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Eine zweite Chance

Valon/Mai
von

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Illusions from the past

Nach der Begegnung mit Dartz hatte ich mich dazu entschlossen, es mit dem Duellieren weiter zu versuchen. Mit meinem Motorrad preschte ich durch die Gegend, genoss den kühlen Wind auf meiner Haut. Das war das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, das ich mir immer gewünscht hatte. Zumindest glaubte ich das. Mit dem gewonnenen Geld von verschiedenen Duel Monsters Turnieren umreiste ich die Welt, doch ich merkte schnell, dass ich auf meiner Reise einsam war. Auf der chinesischen Mauer duellierte ich mich mit Vivian Wong. Wir hatten uns ein paar Tage vorher kennengelernt. Eigentlich mochte ich Frauen wie sie noch nie, aber ihre Anwesenheit beruhigte mich auf angenehme Art und Weise. Trotz ihrer ungewöhnlichen Einstellung, auf jeden Fall einen reichen Prominenten zu heiraten, war sie sehr nett und zuvorkommend.
 

Aus einer kleinen Begegnung wuchs eine Freundschaft und sie entschloss, mir die wichtigsten Orte in China zu zeigen. Natürlich war die chinesische Mauer ebenfalls einer unserer Reisepunkte. Ich lernte viel von dieser östlichen Welt und konnte nicht anders als zu staunen. Unerwarteterweise trafen wir auf der Mauer auf die Brüder Meikyū (auch genannt Para und Dox), die uns so lange provozierten, bis wir zu einem Duell zustimmten. Es war ein faires Doppel, welches Vivian und ich gewannen. Lachend fielen wir uns in die Arme. Wir wurden richtige Freundinnen und teilten eine Leidenschaft. Diese Leidenschaft für Duel Monsters verband uns.
 

Doch das war früher. Diese Zeiten waren vorbei. Ich war älter geworden und musste akzeptieren, dass ich nicht für immer nur durch die Welt reisen konnte.
 

Seufzend hob ich meinen Kopf und begrüßte einen Kunden. Schnell war ein Lächeln auf meinen Lippen geformt, routinemäßig sprach ich den berühmten Satz: „Was kann ich für Sie tun?“, und zeigte, dass nur der Kunde für mich in diesem Moment wichtig war. Ich arbeitete nun in einem Parfümladen.
 

Parfüm mochte ich schon immer und es fiel mir leicht verschiedene Düfte zu unterscheiden. Damals hatte ich meine Gegner ausgetrickst, indem ich meine Duel Monsters Karten eingesprayt hatte und sie auf diese Weise voneinander unterscheiden konnte, ohne das Bild sehen zu müssen. Meine Gegner waren verängstigt, denn meine übersinnlichen Kräfte schienen nicht von dieser Welt zu sein. Ich genoss es, meinen Gegnern überlegen zu sein und fuhr einen Sieg nach dem nächsten ein. Siege, auf die ich nicht stolz war, aber dennoch ihren Zweck erfüllten. Nur einer hatte diesen Trick durchschaut. Sein Name war Jounouchi Katsuya.
 

Er war auch der Erste, der mir offen seine Freundschaft anbot und ich hatte mich in ihn verliebt. Sein warmes Lächeln und diese unendliche Güte, die er Menschen wie mir, so unwichtig und nicht einmal wert angesehen zu werden, schenkte, war das größte Geschenk, das ich in meinem Leben erhalten hatte. Wir hatten uns jahrelang nicht mehr gesehen. Ich konnte nicht sagen, ob ich immer noch Gefühle für ihn hatte und wenn ja, ob sie immer noch so ausgeprägt waren wie früher. Ich dachte mit einem Lächeln an ihn zurück. Es fühlte sich aber weitaus distanzierter an als vor einigen Jahren. Vermutlich hatten wir uns einfach auseinander gelebt.
 

Es war einfach viel zu viel geschehen und ich hatte erkannt, dass wir niemals zueinander finden würden. Uns trennten nicht nur acht Jahre und somit viele Erfahrungen, sondern auch ein riesiger Ozean. Ich hätte wissen müssen, dass meine Gefühle einseitig waren. Aber ich war naiv und wollte die Wahrheit nicht sehen. Heute war ich 30, hatte einen festen Arbeitsplatz und eine eigene kleine aber sehr gemütliche Apartmentwohnung. Das wollte ich immer verhindern, aber ich hatte irgendwann verstanden, dass meine Einstellung zur Freiheit dumm und kindisch war. Außerdem, dass es schwer oder besser gesagt nahezu unmöglich war ohne Geld zu leben. Vieles war komplett anders gekommen, als ich es geplant hatte.
 

