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Vierzehn

Sommerwichtel '11
von

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Ernte

"Noch ein Fuß, gut, und jetzt den nächsten. Schön, gleich hast du es geschafft. Nur noch zwei Stufen."

Die Treppen zur Veranda knarrten wie ein großes Tier, das man aus seinem Schlaf geweckt hatte und das sich nun unwirsch grummelnd von einer auf die andere Seite wälzte. Wenn man wusste, auf welche der alten Dielen man seinen Fuß geräuschlos setzen konnte, dann schaffte man es auch auf leisem Weg ins Haus hinein, ohne sämtliche Bewohner zu wecken.

Josh wusste das. Er hatte sich schon einige Male von zu Hause weggeschlichen, um mit seinen Freunden den Unfug anzustellen, den man mit Vierzehn eben so anstellte. Aber das war schon einige Jahre her. Damals war noch alles in Ordnung gewesen.

Damals brachten noch keine fremden Männer die sturzbetrunkene Abby morgens um Vier nach Hause.

Damals wäre es Abby überhaupt nicht in den Sinn gekommen, so viel zu trinken, dass sie ohne fremde Hilfe keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnte.

Damals war Birdie noch ein Baby gewesen, das selbst gerade laufen und sprechen lernte, statt seiner Mutter zusehen zu müssen, wie sie den Weg zu ihrem Häuschen entlang getorkelt kam und kein einziges verständliches Wort mehr über die Lippen bekam.

Damals, als es noch Mama, Josh und Birdie gegeben hatte.

Das Fliegengitter vor der Haustür wurde so rücksichtslos aufgerissen, dass es scheppernd gegen die Hauswand schlug. Dunkles Lachen erklang und dann Abbys helle Stimme, die lallend irgendetwas darauf erwiderte.

Hoffentlich brach sie nicht wieder den Schlüssel im Schloss ab wie beim letzten Mal vor drei Tagen. Das neue Schloss war so teuer gewesen, dass er dafür an seine eiserne Reserve hatte gehen müssen, weil ihr normales monatliches Budget bereits überschritten war. Jetzt fehlte einer der sorgsam zusammengerollten Fünfziger, die Josh von dem Bisschen, das er im Drugstore verdiente, abgezweigt hatte. Bis jetzt hatte er das Geld erfolgreich vor Abby verstecken können, so dass es auf eine für ihn stolze Summe angewachsen war. Doch das lag auch daran, dass er sich nicht mehr von Abbys Weinen und Betteln beeindrucken ließ, wenn sie kein Geld mehr hatte, um es in irgendeiner Bar zu versaufen. Die Zeit war – ebenso wie die schöne – endgültig vorbei.

Gepolter, das vermutlich von umgestoßenen Stühlen herrührte, drang zu Josh hinauf in den ersten Stock. Danach wurde es ruhig im Haus. Und so lange Abby nicht wieder austickte und herum tobte, würde auch für den Rest des Tages weiter Ruhe herrschen, während sie sich den Rausch ausschlief.

Müde schloss Josh die Augen und wartete darauf, dass er selbst wieder einschlief.
 

Beobachtet von einem aufmerksamen Augenpaar, dessen Besitzerin noch zu klein war, um die tatsächliche Szene zu erkennen, die sich vor seinen neugierigen Blicken abspielte, wankten die beiden Gestalten den schmalen Flur entlang und auf die Küche zu.

So weit es sein eigener angetrunkener Zustand zuließ, stützte der Mann die neben ihm gehende Frau, die den Kopf gesenkt hielt, als suche sie den Fußboden nach etwas Verlorenem ab. Beide blieben kurz im Türrahmen stehen, wo die Hand des Mannes suchend über die Wand strich. Ein Fluch kam über seine Lippen, als er wohl das, was er gesucht hatte, nicht finden konnte.

