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Retinnio

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Kutschenfahrt

Er hatte von dem Moment des Betretens des Büros das Gefühl gehabt, dass diese Angelegenheit nicht allzu erfreulich sein würde.

Knapp vier Stunden später fand er heraus, dass sein Gefühl Unrecht hatte. Diese Mission war nicht unerfreulich – sie war geradezu beschissen, wenn man ihm die Wortwahl vergeben konnte.

Keine Minute Schlaf, keinerlei Erholung, nicht mal ein Nickerchen auf der Couch war ihm gegönnt gewesen. Davon, dass er vielleicht etwas von seinem durch den vorigen Auftrag angenagten Herzens regenerien konnte, wollte er mal gar nicht reden.

Durch die wenige ihm verbliebene Zeit war er nur mit Mühe und Not dazu gekommen, seine Sachen zusammen zu kramen, die er für die Mission brauchen würde.

Die Zeit für den Kauf eines Mantels hatte fünf Minuten betragen, weshalb er nun zwar nicht unbedingt den hässlichsten Kartoffelsack erwischt hatte, dafür aber einen, der definitiv NICHT für Temperaturen der Höhenlagen, in denen er sich jetzt befand, gemacht war.

Die Kutsche gehörte ebenfalls nicht zu den Luxusmodellen, war dementsprechend zugig und behielt kein Quäntchen Wärme innerhalb den dünnen Holzwänden, die regelmäßig erbebten und klapperten, wenn die Räder durch eines der vielen – sehr vielen – Löcher in der Straße fuhr.

Das ständige Gelärme war zudem unerträglich. Largo hatte sich schon immer gerühmt, einiges zu ertragen, aber eine Fahrt mit diesem Vehikel war der reinste Horrortrip.

Und er hatte noch gehofft, auf dem Weg zu ihrem ersten Stop etwas Schlaf nachzuholen. Das konnte er nun gründlich vergessen.

Selbst wenn es nicht so laut gewesen wäre, dass schlimmste war immer noch die Kälte.

Dünne Jacke, dünne Wände und dünne Schneedecken draußen auf dem zugefrorenen Boden passten nicht gut zusammen. Ihm war furchtbar kalt. Langsam bekam er das Gefühl, das, sollte die Kutsche weiterhin derartig stark wackeln, seine erfroren Gliedmaßen zerbrechen würden wie ungekochte Spaghetti.

Im Stillen verfluchte er Thunderland, der ihm gegenüber saß und dem die Kälte anscheinend überhaupt nichts ausmachte. Dabei konnte er eigentlich nichts dafür, dass Largo so fror, aber es war immer gut in solchen Situationen, irgendjemanden zu haben, an dem man derartige Gedanken auslassen konnte – solange man sie nicht laut äußerte.

Was Thunderland anging, stand Largo vor einem ziemlichen Rätsel.

Der Mann und sein Ruf waren berühmt und überaus gefürchtet, obwohl er gerade mal 22 Jahre alt war, also nicht viel jünger als Largo selbst.

Der Leichendoktor, so nannten ihn fast alle in und außerhalb des Bienenstocks, ein Mann, der Tierleichen in einem seiner vielen Säcke nur so in sein Labor schleppte und wenn man dem Gemunkel glauben schenken wollte, hatten einige von ihnen menschliche Formen.

Largo schenkte derartigem Gerede in den allerseltensten Fällen Glauben, doch dass der Doktor nicht unbedingt der angenehmste Zeitgenosse war, dass hatte selbst er bis zu dem heutigen Tage angenommen, schon allein von den finsteren Blicken, die er die wenigen Male, die Largo ihn gesehen hatte, in die Menschenmassen warf und unschuldige Opfer mit ihnen aufspießte.

Trotzdem, dass Gespräch das sie ihm Büro von Herrn Moritz geführt hatten, war angenehm erfrischend gewesen – auch wenn er sich nicht sicher war, ob er es Thunderland doch übel nehmen sollte, dass er ihm nicht früher von der zeitigen Abfahrt der Kutsche erzählt hatte.

In einem vergeblichen Versuch sich etwas zu wärmen schlang er sich den Mantel enger um den Körper, während er Thunderland dabei zu sah, wie er sich durch Blätterberge an Notizen wühlte.

Die bereits leicht abgewetztenn Blätter waren vollgeschmiert mit irgendwelchen willkürlich aussehenden Zeichnungen und für Largo unentzifferbaren Hieroglyphenn, die vermutlich Wörter darstellen sollten. Jedes Mal, wenn der Wagen einen besonders starken Ruck machte und die nicht direkt erkennbare Anordnung der Blätter durcheinander brachte, grummelte Largo ärgerlich.

Nach einer Weile sah er genervt auf.

„Deine Zähne klappern“, sagte er in einem Ton, als hätte der Bee das größte Verbrechen seit Menschengedenken begangen.

„Ich hab Gerüchte gehört, nach denen so etwas passiert, wenn einem kalt ist“, schnappte Largo zurück.