Mein früherer Reichtum hatte mich geblendet. Als Kind war alles so einfach. Ich kam aus guten Haus und war wohl erzogen. Teezeremonien und langweilige Feierlichkeiten mit Fremden, die einen nett anlächelten, gehörten zu meinem Alltag und ich hatte geglaubt, dass dieser Luxus, in dem ich lebte, für immer ein Teil von mir sein würde. Doch dann starben meine Eltern. Wir hatten schon vorher nicht so viel Kontakt gehabt. Sie waren viel unterwegs, so dass ich auch keine richtigen Freunde fand. Sobald ich mich eingelebt hatte, mussten wir auch wieder weiter. Vielleicht rührte daher mein Drang die Welt zu sehen? Als meine Tante mir mitteilte, dass Vater und Mutter bei einem Unfall umgekommen waren, hatte ich das unter Tränen akzeptiert. Da wusste ich noch nicht, dass dies das Ende meines vorherigen Lebens sein würde.
 

Noch bevor die Beerdigung beendet war, meldeten sich die Schuldeneintreiber. Ich war zu jung, um zu verstehen, was es bedeutete verschuldet zu sein – die Wahrheit war, dass ich nichts davon mitbekommen wollte. Der einst hoch angesehene Name Kujaku verschwand vom Erdboden, doch meine Sehnsucht nach meinem alten Leben gab mir Kraft. Ich brauchte Geld. Viel Geld. Ich wollte zurück in diese strahlende Welt. Alles in meinem Leben drehte sich um Geld und all die schönen Dinge, die man damit kaufen konnte. Ich träumte von diversen Luxusgütern und je älter ich wurde, desto größer wurde meine Sehnsucht. War es wirklich das Geld, nach dem ich mich gesehnt hatte oder versuchte ich einfach nur verzweifelt das unendlich große Loch in meinem Herzen zu füllen?
 

Ich hatte nie Freunde gehabt. Ich vertraute niemanden. Der Kontakt zu meinen übrigen Verwandten brach ab und ich war vollkommen auf mich allein gestellt. Ich kämpfte mich wacker durch und ließ mich nicht beirren. Ich heuerte an einem Schiff als Croupier an und arbeitete dort einige Jahre. Das Spiel Duel Monsters und insbesondere die Harpyie Karten wurden meine besten Freunde und jeder Sieg gab mir das Gefühl unbesiegbar zu sein. Ich brauchte niemanden in meinem Leben. Immerhin hatte ich meine Karten und meinen Reichtum. Nicht nur mein Kontostand wurde immer größer, sondern auch meine Sehnsucht nach Abwechslung. Also kündigte ich und nahm mir vor eine professionelle Duel Monsters Spielerin zu werden. Das Spiel gab mir Mut. Diese Karten waren meine Waffe.
 

Es war viel geschehen. Zu viel. Ich wusste, dass ich viele Fehler gemacht hatte.
 

Der Kampf gegen Yami no Malik, der mich in die Finsternis sperrte, hatte mich nachhaltig verändert. Zum ersten Mal in meinem Leben begann ich ernsthaft über mich selbst nachzudenken. Die Ängste, die ich all die Jahre zu ignorieren versuchte, kamen auf einmal hoch. Die Duelle, die mich einst so sehr erfüllten und mir Mut für die Zukunft gaben, fühlten sich leer an. Nichts konnte meine Lebensgeister wecken. Ich war gefangen von meinen negativen Gedanken und schon bald wurde aus meiner Unsicherheit Hass. Ich hasste mich selbst, weil ich diese Gedanken hatte. Und ich hasste Jounouchi, den ich als Wurzel dieser Gedanken ansah. Es war seine Schuld, dass ich mein Herz geöffnet hatte. Nur wegen ihm hatten die Schwächen in meinem Herzen mich übermannen können. Es war alles seine Schuld. Diese Gedanken wurden eine mächtige Fessel und ihm die Schuld für meine Probleme zu geben, war so viel einfacher, als mich mit mir selbst zu befassen.
 