Das Mädchen am Esstisch hielt sich schnell die Ohren zu. Wer fluchte, beschwor damit böse Geister, hatte ihre Mutter ihr einmal eingeschärft. Und böse Geister hatten sie schon genug, obwohl sie selbst ehrlich nie fluchte. Aber jetzt waren sie da und sie hatten ihre Mutter krank gemacht - und Josh auch. Nur dass Josh, anders als ihre Mutter, noch alleine gehen konnte und nicht wütend wurde, wenn Birdie draußen spielte und dabei mal Krach machte.

Josh weinte stattdessen manchmal. Und auch wenn er es nur tat, wenn er dachte, dass ihn niemand dabei sehen konnte, wusste Birdie davon. Schon ein paar Mal hatte sie ihm sagen wollen, dass es eigentlich gar nicht schlimm war, zu weinen, doch Josh wischte sich immer nur schnell die Augen ab und tat, als wäre nichts gewesen. Er nahm sie dann mit in den Drugstore, wo er ihr ein Eis und ein Malbuch mit Stiften gab, mit dem sie sich dann auf die Treppe setzen und warten musste, bis er mit arbeiten fertig war.

Vielleicht hatte all das auch etwas mit den Pfirsichen zu tun, die ihrem kleinen Haus den Namen gegeben hatten, und vor denen sich die Leute fürchteten. Niemand wollte sie kaufen und so fielen die meisten einfach von den Bäumen, sobald sie so reif waren, dass ihre Stängel in dem weichen Fleisch keinen Halt mehr fanden, und faulten im Gras so lange vor sich hin, bis Josh genug Zeit hatte, um sie wegzuräumen.

Birdie mochte diese Zeit im Spätsommer nicht, wenn es draußen heiß war und dieser süßlich-saure Geruch wie eine Regenwolke, die zu schwer zum Weiterziehen war, über ihrem Garten hing. Und sie mochte es nicht, wenn Josh so müde von der ganzen Arbeit war, dass er abends einschlief, ohne ihr erst das Essen warm gemacht zu haben.
 

Artig wartete Birdie, bis der Mann den Weg durch die dunkle Küche zum Esstisch am Fenster hin geschafft hatte. Im Dunkeln war das nicht leicht. Zwar schien der Mond von draußen durch das Fenster hinein und beleuchtete mit seinem kühlen weißen Licht die beiden Erwachsenen, von denen nur einer noch einigermaßen Geradeaus gehen konnte, dennoch lauerten einige Stolperfallen auf dem Küchenboden, welche die beiden erstaunlicherweise alle überwanden.

Mit der schwankenden Vorsicht eines Betrunkenen half der Mann ihrer weitaus betrunkeneren Mutter auf den Stuhl, wo sie gleich nach vorne sackte. Nur knapp schaffte er es, sie festzuhalten, ehe ihr Kopf auf die Tischplatte schlagen konnte. Umständlich nahm er ihren linken Arm, der wie nutzlos an ihrer Seite baumelte, und legte ihn auf die Tischplatte.

Ihre Mutter war wohl auch sehr müde, dachte Birdie, denn sie legte gleich den Kopf auf ihren Arm und schnarchte kurz darauf leise vor sich hin. Der Mann stand noch einen Augenblick wankend da, als überlege er, was er jetzt tun sollte.

Birdie fand, dass er nicht aussah, als hätte er noch viel zu tun.

"Ich habe Hunger", sagte Birdie leise zu dem Mann, der erschrocken auffuhr und das kleine Mädchen, das in seinem zerknitterten Nachthemd am Esstisch saß, ansah, als wäre es ein Geist. Der Mond beschien ihre eine Körperhälfte, während die andere in Dunkelheit lag. Sie sah aus wie eine gespenstische Version eines Harlekins, von dem nur die traurige Gesichtshälfte zu sehen war.

"Verdammt noch mal, Kleines, hast du mich erschreckt!" Der Mann griff sich mit der Linken an die Brust, während seine Rechte haltsuchend nach dem Rückenteil eines Stuhles tastete.

"Josh hat Essen in der Migiowelle stehen, aber das ist jetzt alt und das mag ich nicht mehr essen." Birdie hatte den Kopf etwas schief gelegt und beobachtete den Fremden gespannt, der sie mit weitaufgerissenen, wässrigen Augen ansah.

