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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

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Hinter der Fassade

Mein Zimmer ist riesig und an Luxus nicht mehr zu überbieten. Im Gegensatz dazu ist das Abteil im Zug ein Witz. Immer wieder streiche ich über die seidenen Bettlaken, auf denen ich ruhe, nur um mich von ihrer Existenz zu überzeugen. Froh, endlich dem Meerjungfrauenkostüm entkommen zu sein, genieße ich die Stille und das Gefühl von Schwerelosigkeit, das meinen müden Körper ergriffen hat.

Kolibrichen hat nicht zu viel versprochen, die rote Haarfarbe ist während des Duschens fast vollständig verschwunden. Lediglich ein Kupferstich ist zurückgeblieben. Gedankenverloren fahre ich mit der Hand durch die langen Strähnen. In der gedimmten Beleuchtung glänzen sie jetzt vornehm.

Und doch ist es nur eine künstliche Veränderung, nichts von Natur aus Schönes. Es sollte nicht so sein und das gefällt mir nicht. Das Kapitol versucht, uns alles zu nehmen. Aber lieber bin ich durchschnittlich, als mich unter Make-up und falschen Haaren zu verlieren. Innen drin werde ich ohnehin immer die langweilige Annie bleiben.

In diesem Moment klopft es an der Tür. Überrascht schrecke ich auf. »Ja?«, frage ich, unsicher, wer es sein könnte.

Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit. »Hallo Annie.« Es ist Mags, die ich nicht mehr gesehen habe, seit wir den Zug verlassen haben. Sie schlüpft herein und lässt sich behäbig neben mir auf das Bett sinken. »Ich hoffe du hast nichts dagegen?«

»Oh ... nein, natürlich nicht.« Ich rutsche ans Kopfende, um etwas Distanz zwischen uns zu bringen.

»Entschuldige bitte, dass ich bei der Parade nicht dabei war«, erklärt sie und nickt zu ihrem Krückstock, »Im Alter wollen die Knochen nicht mehr so ... doch deswegen bin ich nicht hier. Ich möchte mich gerne in Ruhe unterhalten, bevor Cece wieder Trubel macht.« Sie zwinkert mir zu. »Das macht sie am liebsten.«

Mir entweicht ein kleines Kichern bei dieser Bemerkung.

Mags legt lächelnd ihre Hand auf meine und drückt sie. »Ich weiß, wie schwer die Wagenparade ist. Ihr habt eure Sache heute Abend gut gemacht. Wenn ihr so weitermacht, habt ihr gute Voraussetzungen.« Unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor schaut sie mich streng an. »Ich muss ehrlich sein, Kind – du hast Glück mit deinem Aussehen. Das allein reicht aus, um ein paar Sponsoren zu gewinnen. Aber um dein Überleben zu sichern, brauchen wir mehr. Bisher bist du sehr ... ruhig. Wie ist Annie Cresta wirklich, frage ich mich? Und wer möchte sie sein, wenn die Spiele beginnen?«

Angesichts des ermunternden Ausdrucks in Mags runzligem Gesicht bildet sich ein Kloß in meinem Hals. »Ich bin ...« Der Satz verhallt unbeendet. Mir fällt keine Antwort ein. Es gibt vieles, das ich nicht bin. Mutig, tapfer, stark, interessant, stolz ... die Liste ist lang. »Ich bin hier, um zu sterben.«

Mags legt ihre Stirn in Falten und schüttelt den Kopf. »Warum? Weil du nicht freiwillig hier bist?«

Ich verschränke meine zitternden Finger vor den Knien. »Natürlich! Ich bin keine Karriero und schon gar nicht vorbereitet. Das ganze Kapitol hat gesehen, wie ich fast vom Wagen gefallen bin oder wie ich nach der Ernte geweint habe! Ich bin nur ... ein Opfer.«

»Die meisten Menschen scheinen auf den ersten Blick anders, bis wir ihr wahres Potential entdecken.« Mags streicht über meine Schulter. »Wer bin ich beispielsweise für dich?«

»Ähm ...«, entweicht es mir wenig geistreich. Rätselhafte alte Frau ist keine Antwort, die ich laut äußern werde.

