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Alea Iacta Est

Partner-FF by Corab & Night_Baroness
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Der Wahrheit auf der Spur

Kapitel 26: Der Wahrheit auf der Spur ~ by Night_Baroness
 

Beschissen.

Angewidert starrte Higa auf die braune Plörre vor ihm, die sich Kaffee schimpfte und frage sich zum hundertsten Mal, warum er nicht einfach nach Hause gefahren war – nach Hause, zu dem Ort, an dem er eine voll funktionstüchtige Kaffeemaschine mit Milchaufschäumer und ein wunderbar weiches Bett besaß.

Weil dieser Vollidiot frei rumläuft. Weil Heiji Hattori verschwunden ist. Ach ja, da war etwas.

Higa wusste, dass der wahre Grund, warum er so entnervt war, keineswegs seine Müdigkeit oder der scheußliche Kaffee war. Was ihn wirklich schmerzte war die Tatsache, dass er die Nacht durchaus genauso gut wie in seiner Wunschvorstellung verbracht haben könnte, an dem nicht vorhandenen Ergebnis seiner Ermittlungen hätte es auch nichts geendet. Die ganze Nacht hatte er darauf gehofft, dass Otaki oder ein anderer Polizist, der Streife fuhr und nach Kudo Ausschau hielt, sich meldete, doch alles war stumm geblieben. Dass Otaki immer noch nicht zurückgekehrt war, tröstete ihn auch nicht wirklich, vermutlich war er nach einer ähnlich erfolglosen Nacht einfach in seinem Auto eingeschlafen und Kudo munter über alle Berge. Wütend ließ Higa seine Faust auf den schmucklosen Schreibtisch vor ihm donnern, was sein Gesöff zum Überschwappen brachte.

„Verdammt!“

Erschrocken zog er seine Hand zurück, normalerweise war er nicht der Typ, der sich zu spontanen Gefühlsausbrüchen hinreißen ließ. Seufzend strich er sich über das Gesicht und schloss für einen Moment die müden Augen.

Du bist halt auch keine zwanzig mehr, so eine schlaflose Nacht geht nicht spurlos an dir vorbei.

Eilig bemühte er sich, die unappetitlichen Kaffeereste abzuwischen und schüttete den restlichen Inhalt des Bechers kurzerhand in eine Zimmerpflanze.

Also gut, gehen wir nochmal durch, was wir wissen.

Er startete seinen Computer, der sich inzwischen in den Standby-Modus versetzt hatte und ließ die Maus über seine Notizen gleiten. Alles, was er wusste so vor sich zu sehen, half ihm immer dabei, die verborgenen Verbindungen zu sehen, die zwischen den einzelnen Elementen eines Verbrechens bestanden. Im Kopf erschien einem alles oft wirr und unzusammenhängend, doch sobald man es aufschreibt, beginnt das Gehirn damit, die Informationen zu ordnen. Synapsen verknüpfen sich neu, setzen Energie frei – Higa stellte sich das gerne bildlich vor – und die Lösung ist auf einmal ganz klar. Sie steht vor einem, schwarz auf weiß, so schrecklich offensichtlich, als wollte sie einen damit verspotten. Doch genau das war es, was seiner Meinung nach einen guten Polizisten ausmachte. Ein guter Polizist kann strukturieren, er kann die Weichen in seinem Gehirn legen wie ein Lokführer und der Wahrheit ihren Weg bahnen.

Und genau so ein Polizist bist du, komm schon.

Shinichi Kudo wurde neben einer Leiche aufgefunden, der Leiche einer Frau, die mit Kugeln aus seiner Waffe getötet wurde. Er ist vom Tatort geflohen. Schuldig? Er behauptete, er wäre reingelegt worden, eine gewisse „Etsuko“, die Schwester des Opfers, hätte alles veranlasst. Wer ist Etsuko? Hat sie ein Alibi? Eine Verbindung zu Kudo?

Higa rieb sich die Schläfen, auch etwas, das er gerne tat, wenn er nachdachte. Er hatte das Gefühl, als würde das seinen Gedankenströmen neue Energie geben, als wäre er der Bahnhof, der die Züge mit neuem Treibstoff versorgt, damit sie schneller an ihren Zielort gelangen.