"Was... was willst du denn... sonst essen?", brachte der Mann nach einigem Überlegen stockend hervor.

Birdie schob ihm die Obstschale hin, die zwischen ihr und ihrer Mutter auf dem Tisch stand.

Der Fremde beugte sich vor, als könne er so besser sehen, was in der Schale war. "Dafür brauche ich aber ein Messer – und Licht."

So elegant wie eine Katze glitt Birdie von ihrem Sitzplatz. Ihre nackten Füße tappten leise über den abgewetzten Kunststoffboden zu der Wand neben der Tür hin. Birdie musste sich zwar ein wenig strecken, aber sicherer als die Hand des Fremden, fand ihre den Lichtschalter auf der Stelle. Gleich darauf flammte die Lampe in der Mitte der Decke auf.

Der Mann schlug sich die Hände vor die Augen und fluchte wieder.

Birdie zog die Augenbrauen verärgert zusammen, so dass sich dazwischen eine steile Falte auf ihrer Stirn bildete. Diese Leute, die ihre Mutter ständig mitbrachte, beschworen all die bösen Geister, die nun in sämtlichen dunklen Ecken ihres Hauses wohnten und sie alle krank machten. Josh hatte Recht gehabt, als er das einmal ihrer Mutter entgegen schrie, als sie sich stritten und nicht merkten, dass Birdie sie beobachtete. Das war das erste Mal, dass sie Josh so böse gesehen hatte. Seitdem sprach er nicht mehr viel mit ihrer Mutter und nannte sie nur noch 'Abby'.
 

"Die Messer darf ich nicht anfassen. Zu gefährlich", belehrte Birdie den Mann altklug und setzte sich wieder an den Tisch. Sie streckte die Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger auf den Küchenschrank.

"Aha", sagte der Mann tonlos, als er verstand. "Sehr vernünftig." Er atmete tief ein und ging dann mit sichtlich beherrschten Schritten zu dem Schrank, wo er eine Schublade nach der anderen aufzog, bis er schließlich in der äußersten die Messer fand. Er setzte sich zu Birdie an den Tisch und nahm einen Pfirsich aus der Obstschale.

"Als ob ich nichts besseres zu tun hätte, als fremden Bälgern den Fraß zuzubereiten", murmelte er vor sich hin und verstummte, als er Birdies fragende Blicke bemerkte. Er seufzte und schüttelte den Kopf.

"Duhu", begann Birdie und wurde gleich darauf von ihrem übelgelaunten Sitznachbarn unterbrochen.

"Mein Name ist nicht Duhu", herrschte der Mann sie unwirsch an, "ich heiße Tom."

Birdie schloss den Mund und sah Tom stumm dabei zu, wie der sich daran machte, den Pfirsich zu zerteilen.

Widerstandslos versank die Klinge in dem weichen Fleisch der reifen Frucht. Klarer, süßer Saft quoll aus dem glänzenden Schnitt und tropfte an der spiegelnden Klinge herab. Die Pfirsiche waren wohl schon sehr reif, dachte Tom noch. Jetzt wusste er auch, woher der säuerliche Geruch gekommen war, als er mit Abby im Arm den schmalen Weg zu ihrem Haus entlang gegangen war. Er erinnerte sich auch an das, was man sich von der ehemaligen Farm erzählte, von der nur noch das Haus und einige Hektar Land übrig geblieben waren, auf denen ein Dutzend Pfirsichbäume standen. Das Haus hieß wohl nicht zu Unrecht 'Sonnige-Pfirsich-Farm'.

"Es sollte wohl eher die 'Faulende-Pfirsich-Farm' heißen..." Tom lachte leise vor sich hin. Er setzte das Messer zum nächsten Schnitt an, um den Pfirsich in Spalten zu teilen, hielt jedoch abrupt inne, noch ehe die Klinge die haarige Haut durchbrechen konnte. Der bis eben noch klare Fruchtsaft, der ihm den Arm bis zu seinem Ellenbogen hinablief, hatte sich getrübt. Mit jedem Tropfen, der aus dem Pfirsich rann, wurde der Saft dunkler und dunkler, bis er schließlich rot, ja, rot wie Blut war.