»Nur heraus damit, so leicht kannst du mich nicht verletzen.«

Ich schaue auf meine verschränkten Hände. »Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß gar nicht, welche Spiele Sie gewonnen haben oder wie. Sie sind schon so lange Mentorin, vermutlich sind Sie ... erfahren«, sage ich ungelenk. »Na ja, ansonsten sind Sie eigentlich ganz nett. Wie ich mir eine Großmutter vorstelle.«

»Das ist nett von dir. Aber tu mir den Gefallen, lass das Sie weg, ich fühle mich schon alt genug mit dem Krückstock. Ich bin Mags.« Sie lächelt, als ich nicke. »Also, Annie, lass mich dir etwas erzählen«, fährt sie fort. »Ich war siebzehn und eine der ersten Freiwilligen, die Panem je gesehen hat. Die elften Hungerspiele waren anders. Keine Wagenparade, keine jubelnden Zuschauer und kein luxuriöses Appartement. Wir hatten nur Gerüchte gehört, was während der Spiele geschah.«

Überrascht sehe ich die alte Frau an. Mir ist nicht einmal in den Sinn gekommen, dass sogar sie eine Karriero war. »Gab es denn damals schon die Akademie?«

»Nein. Ich habe alleine geübt, im Schutz der Dunkelheit am Strand. Es gab damals auch kein Trainingscenter, also waren wir alle sehr schlecht vorbereitet. Übernachtet haben wir in einem vom Krieg zur Hälfte zerstörten Schulgebäude. In den Nächten vor den Spielen sind zwei von uns einfach verhungert. Allesamt waren wir schwach und standen längst an der Klippe zum Tod.«

Gebannt lausche ich Mags Geschichte und wage es nicht, Luft zu holen. Diese Hungerspiele klingen ganz anders als das, was mir bevorsteht.

»Glücklicherweise war die Arena nur ein staubiges altes Stadion mitten im Kapitol, keine perfektionierte Falle der Spielmacher. Wir waren eng zusammengepfercht und die Ersten sind schnell gestorben. Ich habe mich mit einigen Tributen aus anderen Distrikten zusammengeschlossen, damit wir bessere Chancen haben. Das lief gut, aber je weniger wir wurden, desto mehr wurde mir bewusst, dass auch diese Tribute meine Feinde waren.« Mags schließt ihre Augen und umfasst ihren Krückstock fester, sodass ihre Knöchel weiß hervortreten. »In der sechsten Nacht habe ich die letzten drei von ihnen im Schlaf getötet.«

Meine Augen werden groß. Ich muss aussehen wie eine Kapitolbewohnerin, die zum ersten Mal das Meer sieht. Die wahre Mags ist eine eiskalte Mörderin?

»Am nächsten Tag war ich die letzte Überlebende«, beendet die Mentorin ihre Erzählung. »Was denkst du nun?«

»Das ... das muss-«, ich beiße mir auf die Lippe, »schwierig gewesen sein.« Trotz ihrer Geschichte kann ich mir das alles nur schwer vorstellen. »Sie – du klingst kaltherzig.«

Mags nickt. »Und was glaubst du, wenn ich dir erzähle, dass in Distrikt vier meine Geschwister auf mich gewartet haben? Weißt du, ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen, wir waren fünf Kinder. Nach dem Tod unserer Eltern während der dunklen Tage hatten wir nur noch einander. Wir haben gehungert, manchmal wochenlang. Auf dem Markt habe ich abends die stinkenden Fischreste zusammengekratzt, damit wir etwas zu essen hatten. Jeden Taler habe ich für ein Boot gespart, damit wir selber rausfahren können.«

Verwirrt gucke ich sie an. »Wieso hast du freiwillig deine Geschwister alleine gelassen? Was, wenn du gestorben wärst? Du hast sie doch geliebt, oder?«

Wieder nickt sie. Ihr Blick gleitet in die Ferne, als würde sie alles noch einmal vor sich vorbeiziehen sehen. »Ja, das habe ich. Und deswegen bin ich Tribut geworden. Um sie zu retten, mit dem Preisgeld aus den Spielen. Für mich war es damals der einzige Ausweg. Ich war so naiv, ich dachte, es würde reichen, genügend zu trainieren. Ich wusste nicht...«, sie bricht ab und wendet ihren Blick aus der Vergangenheit zurück zu mir, »dass es mich verändern würde.«

Traurig sehe ich sie an. Das Bedauern in ihren Augen scheint echt. Es ist nur zu erahnen, wie viel die Hungerspiele sie gekostet haben.