Möglich. Aber oberste Priorität hat Heiji Hattoris Sicherheit. Finden wir Heiji, finden wir die Wahrheit über Kudo und auch die Wahrheit über diese Etsuko. Alles hängt miteinander zusammen.

Wir müssen herausfinden, was mit Heiji ist und der Einzige, der uns dabei helfen kann, ist Shinichi Kudo.

Verdammt, wo steckst du bloß?

„Ich bin wieder zurück.“

Die Verbindung war unterbrochen. Higa fuhr sich erschöpft durch die Haare, während Otaki seinen Mantel ablegte und zu ihm herüberkam. Auch er sah ordentlich müde und abgekämpft aus, das Haar völlig zerzaust und das Hemd zerknautscht und fleckig.

Irgendetwas sagte ihm, dass der Tag keineswegs besser als die letzte Nacht werden würde.
 

„Und?“, Higa musterte seinen Kollegen gespannt. Vielleicht war die Nacht ja doch noch nicht ganz verloren.

„Kann ich erstmal 'nen Kaffee haben?“

„Glaub mir, das möchtest du nicht.“

Otaki runzelte die Stirn, was seinen Gesichtsausdruck noch etwas gequälter wirken ließ, sagte aber nichts.

„Also, was ist passiert?“

Sein Gegenüber räusperte sich ein wenig zu hingebungsvoll, Higa hob die Augenbrauen. Er spürte, wie der Zug erneut losfuhr.

Tschau-tschau-tschau-tschu-tschua-tschu…

„Naja, nichts eigentlich… Du weißt, ich hätte ich dich sofort informiert, wenn ich was gesehen hätte. Kudo scheint spurlos verschwunden zu sein.“

Otaki rieb sich nachdenklich hinterm Kopf und griff dann etwas verlegen nach den Zigaretten auf seinem Tisch. „Ich glaub, ich geh erstmal eine rauchen, war 'ne harte Nacht…“

„Ich komme mit.“ Higa erhob sich bedächtig, er spürte seine vom vielen Sitzen müden Beine kaum noch.

„N-nicht nötig. Ich glaube, ich will ein bisschen allein sein, nachdenken und so.“

Higa musterte ihn finster. „Sicher.“

Otaki, dem sein Blick nicht entging, zog den Kopf ein wenig ein, wie eine Schildkröte, die versuchte, in ihren Panzer zu kriechen. Dennoch wirkte er erleichtert, als er sich zum Gehen wandte.

„Du weißt etwas, oder?“

Otaki zuckte zusammen. Es war beinahe unmerklich, doch dem geschulten Auge des Polizisten entging es keineswegs.

„Otaki, was ist los? Gab es Meldungen hinsichtlich Shinichi Kudo?“

Oder ist etwas mit Hattori?

Er bemühte sich seine Stimme betont ruhig zu halten. Otaki war jemand, bei dem man durch laute Worte nicht das Geringste erreichen konnte, je ungehaltener man wurde, desto mehr verschloss er sich. Sprach er auf normale Art mit ihm, würde Otaki womöglich einfach mit der Wahrheit herausrücken, schließlich waren sie in gewisser Weise Partner.

Und du verbirgst etwas, das merke ich doch.

Doch diesmal schien seine Strategie nicht aufzugehen, Otaki schüttelte nur müde den Kopf. Das kurze Glimmen der Panik, dass er in seinen Augen zu sehen geglaubt hatte, war wieder erloschen. Als Higa ihn jetzt genauer betrachtete, wirkte er nur noch unendlich erschöpft, was unvermittelt sein schlechtes Gewissen dazu veranlasste, sich zu Wort zu melden.

Er war die ganze Nacht da draußen und ist vermutlich ebenso enttäuscht wie du, kein Wunder, dass er etwas durch den Wind wirkt – schließlich wurde kürzlich eine Frau brutal ermordet und das allem Anschein nach von einem Polizisten.

Ganz zu schweigen davon, dass ich mir nun wirklich nicht erlauben kann, irgendwen zu verurteilen.

„Wissen wir schon etwas über die ermordete Frau?“, fragte Otaki unvermittelt, als hätte er seine Gedanken erraten.

