den Körper, während ein violetter Umhang seinen Rücken hinab wallte. Goldene Reife saßen um die Oberarme, sowie um Hand- und Fußgelenke.
„Was willst du? Ich rate dir, uns nicht zu behelligen. Ansonsten ist es mit deiner zweiten Chance ganz schnell vorbei“, meinte Atemu schließlich mit Nachdruck in der Stimme.
„Du hast dich echt dazu entschieden, dem Irren ne' zweite Chance zu geben?“, kommentierte Joey verblüfft. „Das kann doch nicht dein Ernst sein.“
„Ja, wie liebenswürdig unser kleiner Pharao doch sein kann, nicht wahr? Keine Sorge, ich möchte nicht lange stören. Ich wollte lediglich meinem Freund Marik nach so langer Zeit der Trennung einmal 'Hallo' sagen.“
Der Unterton in Marlics Stimme war nicht zu überhören. Sie strotzte nur so vor Hohn. Doch sein ehemaliger Wirt entschied sich, gar nicht groß auf das Geschwätz einzugehen. Sämtliche Fragen nach dem Warum hatte er sich längst aus dem Kopf geschlagen. Zum einen, weil er nicht geglaubt hatte, diese Kreatur noch einmal wiedersehen zu müssen. Zum anderen würde er sowie so keine ernsthafte Antwort darauf erhalten. Es wäre wohl das Beste, ihn so schnell wie möglich abblitzen zu lassen.
„Hallo“, meinte er daher in völlig nüchternem Ton. „Und jetzt zieh wieder ab.“
„Aber, aber. Warum denn gleich so unhöflich? Hast du denn schon die ganzen Jahre vergessen, die wir miteinander verbracht haben?“
„Nein, im Gegenteil.“
„Na also! Dann könnten wir doch bei einem guten Gläschen Wein ein wenig über alte Zeiten plaudern. Was meinst du?“
„Danke, kein Interesse.“
Gerade, als Marlic erneut ansetzen wollte, waren auf einmal hastige Schritte auf dem Gang zu hören. Kurz darauf stürmte Seto an der Reinkarnation des Ägypters vorbei in den Saal.
„Mein Pharao? Irgendetwas geht in Caesians Lager vor sich!“