»Was ich dir aber eigentlich sagen wollte«, fährt Mags fort, »ist, dass jeder Tribut voller Überraschungen steckt, sogar die Karrieros. Sie folgen bloß den Regeln dieses Spiels. Genau das ist deine Chance. Nutze das System! Du brauchst nicht körperlich stark sein, um Stärke zu demonstrieren. Du musst nur auf dich selbst vertrauen. Dann kannst du etwas von dir retten, während du ihnen eine falsche Vorstellung lieferst.«

Ihre Anweisungen hören sich wie Poesie an. »Ich soll also mitspielen«, stelle ich fest.

»Genau Annie. Ich weiß, dass du das kannst. Heute bei der Parade hast du genau das gezeigt. Egal welche Strategie Cece dir heute vorschlägt, hab das immer im Hinterkopf. Das Wissen hat den meisten von uns das Leben gerettet.«

»Aber kann ich so auch ... jemand anderen retten?« Ich verschlinge die Finger fester ineinander und warte gespannt auf Mags Antwort.

»Wenn du es möchtest.« Sie stellt meine Überlegung nicht in Frage. »Es zeugt von großem Mut, nicht für sich selber kämpfen zu wollen. Aber vergiss nicht, dass du es ebenso wert bist.«

Mit diesen Worten verlässt sie hinkend den Raum. Nachdenklich blicke ich ihr hinterher. Damit habe ich nicht gerechnet. Wie Mags wohl früher war? Vielleicht habe ich meinen Mentoren bisher unrecht getan. Ob sie genauso traurige Geschichten haben? Wer steckt wirklich hinter ihren Fassaden? Und was wird aus mir, wenn ich erst mitspiele?

Während ich so dasitze und nachdenke, meldet sich langsam mein Appetit zurück. Jetzt, da vorerst alle Anspannung von mir abgefallen ist, scheint die Aussicht auf ein neues Festmahl wieder verlockender. Bis zum Abendessen ist allerdings noch Zeit. Mein knurrender Magen lässt mir jedoch keine Ruhe, sondern treibt mich aus dem Bett. Vielleicht kann ich zur Überbrückung irgendwo einen kalten Hähnchenschenkel auftreiben. Ich schnappe mir ein Paar Pantoffeln und verlasse das Zimmer.

Die Lichter im Flur sind gedimmt, was nach den gleißenden Scheinwerfern eine Wohltat ist. Die blauen Wände geben mir das Gefühl, unter Wasser zu schwimmen. Ob die Farbe absichtlich gewählt wurde? Nur für uns Leute aus Distrikt vier, oder ist das Zufall? Kennt das Kapitol Zufälle?

Auf Zehenspitzen schleiche ich hinüber in das Wohnzimmer mit der Empore. Dunkel erhebt sich draußen vor der Glasfront die hell erleuchtete Skyline der Hauptstadt. Ich frage mich, was sich gerade hinter diesen Fenstern abspielt. Sitzt dort ein junges Pärchen bei seinem ersten gemeinsamen Abendessen? Guckt eine Familie die Wiederholung der Wagenparade?

Es gibt genug Dinge in meinem Leben, über die ich mir Sorgen machen muss, also wende ich mich ab und betrete die Empore mit dem Esstisch. Und tatsächlich, ich werde nicht enttäuscht. In der Küchenzeile summt ein kleiner Kühlschrank. Ich vergesse alle Vorsicht und reiße seine Tür auf. Mein Herz macht einen Satz, als ich die vielen Leckereien erblicke. Lauter Schälchen stapeln sich darin, manche mit Speisen von daheim gefüllt, andere hingegen sind mir völlig unbekannt.

Sogar eine kleine Schüssel mit den säuerlich-süßen Früchten, die an krummen Bäumen entlang der Küste wachsen, finde ich. Schon als Kind gehörten sie zu meinem Lieblingsobst. Ich lege mir eine in den Mund und lasse ihre straffe Schale platzen, sodass mir der köstliche Saft über die Zunge rinnt. Erst einmal auf den Geschmack gekommen, staple ich weitere Delikatessen in den Armen, bevor ich meine Beute zum Tisch schaffe.

»So so, Miss Cresta, sind wir eine kleine Naschkatze?«

Ertappt gefriere ich zur Salzsäule. Da sitzt er, unbemerkt in den Schatten. Wie konnte ich ihn nur übersehen? »Verdammt Odair! Erschreck mich nicht so«, entfährt es mir wütend.