"Oh-oh", entfuhr es Tom. Er legte den angeschnittenen Pfirsich auf den Tisch und hielt sich seine Hand, die die Frucht gehalten hatte, kontrollierend vor die Augen. Doch die Handfläche war unverletzt, statt wie von Tom erwartet, einen Schnitt quer darüber aufzuweisen.

Toms Blicke gingen wieder zu dem Pfirsich, aus dem der Saft noch immer in diesem bedrohlichen Rot herauslief. "Was ist denn das für eine gottverdammte Scheiße?"

"Das passiert immer", erklärte Birdie Tom treuherzig, der kreidebleich geworden war und mit wildem Blick die rote Pfütze anstarrte, die sich unter der gelben Frucht gebildet hatte.

Tom hob den Kopf und begegnete Birdies großen Kulleraugen, die ihn genau betrachteten. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Ein feiner klebriger Schweißfilm hatte sich auf seiner Stirn gebildet und es schien ihm, als wäre er augenblicklich nüchtern geworden. So etwas irres hatte er noch nie erlebt. Und auf dieses eine Mal hätte er auch verzichten können.

Das Messer rutschte aus Toms schwieliger Hand und fiel klirrend zu Boden. Die Kleine verfolgte jede Bewegung, die er tat. Das passierte immer? Ja? Ja, womöglich hatte sie Recht. So etwas passierte immer – in Horrorfilmen!

Tom sprang auf und riss dabei seinen Stuhl mit, der nach hinten kippte und neben dem Messer aufschlug.

"Mama wird böse, wenn sie das Messer da unten findet."

"Deine Mama kann mich mal am-" Tom verstummte. Kapierte dieses Gör denn nicht, dass das, was mit diesem verfickten Pfirsich passierte, eben nicht normal war? Anscheinend nicht, beantwortete er sich gleich darauf seine stumme Frage selbst. "Weißt du was", sagte er leise zu dem Mädchen, das ihm gebannt zuhörte. "Sag deiner Mutter einfach, dass sie mich bloß nie wieder anrufen soll."

Schweigend sah Birdie zu, wie Tom die Küche verließ, allerdings nicht, ohne sich nicht noch ein paar Mal umzudrehen, als befürchte er, dass sie ihm folgen könne.
 

Die Haustür fiel hart hinter dem flüchtenden Tom ins Schloss.

Birdie griff nach dem angeschnittenen Pfirsich und hielt ihn sich vors Gesicht. "Ich mag die aber nicht so essen", murrte sie und verzog den Mund. Sie hasste die haarige Haut der Pfirsiche. Und sie hasste den doofen Tom, der wie die anderen Leute Angst vor dem roten Saft gehabt hatte. Widerstrebend biss die hungrige Birdie in den Pfirsich und schüttelte sich.

Als ihre Mutter hustete, sah Birdie auf. Abbys Schultern hoben sich wie von einem Krampf geschüttelt und ein Schwall grünlich-gelben Erbrochenem verteilte sich vor ihr auf der Tischplatte und vermischte sich dort mit dem roten Fruchtsaft.

Unbeeindruckt aß Birdie ihren Pfirsich.
 


 

"Wieso bist du denn schon wach?"

"Ich hatte Hunger." Trotzig schob Birdie die Unterlippe vor und warf ihrem Bruder, der mit vom Schlafen zerzausten Haaren im Türrahmen stand und gähnte, ein paar ihrer besten beleidigten Blicke zu. Josh stellte manchmal so dumme Fragen, wie alle Erwachsenen. "Du bist gestern eingeschlafen, ohne mir was zu Essen zu machen", hielt sie ihm streng vor.

