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Im Schein des An Zhulid

von

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Kapitel 1

Kapitel 1
 

Kalte, schwarze Asche.

Scherben, Splitter, Trümmer.

Inmitten der Ruine, die einst mein Zuhause gewesen ist, stehe ich und wische mir salzige Tränen aus dem Gesicht. Ich frage mich immer noch, wie verdorben man sein muss, um ein Gebäude in Brand zu stecken. Das Haus meiner Eltern stand zwar schon ein paar Wochen leer, aber dennoch gibt es noch lange keinem das Recht, es mutwillig zu zerstören.

Mein Blick fällt auf einen verkohlten Bilderrahmen und lässt die Tränen erneut in mir aufsteigen. Reicht es denn nicht, dass ich meine Eltern verloren habe, musste man mir hiermit auch noch alle meine kostbaren Erinnerungen rauben?

Langsam bahne ich mir einen Weg durch Schutt und Asche und hebe das, was vom Rahmen übrig geblieben ist, auf. Das Foto, das meine Eltern und mich gezeigt hat, ist komplett verbrannt. Den Rahmen kenne ich nur zu gut, es war der, der seit Jahren über dem Kamin gehangen hatte.

Ob des Bildes, das sich vor meinem inneren Auge auftut, muss ich heftig schlucken. Ich weiß noch genau, wie hier alles ausgesehen hat, obwohl ich in den vergangenen vierundzwanzig Monaten kaum noch hier gewesen bin. Dort, wo ich jetzt stehe, befand sich das weitläufige Wohnzimmer, schräg dahinter die offene Küche und zu meiner Rechten stand ein antiker Esstisch, an dem bis zu zwölf Personen Platz fanden. Der alte Mahagonitisch wird mir fehlen, denn er war sozusagen der Dreh- und Angelpunkt unseres Familienlebens gewesen. An ihm haben wir gegessen, geredet, gelacht, diskutiert und gespielt.

Mühsam wende ich meinen Blick ab und wiege mich für einen Moment in der Morgendämmerung.

Es ist Zeit zu gehen.

Ich lasse noch einmal meine Augen über die Ruine schweifen, in denen ich so viele Stunden des Glücks erlebt habe.
 

„Bereit?“, fragt eine dunkle Stimme neben mir.
 

Ich nicke, obwohl ich mich nicht bereit fühle. „Lass uns gehen, Kell“, erwidere ich mit tonloser Stimme.
 

Kell hebt die Taschen mit den spärlichen Überresten auf und sucht meinen Blick. „Mehr wirst du hier nicht finden“, meint er mitfühlend. Sein Blick wandert zu seiner Uhr und ich weiß immer noch nicht, warum er immer wieder so darauf drängt, hier spätestens zur Morgendämmerung – die gerade eingesetzt hat – wieder zu verschwinden.

Doch er hat recht, hier werde ich nichts mehr finden. Wir haben die ganze Nacht die Trümmer durchsucht und das, was noch irgendwie zu gebrauchen ist, befindet sich in den beiden Taschen, die Kell nun in Händen hält.

Um ihm deutlich zu machen, dass ich mich seinem Drängen hin gar nicht widersetzen möchte, gehe ich voraus und nähere mich mit großen Schritten dem schwarzen Van, mit dem Kell hierher gekommen ist.
 

Kell … Ausgerechnet eine mir völlig fremde Person hilft mir, die letzten Überreste des Lebens meiner Eltern zusammenzusammeln. Als er gestern bei mir anrief und mir erklärte, dass er der Sohn von einem einstigen Studienkollegen und alten Freund meines Vaters sei und von eben diesem zu mir geschickt wurde, um mir mit dem Nachlass meiner Eltern unter die Arme zu greifen, war ich zunächst vollkommen irritiert. Doch seine Worte ließen mich ihm immer und immer mehr Glauben schenken, zumal ich nur kurz vorher das Testament meiner Eltern gelesen hatte.
 

Liebste Elea,
 

am liebsten würden wir diesen Brief an dich auf ewig vor dir veschlossen halten, doch es wird der Tag kommen, an dem du ihn überreicht bekommst. Weine nicht zu viel um uns, uns wird es gut gehen, dort, wo wir sein werden, wenn du das hier liest.