Aber er lacht nur leise. »Du hast Glück, ausnahmsweise teile ich mal.« Erst jetzt realisiere ich, dass er mir zuvorgekommen ist und sich schon an einigen Leckereien bedient hat, die vor ihm auf dem Esstisch verteilt sind. »Lass mich dir helfen«, bemerkt er, immer noch grinsend über meine Überraschung, und steht auf, um den Stuhl neben seinem vom Tisch abzurücken. »Lassen Sie sich nieder, Madame«, bittet er mit einer übertrieben tiefen Verbeugung, bei der er beinahe den Boden berührt.

Prustend folge ich seiner Einladung und stelle meine kleine Auswahl vor mir ab. Wortlos schiebt Odair seine Beute – darunter eine Schale tiefroter Kirschen – näher zu mir. Während ich noch überlege, was zuerst dran ist, registriere ich aus dem Augenwinkel, wie er mich mustert. Nichts Neues also. Ich bin mir sicher, dass er damit schon viele Tribute vor mir völlig aus dem Konzept gebracht hat. Aber nach dem Gespräch mit Mags stellt sich mir die Frage, welches Spiel er wirklich spielt. Ist da doch noch eine Spur von dem Jungen, der aus dem Meer kam?

»Also, was war deine Strategie?«, setze ich ihm den sprichwörtlichen Dreizack auf die Brust.

Verwundert sieht er mich an. »Welche Strategie?«

»Wie hast du das Kapitol von dir überzeugt?«

Für einen Moment glaube ich, einen Schatten über sein Gesicht gleiten zu sehen, doch der Augenblick verfliegt schnell. »Oh, ich war einfach mein charmantes Selbst«, antwortet er zwinkernd.

Dieses Mal bin ich diejenige, die ihn abwartend mustert. Er lehnt sich zurück und schnappt sich eine Kirsche, die er sich mit hoch erhobenen Augenbrauen langsam zwischen die Lippen schiebt, als er meinen Blick bemerkt. Aber seine freie Hand hat sich auf dem Tisch zu einer Faust geballt. Ich glaube ihm kein Wort.

Viel mehr bin ich mir sicher, dass Finnick Odair etwas verbirgt – die Frage ist nur was. Und aus irgendeinem wahnwitzigen Grund bin ich entschlossen, ihm zumindest eine Wahrheit zu entlocken. Das Geheimnis um den Zucker. Er ist sein ständiger Begleiter, sogar jetzt hat er eine Schüssel mit den reinen weißen Zuckerwürfeln vor sich stehen.

»Mich würde es nicht wundern, wenn du im Alleingang sämtlichen Zucker im Kapitol verputzt«, stelle ich fest. »Ist das nicht ein wenig … ungesund?«

Er lässt ein langes Schnaufen hören. »Glaubst du wirklich, dass wir uns darum Sorgen machen sollten?«

Ich zucke mit den Schultern. »In meiner Lage vielleicht nicht, aber an deiner Stelle – ja.«

»Weißt du, Annie … man sollte alles Schöne genießen, solange es einem in diesem kurzen Elend namens Leben vergönnt ist. Du weißt nie, wann es vorbei ist. Also schlag zu, bevor es zu spät ist.« Das Lächeln ist von seinen Lippen verschwunden.

Sein Stimmungsumschwung deprimiert mich. Ich ziehe die Knie ans Kinn und stütze den Kopf darauf. »Gibst du mir was ab?«, frage ich leise.

Wortlos wirft er mir einen Zuckerwürfel zu. Pure Süße breitet sich in meinem Mund aus, kaum, dass er die Zunge berührt hat. Obwohl ich die vielen Nachspeisen des Kapitols bereits lieben gelernt habe, überwältigt mich der reine Zucker im ersten Moment. Als ich gerade anfange, den Geschmack zu genießen, ist er schon wieder verflogen und zurück bleibt nichts, außer einem klebrigen Film.

»Uhh, so süß«, schüttelt es mich. »Warum pur? Du kannst doch alles andere haben. Pudding, Früchte ...«, ich deute auf die Schüsselchen um uns herum. »Ist das nicht besser?«

Odair mustert die Zuckerschale vor sich und seufzt dann noch einmal. »Das ist eine lange Geschichte. Aber ich ahne, dass du sie trotzdem hören willst.« Und zack, ist es wieder da, sein perfektes Unschuldslächeln. »Vor meinen Spielen gab es, genauso wie jetzt, all diese gesüßten Speisen im Überfluss. Das meiste davon hatte ich schnell über. Er ist schrecklich bunt, klebrig und künstlich – wie viele Leute hier.«

Der Vergleich ist irgendwie passend, obwohl mir der Nachtisch schmeckt, aber ich unterbreche ihn nicht. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, während er erzählt, als könne er die Vergangenheit im Dunkel des Zimmers lauern sehen. Seine Augen schimmern geheimnisvoll in dem dürftigen Licht von draußen. Sie sind meeresgrün, ein Ozean voller Wehmut, wie bei unserer ersten Begegnung.

