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Das wahre Spiel

Die Tribute von Panem
von

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Unter der Oberfläche

Wenn man sie danach fragt, dann lächeln sie nur. Sie lächeln und sagen, es ist doch nur ein Spiel. Sie sehen dich an und blinzeln mit ihren falschen Wimpern, die je nach Mode aussehen wie frischer Tau oder sanfter Goldregen, genauso wie sich die Arena mit jedem Spiel wandelt. Vermutlich gibt es keinen Unterschied.

Nicht für sie.
 

Das Kapitol empfängt mich bunt und dekadent wie eh und je. Als der Schnellzug den Tunnel verlässt, fühle ich mich fast erschlagen von den verchromten Fassaden, deren Fenster das Sonnenlicht wie Prismen brechen. Einen Moment lang schließe ich die Augen und lausche. Es ist still. Hier gibt es keine Vögel und der Wind hat keine Bäume, durch deren Blätter er streichen kann – mein zuhause ist kalt und durchgeplant wie eine mathematische Formel, eine Welt aus Zahlen und Gleichungen, die einer grotesken Logik folgt, als wäre sie der zittrigen Hand eines längst dementen Professors entsprungen.

Es ist mir gleichgültig.

Vermutlich muss jeder, der den Anspruch hat, anders zu sein, irgendwann erkennen, dass die Äste eines Baumes, ganz gleich, wie sie sich winden und brechen, letztendlich doch immer denselben Wurzeln entspringen. Ich bin nicht wie die anderen Mädchen im Kapitol, die lachend die Spiele verfolgen und ihre Haare mit Farben tönen, die die wunderbaren Namen längst vergessener Blumen tragen, aber auch nicht das Kind eines Distriktes. Ich seufze. Womöglich bin ich ein vollkommen entartetes Tier, das nirgendwo lebensfähig ist, weil es irgendwie vergessen hat, sich an die Umweltbedingungen anzupassen.

Seit Lucas Tod ist nun fast ein ganzer Monat vergangen, vom dem ich zwei Wochen in Distrikt 3 war, während ich angeblich mit einer Freundin in Distrikt 1 einen wunderbar erholsamen Urlaub verbracht habe.

Trotz der geringen Zeitspanne, fühlt es sich so an, als läge eine Ewigkeit zwischen mir und meinem alten Leben, als ich unser Haus betrete. Meine Mutter umarmt mich und bereitet mich darauf vor, dass Violette später vorbeikommen und einen ihrer scheußlichen Kuchen mitbringen wird, wobei sie gespielt übertrieben das Gesicht verzieht.

„Schön, dass du wieder da bist.“

Ich nicke nur und mache mir nicht die Mühe, sie wirklich anzusehen. Lucas Tod hat mich wachgerüttelt und mir mit einem Schlag die Kraft genommen, die ich brauche, um mein Schauspiel aufrecht zu erhalten. Ich war naiv zu glauben, es bräuchte nicht mehr als ein bisschen Mut, um die Welt zu ändern. Wenn das so wäre, warum haben die Distrikte es nicht längst getan? Warum ist niemand gekommen und hat versucht, dieses Spiel, das hinter den Kulissen stattfindet, zu beenden?

Weil sie es bereits getan haben.

Sie haben es versucht und sind gescheitert, wurden zerquetscht wie Ameisen und mit den Hungerspielen bestraft. Warum sollte es jetzt anders sein? Warum sollte ich befähigt sein, diese Geschichte neu zu erzählen, sie umzuschreiben?

Wie passend, denke ich und muss fast grinsen ob dieser Ironie. Worte sind die einzige Waffe, die ich besitze, das einzige Talent, das ich anerkennen kann, ohne rot zu werden. Aber welches Wort ist schon scharf genug, um stählerne Wände zu schneiden?

Na los, Olivia, sprich die magischen Worte die das Kapitol in den Abgrund stürzen.

„Olivia? Alles in Ordnung?“

Ich bemerke erst jetzt, dass meine Mutter mich ansieht. Viel zu spät. Ihr Blick wirkt irritiert, offenbar war ich so in Gedanken versunken, dass ich die ganze Zeit ins Leere gestarrt habe.

„Geht es dir nicht gut?“

„Ich weiß es nicht.“ Wir sehen uns einen Moment lang an und ich glaube so etwas wie stilles Verständnis in ihren Augen sehen zu können, dann dreht sie jedoch rasch den Kopf und ich bin mir nicht mehr sicher, ob nicht alles nur meiner Einbildung entsprungen ist.
 