„Nicht wirklich viel, außer dass ihr Name Aiko Sato ist und sie mit einem reichen Geschäftsmann liiert ist, der sich momentan auf Geschäftsreise befindet. Er hat deshalb auch ein wasserdichtes Alibi.“

„Dann kommt also nur Kudo in Frage?“ Otakis Stimme klang überraschend schwach, als würde ihn der Gedanke mehr als beunruhigen.

Nicht dass es mir da anders geht.

„Er ist und bleibt unser Hauptverdächtiger, ihn müssen wir kriegen. Dann können wir immer noch prüfen, ob an dieser Etsuko-Geschichte etwas dran ist.“

„Es soll ja angeblich die Schwester des Opfers sein, oder? Meinst du, wir sollten der Familie einen Besuch abstatten…?“

Zum ersten Mal an diesem freudlosen Morgen lächelte Higa, wenn auch etwas grimmig. „Was glaubst du denn?“ Er warf Otaki die Autoschlüssel zu, der sie mit Mühe und Not auffing. „Unser Termin mit ihnen ist in einer Stunde.“
 

Aikos Familie wohnte in einem netten, kleinen Haus. Es war wesentlich unscheinbarer als ihr eigenes, von dem Higa sich am Abend zuvor Fotos hatte zeigen lassen – ein Team hatte es von oben bis unten durchsucht, ohne einen Hinweis auf eine Verbindung zum flüchtigen Kudo zu finden. Hier ließen sich keine prunkvollen Fassaden oder eine festungsartige Mauer finden, es gab nur einen schlichten Vorgarten, kleine Fenster und eine perfekt gepflegte Fassade, alles wirkte, als versuchte das Häuschen sich hinter seiner eigenen Unscheinbarkeit zu verstecken. Auch als das ältere Ehepaar ihnen öffnete und sie ins Wohnzimmer führte, hatte Higa das Gefühl, durch einen Ort zu wandeln, der versuchte vor den Augen seiner Eindringlinge unsichtbar zu werden. Alles war sauber, gepflegt, hübsch dekoriert, aber selbst die zahlreichen Fotos und die Blumen, die die Tische und Fensterbanken zierten, wirkten seltsam hohl und leer, als wäre das Bild eben erst für einen Möbelkatalog gestellt worden.

Das bildest du dir nur ein, weil ihre Tochter ermordet wurde. Der Tod lässt alles seltsam leer und fern erscheinen, vor allem, wenn er so sinnlos ist.

Neugierig trat er näher und nahm ein Foto hoch, das zwei auffällig hübsche junge Frauen zeigte. Beide durften etwa Anfang zwanzig sein und waren, soweit er das beurteilen konnte, sehr stilvoll angezogen, was nahelegte, dass auf irgendeiner Feierlichkeit aufgenommen worden war, während das eine Mädchen zart wie eine Puppe wirkte, umgab die andere Frau eine leicht verruchte Aura, was sich auch in ihrem spitzbübischen Lächeln widerspiegelte.

„Ist das neben Aiko ihre Schwester?“

Der hochgewachsene Mann mit dem graumelierten Haar, der ihm in das Zimmer mit den Bildern gefolgt war, schluckte leicht. Obwohl er bislang nicht geweint hatte, wirkten seine Augen glasig und feucht zu gleich wie Murmeln, die man in eine Pfütze geworfen hatte.

„Ja.“ Seine Stimme klang so belegt, dass er eine kurze Pause machen musste, bevor er deutlich kräftiger weitersprach. „Das sind meine beiden Engel.“ Er deutete auf die rechte Frau. „Etsuko ist die ältere… wir haben wenig Kontakt, leider.“

Higa nickte nur, es war überflüssig in diesem Moment noch etwas zu seiner toten Tochter zu sagen. Er war schließlich bereits ausführlich befragt worden und hatte angeboten, dass sie jederzeit wiederkommen konnten, wenn es weitere Unklarheiten gab. Schließlich ging es darum, den Mörder seiner Tochter zu finden, welcher Vater würde das etwas verheimlichen?

Es sei denn natürlich, er schützt damit seine andere Tochter.