Erschrocken sah Josh seine kleine Schwester an, die am Tisch saß und einen halb aufgegessenen Pfirsich in der Hand hielt. Das musste aufhören, dachte er bei sich. Es reichte, wenn einer der beiden einzigen hier noch lebenden erwachsenen Menschen ihrer Familie nicht mehr wusste, was Verantwortung bedeutete...

Josh ging neben Birdie in die Hocke. "Tut mir leid, Schatz", entschuldigte er sich bei dem kleinen Mädchen, das ihn traurig ansah. Er strich seiner Schwester ein paar Haare aus der Stirn und lächelte ihr aufmunternd zu. "Ich tu's nie wieder, versprochen. Und wenn doch, dann weckst du mich auf, okay?"

"O-Kay!" Birdie schlang die Arme um den Nacken ihres Bruders und drückte ihr rundes Gesicht an seinen Hals. "Schau mal, was Mama hat", flüsterte sie mit bebender Stimme.

Josh hob den Blick. Seine erste Besorgnis wich Verachtung, als er seine Mutter sah, die, den Kopf auf der zerkratzten Resopalplatte liegend, am Esstisch saß und nicht einmal mehr mitbekam, dass ihre Haare in einer Pfütze ihres eigenen getrockneten Erbrochenen lagen.

"Hör zu, Birdie, ich bringe dich jetzt nach oben und dann wäschst du dich und ziehst dich an." Josh stand auf und hob dabei seine kleine Schwester mit hoch. Mit Birdie auf dem Arm verließ er die Küche. Hinter ihnen schnarchte ihre Mutter röchelnd vor sich hin.

"Und was machen wir dann?"

Josh spürte wie Birdies kleiner Körper in seinen Armen zitterte. Wie lange hatte sie bloß schon dagesessen und wie groß musste ihre Angst gewesen sein. Er fühlte sich selbst so elend, als wäre er es gewesen, der betrunken heimgekommen war und auf den Tisch gekotzt hatte, an dem Birdie gesessen hatte. "Dann gehen wir was richtiges essen, ja?!"

Birdie nickte stumm und klammerte sich noch ein bisschen fester an ihren Bruder.
 

Angeekelt wischte Josh den Esstisch ab. Er hatte Abby auf die Couch geholfen. Mehr würde er nicht für sie tun. Nicht, so lange sie Birdie ständig so in Angst versetzte. Das scheinheilige Argument, es sei doch eine Krankheit, bei der man ihr helfen musste, zog nicht mehr. Sollte sie schlafen, so lange sie wollte, dabei von der Couch fallen und sich die Nase brechen, oder wieder über das Pfirsichfeld irren und von den Bienen gestochen werden, die die am Boden liegenden Früchte verteidigten; er würde sich nicht weiter um sie kümmern. So langsam hatte er genug davon, Abbys widerliche Hinterlassenschaften wegzuwischen oder Dinge zu reparieren, die sie in ihrem Zustand kaputt machte.

Josh kippte das grün verfärbte Waschwasser in den Abfluss. Er spülte den Eimer aus, warf den Lappen in den Müll und wusch sich sorgsam die Hände. Schnell kontrollierte er, ob seine sauberen Kleider etwas abbekommen hatten.

"Kommst du? Kommst du endlich?" Birdie stand mit falsch zugeknöpftem Kleidchen und schief in den Haaren sitzenden Klammern im Türrahmen und schwang die Sandalen in ihren Händen wie Windmühlenflügel durch die Luft.

Josh lachte bei diesem Anblick und nicht einmal der Gedanke, dass eigentlich Abby hier stehen und über ihre kleine Tochter lachen müsste, konnte ihm etwas von seiner gerade erwachenden guten Laune nehmen. Flink knöpfte er Birdies Kleid richtig herum zu und half ihr dabei, ihre Sandalen an die richtigen Füße zu ziehen und zu schließen.

"Wie groß ist dein Hunger, Birdie?"

"Soooo groß." Birdie beschrieb mit ihren Armen einen großen Kreis in der Luft und lachte hell auf als Josh sie unter den Armen kitzelte.

"Dann muss ich erst mal nachsehen, ob ich überhaupt so viel Geld habe."