Als die Türklingel verkündet, dass Violette eingetroffen ist, sitze ich schon seit Stunden beinahe reglos auf meinem Bett. Alles, womit ich mein Leben früher verbracht habe, seien es nun großspurige Träumereien oder auch nur das Lesen meiner Lieblingsromane, kommt mir auf einmal schrecklich trivial vor. Ich bin wütend darüber, was für ein trauriges Bild ich abgebe, erschrocken darüber, dass jemand, den ich kaum kannte, so einen Einfluss auf mich hat. Warum kann ich nicht einfach weiterleben wie bisher? Es sind auch vorher Leute bei den Hungerspielen gestorben, ich kannte sie nicht, aber kann ich behaupten, Luca zu kennen?

Wir haben doch nur einen Kaffee zusammen getrunken.

Aber als ich aufstehe und meine absurd müden Glieder nach unten schleppe, weiß ich tief in mir, dass das nicht wahr ist. Ich will es nicht wirklich denken, weil ich es egoistisch und grausam finde, aber zurücknehmen und einfach hinunterschlucken kann ich es auch nicht. Es geht nicht um Luca, sondern die Idee, die mit ihm gestorben ist, die Fantasie in meinem Kopf, den Traum von Heldentum und Freiheit, der an diesem Tag von der Realität zerschmettert wurde. Unsere Begegnung schien schicksalshaft, alles wirkte so magisch, als wäre endlich das letzte Puzzlestück gefunden, als würden sich die Rädchen in einem müden, alten Uhrwerk wieder in Gang setzen und die Zeit des Kapitols langsam und doch unvermeidlich ablaufen lassen. Aber die Realität hat das Schicksal zerschmettert. Es gibt kein Uhrwerk, keine Weissagung.

Letztendlich gibt es nur mich, das Kapitol und den schrecklichen Kuchen, der vor mir auf dem Teller langsam zerfällt.
 

Nach genau einer Stunde und drei Minuten werde ich schließlich aus dem Raum geworfen, da niemand mehr mein beinahe schon apathisches Starren auf die große Wanduhr mir gegenüber ertragen kann. Als ich aufstehe, schnaubt Violette noch einmal empört, um deutlich zu machen, wie sehr mein schlechtes Benehmen sie mal wieder enttäuscht hat, doch meine Aufmerksamkeit gilt meiner Mutter. Sie mustert mich genau, wobei sie nicht gerade glücklich aussieht. Es überrascht mich etwas, normalerweise zeigt sie nie ihre Sorge, sondern versucht stattdessen mich aufzuheitern oder abzulenken. Deshalb erwarte ich fast, dass sie etwas sagt oder mir vielleicht folgt, um mich in den Arm zu nehmen und mir über die Haare zu streicheln, wie sie es früher immer getan hat, aber als sie wieder nach der Kuchengabel greift, weiß ich, dass nichts dergleichen geschehen wird.

Ich bin nicht sicher, ob ich traurig oder erleichtert darüber bin.

Auch war die Idee, ins Wohnzimmer zu gehen, nicht die beste, da ich nun nicht in mein Zimmer zurückkann, ohne das Esszimmer zu durchqueren. Da mir die Vorstellung, in meiner Stimmung wieder mit meiner Mutter oder meiner Tante konfrontiert zu werden, unerträglich scheint, lasse ich mich mit einem Seufzer auf das verhasste Sofa fallen und blicke zu dem schwarzen Fernseher vor mir. Er ist schon eine Weile schwarz, zumindest für mich, da ich es seit den Spielen nicht mehr über mich bringen konnte, ihn zu benutzen. Zu schmerzvoll war der Gedanke, den Sieger im Rampenlicht zu sehen, mit einem Lächeln im Gesicht, während er mit stolzgeschwellter Brust prahlt, wie er Luca erledigt hat.

Hör auf damit, weise ich mich ärgerlich in Gedanken zurecht. Es ist alles wie immer und du bist wütend, so wie du es immer bist, wenn die Spiele vorbei sind. Aber wie immer wird es auch wieder vorbeigehen, du kannst einfach weiterleben wie bisher. Es ist so leicht.

Aber es ist nicht wie immer. Es sind zwar dieselben Spiele, es ist dieselbe Anzahl an Toten und derselbe Schmerz, der um sich greift wie ein wütender Tyrann, aber diesmal geht es nicht vorbei. Es ist einfach zu viel. Zu viel Schmerz, zu viel Leid, zu viel Ungerechtigkeit. Vermutlich bin ich nicht besser als sie, weil ich es erst jetzt nicht mehr ertragen kann, wo ich selbst betroffen bin. Früher konnte ich den Schmerz wieder vergessen, mich ablenken, weil es Fremde waren. Verschwommene Gesichter, die wieder verblassen und in der Dunkelheit verschwinden, bevor man sie wirklich gekannt hat.