„Sagen Sie, haben sie vielleicht ein aktuelles Bild von Etsuko? Wir haben es noch nicht geschafft, sie zu erreichen und würden das Bild gerne an ein paar Kollegen weitergeben, damit wir sie schnellstmöglich finden und über den Tod ihrer Schwester informieren können.“

Sein Gegenüber nickte nur stumm und wirkte dabei noch für einen schrecklichen Augenblick noch älter und zerstörter als vorher.

Keine Sorge, wir finden ihn.

Tschau-tschau-tschau-tschu…

Der Mann griff in eine Schublade und reichte ihm ein schlichtes Automatenfoto. Die Frau darauf lächelte, wie es auf Passfotos üblich war, nicht und wirkte dabei gleichzeitig schön und kalt.

„Ich sage ja, wir haben nicht viel Kontakt, telefonieren nur ab und zu.“ Er schniefte leicht und wischte sich verlegen über die Nase. „Deshalb habe ich auch kein richtiges Bild von ihr, nur ein Passfoto, dass sie uns mal geschickt hat. Ich wollte so gerne ein Bild von ihr für meine Brieftasche, man sagt ja, dass bringt Glück.“

Higa nickte. „Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich es mir ausleihe, ich muss nur ein paar Abzüge davon machen.“

„Natürlich. Ich verstehe nicht, warum Etsuko nicht zu erreichen ist, aber sie hat immer so viel um die Ohren, bitte machen Sie sich keine Gedanken.“

Bitte verdächtigen Sie sie nicht.

„Aber sie und ihre Schwester standen sich sehr nahe, ich weiß, dass sie Aiko oft besucht hat. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Wer weiß, vielleicht kommt sie dann ja sogar wieder nach Hause, um mit uns zu trauern.“

Sein Lächeln war so traurig, dass Higa das Gefühl hatte, die Wände hätten damit begonnen, die Luft aus dem Raum zu saugen. Eilig verabschiedete er sich und verließ das unheimliche Haus zusammen mit Otaki, der in der Zwischenzeit die Mutter befragt hatte. Die ganze Autofahrt über sprach keiner von ihnen ein Wort, beide waren gefangen in den Erinnerungen an das Leben dieser Familie, das lautlos kaputt gegangen war und sein letzten Atem ausgehaucht hatte, dass es niemand hatte kommen sehen können.

Niemand konnte es ahnen.

Higa konnte nicht aufhören, das Bild der Frau anzusehen.
 

„So…“, seufzte Higa und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. „Immerhin waren wir jetzt nicht ganz tatenlos und haben ein Bild von dieser Etsuko. Am besten, wir verteilen es an die Streifen und schicken es auch an die Kollegen in Tokio, wäre doch gelacht, wenn wir diese Schwester nicht auftreiben könnten.“

„Und dann stellen wir ihr ein paar Fragen, oder? Schließlich ist es schon auffällig, dass sie genau dann verschwindet, wenn ihre Schwester ermordet wird.“

Higa nickte. „Wobei sie laut ihrer Eltern oft für längere Zeit verschwindet und gerne spontan verreist, sie scheint ein ziemlicher Wildfang zu sein, war sie schon vorher weg, hat sie womöglich sogar ein Alibi.“

„Wir konzentrieren uns also weiterhin auf Kudo?“

„Natürlich, schließlich müssen wir wissen, was er damit meinte, dass Heiji Hattori in Gefahr ist. Ich glaube nicht, dass er selbst etwas damit zu tun hat, aber er weiß definitiv zu viel, sonst wäre er nicht abgehauen. Und Aiko könnte er schließlich durchaus ermordet haben, auch wenn es bislang kein erkennbares Motiv gibt.“

„Die einzige Verbindung zwischen den beiden scheint ihre Schwester zu sein.“

„Genau.“ Higa schenkte sich widerwillig eine Tasse Kaffee ein, seine Müdigkeit war mittlerweile stärker als seine Abscheu. „Deshalb werden wir sehen, dass wir uns so schnell wie möglich mal mit der Kleinen unterhalten können. Davor würde ich aber trotzdem gerne noch ein bisschen mit unserem Freund Kudo plaudern.“

Otaki biss sich auf die Lippen und Higa kam nicht umhin sich erneut zu fragen, ob er seinen Partner vielleicht zu früh vom Haken gelassen hatte. Wusste er doch mehr, als er zugab?