Dir wird es seltsam vorkommen, wenn plötzlich Menschen auf dich zukommen werden, von deren Existenz du bis zu diesem Moment nichts ahntest, aber es wird seine Richtigkeit haben.
 

Das Haus ist bereits auf dich überschrieben und auch der Rest wird dir gehören. Wir wissen, dass unsere Hinterlassenschaft bei dir in guten Händen ist.
 

Vertrau immer auf dein Herz.
 

Wir lieben dich.
 

Johanna und Oliver Samara
 

Es werden Menschen auf mich zukommen, von deren Existenz ich nichts ahnte. Kell ist einer von ihnen.
 

„Wir sollten nun fahren.“

Warmer Atem streift mein Ohr und ich zucke zusammen. Seine sanften braunen Augen hinter einer unscheinbaren Brille sehen mich an und bedeuten mir, einzusteigen.
 

Ich trete an ihm und der mir aufgehaltenen Tür vorbei und klettere in den Van. Wenig später nimmt er neben mir Platz und startet den Motor. Schweigend betrachte ich den jungen Mann, der extra aus Norwegen angereist ist und sein Studium für mich unterbrochen hat. Seine dunklen Haare fallen ihm ein bisschen wirr in die Stirn und auf seinen relativ markanten Wangen sitzt ein bisschen Ruß.

Das ist das nächste Rätsel, dessen Geheimnis noch immer vor mir verborgen ist: Wie stand sein Vater zu meinem?
 

„Die Nachricht hat meinen Vater tief getroffen“, hatte er am Telefon gesagt. „Da er aus gesundheitlichen Gründen nicht selbst anreisen kann, hat er mich geschickt. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne seinem Wunsch nachgehen und dich bei der Suche nach unversehrten Erinnerungsstücken sowie bei allem anderen unterstützen. Ich werde dir auch gerne nach und nach all deine Fragen beantworten, aber aus einem bestimmten Grund müssen wir heute Nacht zuerst zum Haus deiner Eltern fahren … also zu dem, was davon übrig geblieben ist“, hatte er leise geschlossen.
 

Keine Ahnung, ob es Schicksal oder Zufall gewesen ist, denn ich hatte ohnhin genau an diesem Tag dorthin gewollt. Mit dem Testament in der Hand hatte ich letztenendes nachgegeben und mich um ein paar Stunden vertrösten lassen.
 

Ich schaue auf meine Hände, die verdreckt auf meinem Schoß liegen. Während sich meine Brust eng zusammenschnürt, versuche ich den Gedanken zu verdrängen, dass ich eben stundenlang die Trümmer meines früheren Lebens durchwühlt habe, mit einer Taschenlampe in der einen Hand, mit bloßen Fingern der anderen auf Asche, Staub, Splittern, Holzbalken und kalten Steinen.

Meine Eltern sind tot. Ihr Haus ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Und ich sitze in einem Van mit einem Mann, der mir einerseits vertrauensselig vorkommt, andererseits aber so viele Fragen aufwirft, dass ich gar nicht weiß, mit welcher ich anfangen soll.
 

„Warum mussten wir eine Nacht- und Nebelaktion starten?“, durchbricht meine Stimme auf einmal die Stille.
 

Er wendet seinen Kopf und sieht mich kurz an, seine Mundwinkel sind von einem kleinen Lächeln umspielt. „Irgendwie habe ich gewusst, dass deine erste Frage eine sein wird, die ich dir nicht beantworten kann.“
 

„Versuch es wenigstens“, fordere ich.
 

Sein Blick wandert zurück auf die Straße, auf der bisher kaum was los ist. „Das würde ich gerne, doch es war eine Instruktion meines Vaters, die er mir nicht näher erklären wollte. Ich habe nur getan, was von mir verlangt wurde.“
 

„Und das soll ich dir glauben?“ Meine Stirn legt sich in Falten und ich sehe ihn unverwandt an. Seine Mimik lässt nicht darauf schließen, dass er lügen würde.
 

„Du hast wohl keine andere Wahl“, meint er leise.
 