Aber jetzt ist es etwas Persönliches.

Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, um zu weinen, doch meine Augen bleiben trocken. Sie gönnen mir nicht einmal ein kleines bisschen Erleichterung. Seufzend lehne ich mich zurück und schließe sie für einen Augenblick, sie fühlen sich warm und viel zu trocken an, so als hätte ich über Tage nicht geschlafen.

„Ich werde dich rächen.“, flüstere ich kaum hörbar. „Sie werden alle bezahlen.“

Doch ich weiß, dass ich lüge.

Auf einmal unendlich müde und furchtbar entmutigt, vergesse ich sogar meinen Vorsatz und greife nach der Fernbedienung. Letztendlich bringt es doch nichts, die Welt draußen auszublenden, so furchtbar sie auch sein mag, sie holt uns immer ein. Und was gibt es Feigeres, als die Wahrheit zu kennen und trotzdem die Augen vor ihr zu verschließen?

Vielleicht kann ich dann wenigstens weinen.

Es spielt keine Rolle welchen Kanal ich auswähle, denn jeder zeigt momentan das Gleiche, die große After-Show-Party der Spiele, die Tour des Siegers, begleitet vom ewigen Lachen des Show-Business.

Wie ich vermutet habe, erzählt der aus Distrikt 1 stammende Sieger begeistert von den heroischen Spielen. Er ist ein Klischee, ein typischer Karriero, der in den Spielen eine Chance sieht und kein sinnloses Gemetzel. Ich möchte ihn dafür ebenso hassen wie für Lucas Tod, obwohl ich weiß, dass er zum Teil auch ein Opfer dieser Welt mit ihren Regeln und ihrer Gesellschaft ist. Letztendlich verlassen wir uns doch alle auf das, was wir kennen.

Während ich spüre, wie die Müdigkeit immer stärker wird und mein Interesse schwindet, je ausgelassener das Geschehen auf der Bühne wird, lasse ich meinen Blick über die Gesichter schweifen, die abwechselnd über den Bildschirm flimmern. Sie alle sind typische Kapitolbewohner – vermutlich irgendwelche hohen Tiere, die mit den Spielen zu tun haben – und haben keine Kosten und Mühen gescheut, unsere Welt in all ihrer spöttischen Herrlichkeit zu präsentieren. Grelle Farben, Federn, Perlen und Schuppen schmücken sie gleichsam wie seltsame Fellgebilde und kitschige Arabesken. Ich ringe mir ein trockenes Lachen ab, da ich finde, dass die Kleider zumindest ein wenig Hohn verdient haben, allerdings klingt es eher wie ein sehr trauriges Husten. Verärgert räuspere ich mich. Bevor die Kamera erneut zum Sieger schwenkt, der gerade interviewt wird, bleibt sie für einen Moment an einem jungen Mann hängen, der etwas hinter dem Aufmarsch der begeisterten Geschmacksverirrungen steht. Ich vermute, er gehört zum Sicherheitsteam, da er verhältnismäßig sachlich gekleidet ist, mit seinem kanarienvogelgelben Anzug, den Federn am Revere und den schwarzen, streng zurückgekämmten Haaren. Doch etwas anderes an ihm erregt meine Aufmerksamkeit. Mein Atem stockt. Wie in Zeitlupe erhebe ich mich und trete ungläubig ein paar Schritte näher, während der Fernseher weiterhin ohne Erbarmen sein Gesicht zeigt. Nur undeutlich nehme ich war, wie der Sieger im Hintergrund spricht, alles scheint auf einmal auf einen einzigen Punkt fokussiert zu sein. Es sind seine Augen. Seine leuchtend grünen Augen.
 

Das Kapitol, das sich uns zeigt, ist voller Schönheit. Alles ist bunt, laut und grell, ein Rausch aus Stroboskoplicht und kunterbunten Süßigkeiten, durch den wir uns wie in einer ewigen Karussellfahrt bewegen. Die Oberfläche des Ozeans spiegelt stets das, was sich darüber befindet. Alle unsere Lügen, all das bunte Jahrmarkttreiben. Doch was darunter liegt ist dunkel und unbekannt, eine tiefe Schwärze, die nur darauf wartet, die glatte Oberfläche ein wenig zu kräuseln.
 

„Wie wollen Sie es denn haben, Fräulein Olivia?“, fragt die Stylistin mit einem freundlichen Lächeln.

Ich lächle ebenfalls.

„Machen sie es bunt, sehr bunt. Ich will, dass das gesamte Kapitol sich nach mir umdreht.“



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