»Bevor man uns in die Arena brachte, gab Mags mir einen Zuckerwürfel. Ich weiß bis heute nicht, wieso. Er landete in meiner Hosentasche. Und zwei Tage später, nachdem ich den ersten Tribut getötet hatte … da fiel er mir wieder ein. Es hat mich umgehauen. Vor lauter Süße schien ich einen Augenblick lang zu schweben. So ist es mit allem Guten, das uns widerfährt. Ein Moment bittersüßer Unbeschwertheit, erkauft mit einem Leben voller Konsequenzen.«

Er greift einen Zuckerwürfel und krachend verschwindet er zwischen seinen Zähnen. »Nach meinem Sieg kam jeden Monat eine Zuckerlieferung. Niemand ist je auf die Idee gekommen ihn so zu essen. Auch ich nicht. Doch bei der ersten Ernte als Mentor habe ich vor lauter Aufregung die ganze Schale Zuckerwürfel, die für den Kaffee gedacht waren, im Alleingang vernichtet.« Er grinst bei der Erinnerung. »Cece hat sich damals tierisch aufgeregt. Sie war noch nicht so lange dabei, erst das zweite Jahr. Schätze, ein Mentor mit Zuckerschock gehörte definitiv nicht auf ihren Plan.«

Das kann ich mir gut vorstellen, immerhin bringt sie schon die kleinste Verspätung aus der Fassung.

»Bestimmt eine halbe Stunde hat sich auf mich eingeschimpft. Nur mit Mühe und Not hab ich die Ernte durchgehalten. Mir war so schlecht von dem ganzen Zucker, dass ich unmittelbar nach der Ernte meinen ganzen Mageninhalt auf ihre neuen Schuhe entleert habe – du kannst dir denken, was los war.«

An dieser Stelle bricht das Kichern haltlos aus mir hervor. Die Vorstellung des allseits beliebten – und begehrten – Finnick Odair, wie er Cece auf die Füße erbricht, ist einfach zu komisch. Zum Glück stimmt er in mein Lachen ein.

»Wäre ich nicht der Mentor, hätte sie mich vermutlich einen Kopf kürzer gemacht«, fährt er schmunzelnd fort. »Und trotzdem mag ich den Geschmack von Zucker immer noch. Er erinnert mich daran, dass alles gut wird. Daran, dass mein Sieg die Hoffnung zurück in den Distrikt gebracht hat. Und deswegen lautet meine Devise – erfreu dich am Leben, solange du kannst.«

»Hm …«, murmele ich unschlüssig. Er hat gut Reden, schließlich ist er ein Überlebender und kann das süße Leben noch sehr lange genießen, wie seine umfassende Liste an Liebschaften eindrucksvoll zeigt.

Sein Blick fällt auf die vielen Dessertschälchen. »Nur für den Fall, dass dir bald keine Zeit mehr bleibt …« Er räuspert sich. »Du solltest nichts bereuen.« In seiner rauen Stimme schwingt Schmerz.

»Dafür habe ich zu viel Angst«, gestehe ich.

Langsam hebt er den Blick und wir sehen einander direkt in die Augen. »Jeder hat Angst.« Das kleine Zittern in seiner Stimme ist lebendiger Beweis seiner Aussage.

»Aber ich will nicht töten müssen, um zu leben!« Die Worte ersticken an den Tränen, die in mir aufwallen. »Was wäre das für ein Leben?«

Er reißt seine Augen von meinen los und starrt mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die Tischplatte zwischen uns. »Möchtest du nicht weiterleben für all diejenigen, die dir wichtig sind? Lohnt es sich nicht, dafür zu kämpfen?«

»Dreiundzwanzig andere haben denselben Traum«, erwidere ich. Mein Hals ist trocken. »Ich werde bald tot sein.«

Ich merke nicht, wie er aufsteht, doch plötzlich kniet er vor mir und seine Arme schließen sich um mich. »Sag so etwas nicht! Warum ist dir dein Leben so egal? Willst du es einfach wegwerfen?« Er spricht ganz leise, aber seine Lippen sind so nah an meinem Ohr, dass mir sein Atem am Hals kitzelt. »Tu das nicht. Noch bist du nicht tot.«

»Nein – so ist das nicht … wegen Pon …«, stammele ich, überwältigt von der überraschenden Nähe. Steif sitze ich da und wage es nicht, auch nur mit dem kleinen Finger zu zucken. Leider kann ich nicht einfach wie eine seiner Verehrerinnen in Ohnmacht fallen.