„Wie sehen die weiteren Pläne für heute aus?“

„Wir werden das Foto von Etsuko weitergeben und die Polizisten anweisen neben Kudo auch nach ihr Ausschau zu halten, außerdem habe ich Juzo Megure vom Morddezernat Tokio eingeladen. Er hat lange mit Kudo zusammengearbeitet und kennt ihn und seine Vorgehensweisen besser als wir. Er müsste eigentlich bald hier sein.“

„Wenn man vom Teufel spricht…“

Beide Polizisten fuhren herum, Higa griff reflexartig an seinen Gürtel, wo er normalerweise seine Waffe trug.

Megure lächelte entschuldigend. „Ich wollte mich nicht anschleichen, eure Kollegin unten meinte nur, ich könne ruhig einfach raufgehen, weil ihr mich eh erwarten würdet.“

Higa nickte und streckte ihm die Hand entgegen. „Ja, selbstverständlich. Wir sind nur etwas durch den Wind, es war 'ne anstrengende Nacht.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Ihr Gast legte seinen Mantel ab, behielt den Hut allerdings auf und setzte sich auf einen freien Stuhl neben Higas Schreibtisch. Aus der Nähe betrachtet wirkte er ebenso angespannt und erledigt wie sie selbst.

„Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Sie wissen ja, dass es um ihren alten Freund, Shinichi Kudo geht?“ Higa musterte ihn fragend.

Megure fuhr sich mit der Hand über seinen etwas zerzaust wirkenden Bart, bevor er antwortete. „Ja, ich kannte ihn schon, als er noch Schüler war, er war damals ein begabter Detektiv, ebenso wie Heiji Hattori, wie Sie wissen. Deshalb hat es auch niemanden überrascht, dass er später zur Polizei gegangen ist, auch hier war er einer der besten. Die wenigsten schaffen es so schnell Inspektor zu werden wie er, ihm ist wirklich alles zugeflogen.“

„Bis seine Ehefrau ermordet wurde.“

Megure nickte schwermütig. „Genau, ab diesem Punkt war es, als wäre das Glück mit ihr gestorben. Wen wundert das auch? Es ist schwer, sich von so einer Tragödie zu erholen, die beiden kannten sich schließlich schon, seit sie Kinder waren. Dazu kommt, dass Rans Mörder bisher nicht gefasst wurde.“

„Meinen Sie, er befindet sich jetzt auf einer Art persönlichen Vendetta? Will er den Killer auf eigene Faust fassen?“

„Ich weiß es nicht. Shinichi ist eigentlich kein Typ der Selbstjustiz unterstützen würde, er hat sich immer für die Gerechtigkeit eingesetzt. Allerdings verändert so ein schrecklicher Verlust Menschen natürlich auch.“

„Deshalb ist es wahrscheinlicher, dass er den Mörder finden und zur Polizei bringen will, oder? So könnte er auch sich selbst entlasten, sofern er nichts mit dem Mord an Aiko zu tun hat.“

„Oder er hat sie ermordet, weil er dachte, sie hätte etwas damit zu tun.“, warf Higa ein. „Momentan deutet leider alles auf ihn hin.“

„So oder so, wir müssen ihn finden. Nur Shinichi kennt die ganze Wahrheit. Er kann uns sicher sagen, ob Heiji Hattoris Verschwinden und Aikos Tod etwas miteinander und vielleicht sogar mit Rans Tod zu tun haben. Schließlich…“

Megure hielt plötzlich inne und starrte ungläubig auf den Tisch vor ihm, wo einige Papiere ausgebreitet waren – Higa hatte noch keine Gelegenheit gehabt, die Unterlagen etwas zu sortieren.

„Alles in Ordnung?“

Als Megure hochblickte, war er auf einmal reichlich blass. In der Hand hielt er ein kleines Foto. Ein einfaches Passbild.

„Woher habt ihr das?“

Der Zug in Higas Kopf sprühte Funken, auf einmal schien das Licht des Zielbahnhofs bereits am Horizont erkennbar zu sein – so hell und klar, als wäre es schon immer dagewesen, es hätte nur niemand richtig hingesehen.