„Du hast doch diesen Stofffetzen von Mantel an. Weshalb ist dir dann kalt?“

„Das ist kein 'Stofffetzen'! Und mir wird nun einmal schnell kalt, klar?“

„Hättest du dir halt eben eine dickere Jacke kaufen müssen!“

„Das war nun mal die dickste, die ich in der Kürze auftreiben konnte!“

„Dann hättest du dir halt eben zwei kaufen müssen! Schon mal was vom Zwiebelschalenprinzip gehört?“

„Denkst du vielleicht, ich könnte mit Geld um mich schmeißen, oder was?“

Thunderland seufzte genervt und fing an, in seinem Reisebeutel rumzukramen.

„Da.“ Er warf Largo einen zusammengeballten Batzen Stoff zu.

„Ein Mantel?“, stellte Largo erstaunt fest, als er das biege Stück entheddert hatte.

„Stell dir vor.“ Als Largo ihn weiterhin mit hochgezogener Augenbraue ansah, verschränkte der Doktor verteidigend die Arme vor der Brust.

„Falls du es noch nicht begriffen hast, du sollst ihn anziehen.“

Largo beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen. Ihm war nämlich kalt.

Entgegen seiner anfänglichen Skepsis war der Mantel ein ganz normaler Mantel und wärmte ausgesprochen gut.

„Danke“, sagte er immer noch etwas verblüfft.

„Tch.“ Thunderland drehte den Kopf zur Seite.

„Das ist bloß wegen dem Zähneklappern“, erwiderte er, doch selbst für Largo erschien es doch eine eher schwache Ausrede.
 

Es herrschte dichtes Schneegestöber, als die Kutsche zum Stehen kam. Largo stieg aus und hatte sofort die ganze Brille voller Schneeflocken. Ärgerlich nahm er sie ab, doch auch so blieb sein Sichtfeld dunkel bis auf einen verschwommen Lichtfleck irgendwo links von ihm.

„Lloyd?“, hörte er jemanden über das Heulen des Windes rufen.

Thunderland.

„Hier!“, brüllte er zurück.

Plötzlich wurde er brutal in die Seite gerammt und stolperte rücklings nach hinten. Für einen Moment kämpfte er um sein Gleichgewicht, verlor dann aber und fiel nach hinten in eine Schneewehe.

Er bekam den Mund voller Schnee und hustete. Seine linke Seite fühlte sich an, als wäre er mit vollem Karacho gegen eine Backsteinmauer gelaufen.

„Bist du das da in dem ganzen Schnee?“, kam es von oben. Eine Hand wurde ihm hingehalten und schlug ihm fast die Brille von der Nase, bevor er sie ergreifen konnte.

Als Thunderland ihm mehr schlecht als recht aufgeholfen hatte, wandten sich beide in die Richtung des wärmeverheissenden Lichtes, welches aller Wahrscheinlichkeit die Zielherberge darstellte.

Die kurze Strecke dorthin war beschwerlicher, als sie aussah und als sie endlich ankamen, waren beide vom durch den kniehohen Schnee stapfen außer Atem.

Largos Brille beschlug in dem beheizten Haus sofort. Halb blind folgte er dem dunklen verschwommenen Fleck vor ihm, welcher hoffentlich Thunderland war, in Richtung Tresen.

Langsam klarte seine Sicht auf und die Farbschlieren nahmen Konturen an.

Der vor ihnen liegende Raum war mittelgroß und vollgestellt mit hölzernen Tischen und Stühlen. Die Wände bestanden aus grob behauenem Holz und die wenigen Fenster waren beschlagen und wirkten mehr wie schwarz angemalte Rechtecke ob der lichtlosen Dunkelheit des Schneegestürmes hinter ihnen.

Außer ihnen befand sich niemand im Raum.

„Nicht gerade viel Betrieb“, stellte Largo fest und die Treppe hoch, welche vom Erdgeschoss nach oben verlief. Auch dort oben brannte Licht, genau wie unten, unterstützt durch einen zudem Wärme spendenden Kamin.

„Irgendwer wird schon hier sein“, sagte Thunderland. „Wir müssen sie nur finden.“

„Oben ist niemand.“ Largo sah von dem Gästebuch auf, dass er durchgeblättert hatte. Mit schweren Schritten stieg Thunderland die Holztreppe hinab. „Keine Sachen, keine Leute, kein Nichts.“

„Selbes hier.“ Mit einem Seufzer schlug Largo das Gästebuch zu. „Nicht mal darin steht irgendetwas. Nur weiße Seiten.“

Thunderland schnappte sich eine ihrer Taschen von einer Holzbank und setzte sich zu Largo an einen der Tische in Kaminnähe.

„Nicht mal Kampfspuren. Oder irgendwelche Besitztümer. Oder Essen.“ Geschafft fuhr sich Largo durch die Haare. „Ich halte es für das Beste, wenn wir heute nacht abwechselnd Wache halten. Ich habe keine Lust, im Schlaf umgebracht zu werden.“

„Sofern dich das hier nicht vorher umbringt, stimme ich dir in allen Punkten zu.“ Thunderland stellte zwei metallene Konservendosen auf den Tisch, inklusive passender Metalllöffel.