»Du musst es wenigstens versuchen«, fleht er.

»Aber Pon ...«, halte ich dagegen. »Er ist so jung!«

»Ich weiß.« Ein kaum merkliches Zittern läuft durch seinen Körper. Wie damals am Strand frage ich mich, ob der starke Sieger etwa weint? »Verdammt Annie, das weiß ich alles. Ihr habt das beide nicht verdient. Und trotzdem kann ich euch nicht einfach dem Tod überlassen.«

Hunderte Gedanken rasen durch meinen Kopf und schlussendlich platzen die wohl unüberlegtesten Worte überhaupt aus mir hervor. »Wie wäre es mit einem Stück Zucker? Ich habe gehört, so erträgt sich das Leben leichter.«

Ich spüre, wie Finnick einen tiefen Atemzug nimmt, bevor ein kurzer Lacher durch meine Haare fährt. »Warum nicht«, haucht er und lässt dann endlich los.

Seine Augen sind gerötet, doch er dreht sich schnell weg und greift in die Zuckerschale. Wie der Sommerhimmel nach überraschendem Platzregen aufklart, verschwinden Furcht und Trauer aus seinem Gesicht und das typische Grinsen legt sich wieder auf seine Züge. Er versucht, mich mit einem Zuckerwürfel zu füttern, und führt sein übliches Geplänkel fort, als wäre nie etwas passiert.

Eine Weile sitzen wir beisammen und teilen uns die Leckereien, bis wir kugelrund und pappsatt sind. Eine letzte Frage stelle ich Finnick allerdings noch. »Welche Strategie sollte ich deiner Meinung nach verfolgen?«

Er zuckt mit den Schultern. »Überleben? Alle anderen Pläne sterben genauso schnell wie der erste Tribut.«

»Ich meinte für das Training und die Interviews.«

»Genauso. Am Ende muss man auch das nur überleben.«

»Also soll ich keine Rolle spielen?«

Genervt seufzt er. »Wen solltest du spielen wollen? Wenn du die Spiele nicht einmal gewinnen willst, glaubst du wirklich, du musst dich vor dem Kapitol verstellen?«, fragt er mich mit bitterem Unterton. »Sie werden dir aus der Hand fressen, wenn du ihnen erzählst, dass du dich für jemand anderen opferst.«

Plötzlich wird mir klar, was Finnick Odair bedrückt. Es ist die Furcht, wieder zwei Tribute zu verlieren und bloß mit Särgen nachhause zurückzukehren. Dann sinkt Distrikt vier weiter in der Gunst des Kapitols. Und es gibt zwei neue Gräber auf dem Friedhof. Ob ihn die Toten wohl in seine Albträume verfolgen? So oder so, mein Verhalten macht ihm das Leben schwer.

»Entschuldige«, sage ich betreten, »ich sollte mir wenigstens Mühe geben.«

»Ist es so falsch, wenn ich will, dass du überlebst?«

Ich schüttle schnell den Kopf. Er ist Mentor, natürlich will er das.

»Und dennoch muss ich deine Entscheidung respektieren«, fügt er hinzu. Zu meinem Erstaunen streicht er mir über die Hand, ehe er wieder mal grinsend den Raum verlässt. Bloß, dass er mich diesmal nicht nur mit rotem Kopf zurücklässt, sondern auch mit Herzklopfen.

Auf dem Weg zurück in mein Zimmer denke ich darüber nach, ob er diese Masche wohl schon bei anderen Tributen abgezogen hat. Ist das alles Teil eines Spiels? Bei Finnick Odair weiß ich einfach nicht weiter.

Wer bist du?

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  LilaRain
2012-11-04T01:35:48+00:00 04.11.2012 02:35
Hat mich nochmals umgehauen!
Tolles Kapitel und ich liebe die Geschichte zu Finnicks Zuckertick :D


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