„Warum kenne ich deinen Vater nicht?“, füge ich eine weitere Frage nach einer Weile an. Meine Eltern haben Erik Holm nie erwähnt und jetzt sitze ich neben Kell Holm, seinem Sohn.
 

„Auch das kann ich dir nicht beantworten.“ Er wirft mir einen fast schon mitleidigen Blick zu.
 

„Warst nicht du es, der behauptete, mir meine Fragen nach und nach zu beantworten?“ Allmählich bin ich ein wenig gereizt.
 

„Ich bringe dich gerade dorthin, wo du die ersten Antworten bekommen wirst“, ist alles, was er mir in ruhigem Tonfall entgegenbringt.
 

Überrascht schaue ich mich um und realisiere erst jetzt, dass wir die Stadt schon hinter uns gelassen haben. „Wo fahren wir hin?“
 

„Hab' noch ein bisschen Geduld, wir sind bald da.“
 

Ja, ich möchte Antworten. Das ist wohl auch der Grund, warum ich auf einmal gehorsam dasitze und abwarte. Hätte ich allerdings gewusst, dass bald fünfzig Minuten bedeutet, hätte ich nicht nur stur geradeaus gesehen, sondern ihn noch ein bisschen ausgehorcht, selbst auf die Gefahr hin, keine zufriedenstellenden Antworten zu bekommen.

Als er bremst und dann den Motor abstellt, bin ich noch irritierter als zuvor. Wir stehen sozusagen mitten im Wald.
 

„Wenn sich Bäume und Büsche im lauen Wind wiegen, knirscht das Holz und heißt sie willkommen“, raunt er mehr zu sich selbst vor sich hin.
 

„Bitte?“, frage ich nach, doch er schüttelt nur den Kopf. „Wir sind da.“
 

Kaum dass meine Füße den weichen Waldboden berühren und der Wind meine Wangen kitzelt, spüre ich etwas sich in mir regen. Etwas, das sonst nur durch eine heimelige Umgebung in mir wachgerufen wird.
 

Ich fühle mich zuhause.
 

„Auch wenn du dich vielleicht nicht daran erinnerst, du bist als Kind hier gewesen.“ Erst als seine Stimme neben mir erklingt, bemerke ich, dass er sich neben mich gestellt hat. „Und ehe du mich fragst, woher ich das weiß, es hat mir mein Vater erzählt. Er war auch der, der mich angewiesen hat, dich hierher zu bringen.“
 

Laute voller Freude.

Das Plätschern eines Wildbachs.
 

Und plötzlich kann ich mich erinnern. „Die Hütte von Uria!“, stoße ich hervor. „Papa hat sie zumindest immer so genannt, wenn wir früher hier waren. Das ist schon … ewig her.“
 

Ich glaube, ich bin hier seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gewesen.
 

„Die Hütte von Uria … interessant.“

Nachdenklich lässt er seinen Blick umherschweifen.

„Dort entlang.“ Er streckt einen Arm aus und weist auf eine kleine Baumgruppe.
 

In meinem Kopf formt sich ein Weg und ich laufe einfach drauf los. Ich höre, wie mir Kell folgt, doch in Gedanken setze ich immer nur einen Schritt vor den anderen, steige über Äste hinweg, ducke mich unter welchen hindurch, bis ich sie erblicke.
 

„Die Hütte von Uria“, flüstere ich. Jetzt weiß ich auch, woher dieses Gefühl eben kam, als ich aus dem Auto stieg. „Aber wie soll mir dieser Ort Antworten liefern?“, frage ich an Kell gewandt.
 

„Nur gut, dass du den Weg kanntest“, meint dieser nur.
 

Ich sehe ihn kurz stirnrunzelnd an, wende mich dann aber wieder der kleinen Holzhütte zu, die mir viel größer in Erinnerung ist. Damals war ich noch ein kleines Kind, schießt es mir durch den Kopf.

Und ich frage mich, weshalb wir nie wieder hierhergekommen sind.
 

So viele Fragen schwirren mir durch den Kopf. Ob ich hier wirklich Antworten finden werde? Wie soll mir die Hütte mitteilen, wie meine Eltern ums Leben gekommen sind? Wie?



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