"Ich habe auch noch was", rief das kleine Mädchen eifrig und kramte aus ihrer Tasche eine kleine Geldbörse in Erdbeerform. Mühsam bog sie die beiden ineinander verschlungenen Bügel auf und hielt die geöffnete Geldbörse vor Josh.

Josh verzog den Mund nachdenklich und tat als rechne er den Inhalt des Geldbeutels durch. "Ich weiß nicht, ob fünf Käferflügel reichen..."

Erschrocken riss Birdie die Augen auf. "Nur fünf?" Sie sah in den Geldbeutel und zählte dabei leise in falscher Reihenfolge bis Fünf vor sich hin. "Ich habe welche verloren", jammerte sie kurz darauf kläglich. Ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen und ihr kleiner Mund wurde zu einem Halbmond mit nach unten gebogenen Spitzen.

"Ist doch nicht schlimm", beschwichtigte Josh das kleine Mädchen, das kurz davor war, zu weinen. "Ich habe sicher noch genug Käferflügel, dass es für uns beide reicht." Er hob seine Schwester auf den Arm und nahm die Autoschlüssel aus der Schale neben der Haustür.
 

"Oh, Josh, schau mal, wie schön." Birdies Hände umfassten das Gesicht ihres Bruders, der die Haustür hinter sich zuzog, und zwangen ihn dazu, seinen Kopf in Richtung Einfahrt zu drehen.

Unbewusst tat Josh das gleiche wie seine Schwester. Er stand mit offenem Mund da und verfolgte ungläubig die Szene, die sich in der Auffahrt zu ihrem Haus abspielte. Langsam ließ er Birdie hinunter, die ungeduldig auf seinem Arm zappelte und gleich loslief, als ihre Füße den Boden berührten.

Josh folgte ihr in einigem Abstand.

"Josh! Josh, guck mal!"

"Toll, Birdie", erwiderte Josh geistesabwesend und umrundete die antiken Möbel, die jemand mitten in der Einfahrt aufgebaut hatte.

"Du guckst ja gar nicht!", beschwerte sich Birdie, die lachend auf einem wertvoll aussehenden Ohrensessel saß und mit den Beinen baumelte.

"Komm da runter, Birdie, die Möbel gehören uns nicht." Josh überhörte das prompte Gejammer seiner Schwester und machte sich daran, den Verursacher des plötzlichen Möbelsegens zu suchen. Wieso in aller Welt standen hier Sessel, Tische und Schränke in der Gegend herum. Es sah aus, als ob jemand vorhatte, bei ihnen einzuziehen. Was mehr als nur absurd war. Außer Abby hätte... Josh verdrängte diesen Gedanken schnell.
 

Als er um die Kurve kam, sah Josh die Quelle der Möbel vor sich: ein Laster irgendeiner Umzugsfirma stand in ihrer Auffahrt und an dem Rumpeln zu schließen, das aus dem Inneren des Wagens nach Außen drang, war man wohl gerade dabei, die Einrichtung draußen noch zu vergrößern.

"He, hallo!" Josh winkte einem Mann zu, der von der Laderampe sprang und Josh entgegen kam.

"Tut mir leid, dass wir die Möbel hier abstellen mussten, aber wir kommen mit dem Truck nicht um die Kurve." Der Mann machte eine Handbewegung, die alle Möbel einschloss. "Wir tragen natürlich alles rein."

"Warum?"

Der Mann sah Josh befremdlich an. "Wieso 'Warum'? Sollen die Sachen etwa hier draußen stehen bleiben?"

"Nein, sollen sie nicht." Josh strich sich nervös durch seine Haare. "Die Frage ist eher, warum sind sie überhaupt hier?" Der Mann vor ihm schien nur langsam zu verstehen und Josh sah sich genötigt, noch eine Erklärung hinzuzufügen. "Ich glaube, Sie haben sich in der Adresse geirrt."

Einen Augenblick lang herrschte nachdenkliche Stille, in der der Mann Josh zuerst eine Weile mit fragend zusammengezogenen Augen ansah. Er öffnete die Fahrertür des Lasters, nahm ein Klemmbrett vom Fahrersitz und las schnell die eingehefteten Blätter durch.