„Hühnersuppe“, las Largo von dem quietschgrünen Etikett. „Ich glaube nicht, dass ich ausgerechnet an Hühnersuppe sterben sollte.“

Thunderland ließ ein amüsiertes Glucksen vernehmen. „Als Mediziner sollte ich mich eigentlich weigern, so etwas an Lebewesen zu verteilen, aber die Leute beim Bienentsock teilen meine Meinung bedauerlicherweise nicht.“

Largo zog eine Augenbraue hoch. „Es ist doch nur Suppe. So schlimm kann es nicht sein.“

Thunderland antwortete nicht, sondern zog nur den metallenen Dosendeckel ab und tauchte den Löffel hinein.

Largo tat es ihm nach und beäugte leicht misstrauisch den Inhalt der Konservendose.

In einer dunklen, angedickten Brühe schwammen Gemüsebrocken und einige Streifen heller Masse, die wohl gerade Hühnerstückchen spielten.

Probeweise nahm er etwas Suppe auf der Löffel und kostete.

Er konnte förmlich spüren, wie seine Zunge sich kräuselte. Nur mit Mühe hielt er sich davon ab, die vollkommen ranzig schmeckende Suppe nicht wieder auszuspucken.

„Ich hab's dir ja gesagt“, meinte Thunderland leicht selbstgefällig, während er mit dem Löffel in der Dose rührte.

Er strich das Besteck am Rand ab und legte es beiseite.

„Auf dein Wohl“, sagte er ironisch – und leerte die Konserve auf Ex.

Fassungslos sah Largo zu, wie der Arzt den Becher auf einen Schluck leerte.

Mit einem Krachen rammte Thunderland die nun leere Dose auf den Tisch mit genug Kraft, um einige neue Abdrücke in das Holz zu stanzen.

„Urgh...“ Mit einem Stöhnen hielt er sich die Hand vor den Mund, schluckte sichtlich mühsam und lehnte sich dann wesentlich entspannter zurück.

Largo sah ihn immer noch perplex an.

„Das ist der Trick, weißt du. Alles auf einmal reinschütten und dann aufpassen, dass es auch drinnen bleibt.“

„Ahja...“ Largo lugte in seine Dose hinein. Die Möchtegern-Hühnchenteile schienen ihn bei ihren Schwimmrunden auszulachen.

Bevor er es sich womöglich doch noch anders überlegte, nahm er die Dose in beide Hände und setzte sie an die Lippen.

Der erste Schluck war grauenvoll, der zweite ebenfalls und nach dem dritten gab er auf zu hoffen, dass seine Geschmacksknospen irgendwann ihr leidvolles Dasein aufgeben würden, damit er dieses Aroma nicht mehr ertragen musste.

Genau wie Thunderland ließ er seine Dose auf den Tisch krachen, sodass nun zwei identische Abdrücke das Holz zierten.

Sein Magen rebellierte gegen die Brühe, die er ihm da eingeflößt hatte, beruhigte sich dann aber glücklicherweise nach wenigen Sekunden.

„Brrr...“ Er schüttelte sich vor Ekel.

„Keine Sorge“, meinte Thunderland. „Wir haben nur noch den ganzen Proviantbeutel voll davon.“

Geschlagen ließ sich Largo auf den Holzsitz zurückfallen. Sofort bereute er seine Entscheidung.

Seine linke Seite protestierte ob des abrupten Zusammentreffens mit dem harten Holz aufs heftigste.

„Was ist?“, fragte Thunderland, als Largo scharf die Luft einzog und sich an die Seite griff.

„Unsere kleine Begegnung im Schnee hat wohl ihre Spuren hinterlassen.“

Largo krempelte sein Hemd hoch, um sich die Bescherung anzusehen.

Auf der hellen Haut gaben die blau-grünlichen Flecken einen netten Farbkontrast ab.

„Das sieht schmerzhaft aus“, sagte Thunderland. „Aber von welcher Begegnung im Schnee sprichst du?“

„Als du mit mir zusammengeprallt bist? Vor der Kutsche? Kurz nachdem wir ausgestiegen sind?“

Thunderland runzelte die Stirn. „Ich glaube, wenn ich mit irgendetwas oder -jemandem zusammengeprallt wäre, würde ich das durchaus bemerkt haben. Aber als ich dich gesehen hatte, da lagst du gerade in der Schneewehe.“

„In die ich erst gefallen bin, nachdem du mit mir zusammengeprallt bist!“

„Ich bin nicht mit dir zusammengeprallt!“

Kurz funkelten sich beide an.

Largo ließ sich – diesmal jedoch vorsichtiger – auf den Stuhl zurück sinken.

„Okay, wenn du mich nicht gerammt hast, wer dann?“



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