„Das ist Etsuko, die Schwester der ermordeten Aiko Sato. Wir haben uns das Bild von ihrem Vater geben lassen, da Etsuko derzeit unauffindbar ist.“

„Ich kenne sie.“ Megures Stimme klang gleichsam aufgeregt und verwirrt. „Allerdings nicht unter diesem Namen, sie hat bei mir als Sekretärin gearbeitet. Sie nannte sich damals Chinatsu Sawaguchi.“

Die drei Polizisten starrten sich einen Moment lang wie gebannt an, wobei niemand es zu wagen schien, die Stille zu durchbrechen. Higa spürte unterdessen, wie der Bahnhof immer näher kam und den Zug mit seinen verheißungsvollen Lichtern einhüllen wollte. Aber es war zu früh für Freude, denn jetzt, wo es so schien, als gäbe es etwas, woran sie sich festhalten konnten, war diese Geschichte noch viel komplizierter geworden, als sie es ohnehin schon gewesen war und falsche Schlüsse konnten fatale Folgen haben.

Wie passt das alles zusammen? Wer jagt wen? Und wer ist der, den wir suchen?

„Meinen Sie, sie hat ihn ausspioniert?“

„Schon möglich oder sie wollte sich Zugriff auf Polizeidaten verschaffen.“

Higas Augen begannen zu leuchten. Er spürte, wie der Zug neue Fahrt aufnahm. „So oder so, unsere liebe Etsuko ist gerade sehr viel interessanter geworden, als es ihr lieb ist.“
 

Armer, kleiner Shinichi, jetzt bist du wirklich ganz auf dich gestellt. Läufst hektisch wie ein kleines Kaninchen durch den Wald, während sie dich jagen.

Etsuko hatte sich beinahe erschrocken, als ihre Wanze einen Ton von sich gegeben hatte, schließlich hatte sie fest damit gerechnet, dass Shinichi gerade allein und auf der Flucht war. Sie musste zugeben, sie hatte die Polizei wirklich unterschätzt – oder Shinichi Kudo überschätzt? In jedem Fall hatte sie nicht damit gerechnet, dass er so schnell auf die Gesetzeshüter treffen und es somit endlich wieder spannend machen würde. Eigentlich wäre das durchaus ein Grund zur Beunruhigung gewesen, aber in ihrem Inneren hatte die Neugierde schließlich Überhand über die Furcht gewonnen, es war, als würde man im Laufe des Spiels regelrecht süchtig nach dem Risiko werden.

Wie eine Droge, die einen zu ihrem Sklaven macht und unvermeidlich ins Verderben führt?

Doch ihre anfängliche Sorge war unbegründet gewesen. Das Gespräch war recht langweilig verlaufen, irgendetwas hatte Shinichi bewogen, den Mund zu halten. Vermutlich hatte er die berechtigte Angst, sie würde Hattori töten, wenn sie mitbekam, dass die Polizei sie jagte oder sein Verstand war noch klar genug gewesen, um ihm vor Augen zu führen, dass die Polizei ihm ohne Beweise niemals glauben würde. Sie lächelte. Solange er ihnen nichts von ihr erzählen konnte, würde sie in Sicherheit sein. Selbst, wenn die Polizei mit ihren Eltern sprach, würden sie zunächst nur nach Aikos Schwester suchen, nicht nach Az-zahr, dem Würfelkiller. Sie würde für sie erst einmal nichts weiter sein als die verzweifelte Schwester, die einen schrecklichen Verlust erlitten hat, der ein geliebter Mensch von einem armen Irren genommen wurde. Natürlich wusste sie, dass bald der Punkt kommen würde, an dem die Leute begannen, ihre Rolle in diesem Spiel zu hinterfragen. Aber solange sie nicht zuließ, dass Shinichi ihr einen Schritt voraus war, würde sie Kudo ein für alle Mal vernichten können, bevor es so weit war.

Armer Shinichi.

Wie schmerzhaft muss es für einen so großartigen Detektiv zu sein, die Wahrheit zu kennen, sie aber mit niemandem teilen zu können? Wie grausam muss es sein, einzusehen, dass es Verbrechen gibt, die man nicht lösen kann?

Willkommen in der Realität, Shinichi Kudo. Hier gibt es nicht nur eine Wahrheit.



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