"Ist das hier nicht die Nummer 2561?"

Josh schüttelte den Kopf. "2561 ist noch ein Stück die Straße rauf." Er zeigte in die Richtung, in der die Straße hinter einem Hügel verschwand. "Es ist das einzige Haus dort oben, Sie können es gar nicht verfehlen."

"Entschuldigen Sie bitte. Wir sind schon so gut wie weg." Der Mann tippte sich mit seinem Zeigefinger an den Schirm seiner Baseballmütze und drehte sich zur Laderampe um. "Fred!", schrie er. "Pack alles wieder ein, wir sind hier falsch!"

Josh griff nach Birdies Hand und zog sie von der Babywiege weg, an der sie, ein Schlaflied singend, gestanden und das Oberteil des leeren Möbels hin und her geschwungen hatte, als läge tatsächlich ein Baby darin, das einschlafen sollte.

"Bekommen wir ein Baby?" Birdie ging neben Josh her und sah ihn mit großen Augen gespannt an.

"Nein, Birdie-Schatz."

"Warum nicht?"

Ein letztes Mal sah sich Josh zu den Möbelpackern um, die gerade die Wiege in den Laster trugen. Die Männer wussten es vermutlich nicht, dachte Josh und spürte einen kurzen Anflug von Wehmut. Eigentlich wussten es nur die Leute, die schon länger hier lebten, aber das gesuchte Haus hatte in der Tat einmal zu ihrer Farm gehört. Es war das Haupthaus gewesen, in dem Generationen ihrer Familie gelebt hatten, in dem Kinder geboren, Alte gestorben und in dem es unzählige schöne Momente gegeben hatte. Aber heute war es auch nur noch eines dieser vielen 'Damals', die es mittlerweile hier gab.

"Waruhum nicht?" Birdie zupfte ungeduldig am Saum von Joshs T-Shirt. Es machte ihr Angst, wenn ihr Bruder so drein sah, wie gerade jetzt. Bleich und mit den Gedanken weit weg. "Warum bekommen wir kein Baby?"

"Weil du selbst noch ein Baby bist, Birdie."

"Bin ich nicht", protestierte Birdie lautstark. Sie hüpfte neben Josh die Einfahrt zu ihrem Haus hoch und kniff ihn in den Rücken. "Bin ich nicht, bin ich nicht, bin ich nicht..."

"Doch, bist du. Jede Familie will nur ein einziges Baby, weil zwei oder drei auf einmal viel zu viel Arbeit machen und alles weg essen, was sie finden können", erwiderte Josh. "Und du machst schon Arbeit für Vier und isst für Fünf. Welche Familie könnte das denn bezahlen?" Er öffnete die Beifahrertür seines roten Pick-Up und half seiner Schwester beim Einsteigen.

Birdies beleidigte Erklärung, es gäbe sehr wohl Familien mit mehr als einem Baby, ging im Lärm des aufheulenden Motors unter.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Poolee
2011-11-02T19:14:53+00:00 02.11.2011 20:14
Es ist, wie ich dir schon gesagt hatte: der Charme, den deine Geschichten durch dein Erzählen haben, ist geblieben.

Du bringst sofort Leben in dein Erzählen, in dem du das Drumherum lebendig machst! Ich höre das Holz der Veranda knarren und ich rieche die Pfirsische. Ich spüre den Saft der Frucht auf meinen Fingern. Es scheinen banale Dinge zu sein, doch sie machen das Ganze wichtig und geben allem die Stimmung und Atmosphäre, die es braucht.

Die Figuren kommen nicht überspitzt oder klischeehaft rüber und da man sich die ganze Zeit mit dem Gedanken beschäftigt, was es denn mit den blutenden Pfirsischen auf sich hat, ist man ganz und gar nicht auf das Ende gefasst!

Ich mag es sehr und auch bei mir ist das Auge nicht ganz trocken geblieben.


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