Wieso bist du jetzt nicht hier? Hast du nicht gesagt, ich sei deine Freundin? Du verdammter Lügner! Du Nichtsnutz! Wieso ist denn niemand für mich da, wenn ich ihn brauche? Ich will doch einfach nur mit jemanden reden... Bitte. Bitte! Hilf mir doch einer! Diese Finsternis... sie hüllt mich ein.
 

In meiner Verzweiflung hatte ich aufgegeben. Die Ängste in mir gewannen die Oberhand. Es hätte so einfach sein können. Ich hätte einfach nur nach Japan reisen und Jounouchi und die anderen besuchen müssen, doch mein Stolz war zu groß. Auf keinen Fall sollte es so aussehen, dass ich von ihnen abhängig war. Nein, niemand sollte mein verletztes Herz sehen. Doch die Wut in mir, dass keiner von ihnen nach mir fragte, wurde größer. Sie lebten ihr Leben einfach weiter – ohne mich. Ich war kein Teil seines Lebens. Jounouchi brauchte mich nicht. Und dieser Gedanke schmerzte. Ich entfernte mich von meinen neugewonnenen Freunden und gab mich der Finsternis hin.
 

Es regnete. Die Kälte machte mir nichts mehr aus. Es war Valon, der mir seine Hand reichte. In diesem Moment war es mir egal, wer da war. Hauptsache irgendjemand war für mich da und gab mir Kraft. Alles andere war mir vollkommen egal geworden. Alles war sinnlos.
 

Valon hörte mir zu. Meine Sorgen interessierten ihn. Ich hatte nie hinterfragt, warum er mich an diesem Abend gerettet hatte oder warum er nach mir gesucht hatte. Doch er war meine Rettung. Bis heute fragte ich mich, was geschehen wäre, wenn er mir nicht seine Hand gereicht hätte. Sicher hätte ich viele Dummheiten nicht begannen, doch ohne ihn hätte ich auch nicht die Kraft gehabt, wieder aufzustehen. Obwohl ich ihn von mir stieß und ihm klar verständlich zeigte, dass ich ihn nicht brauchte, kamen er immer wieder und nannte mich weiterhin seine Freundin. Valon nannte mich einen Gefährten. Seine Familie.
 

„Du gehörst doch jetzt zu uns! Wir sind eine Familie. Ich bin für dich da und wenn du mit irgendjemanden reden willst, kannst du immer zu mir kommen. Du bist so stark, doch wer immer nur Stärke zeigt, zerbricht von innen“, sagte er mit einem Lächeln und hielt mir die Hand hin.
 

Wütend schlug ich seine Hand weg. Ich brauchte ihn nicht! Niemanden! Bereits einmal hatte ich jemanden mein Herz geöffnet und dieser hatte mich fallen lassen. Noch einmal wollte ich diesen Schmerz nicht erleben.
 

„Vergiss es, Valon. Das ist eine reine Zweckgemeinschaft“, knurrte ich. Er zuckte mit den Schultern.
 

„Mein Angebot bleibt weiterhin bestehen. Komm zu mir, wenn du es dir anders überlegst“, sagte er und ließ mich im Flur des Firmengebäudes stehen. Dartz hatte mir neue Kräfte geschenkt. Mit der Orichalcoskarte war ich im Vorteil und ich hatte mich dazu entschieden, Jounouchi zu zeigen, dass ich ihn nicht mehr brauchte. Ich würde ihn überlegen in einem Duell besiegen und somit auch meine dunkle Vergangenheit, die mich in meinen Träumen verfolgte. Ich wollte zurück zu der Zeit, wo ich unbekümmert war und die neuesten Klamotten mein Herz höherschlagen ließen. Außerdem stand seit dem Königreich der Duellanten eine Revanche aus.
 

Obwohl ich mir sagte, dass ich Valon hassen müsste, freute ich mich über sein Angebot. „Du blöder Mistkerl... was will der eigentlich von mir?“, murmelte ich vor mich her, als er gegangen war und schüttelte den Kopf.
 

Ganz egal wie gut ich schauspielerte, Valon entlarvte stets meine Lügen. Die Zeit in der Doma Organisation hatte viele schlimme Erfahrungen mit sich gebracht, doch es war nicht alles schlecht. Valon lauerte mir ständig auf. Immer sprach er mich an. Und komischerweise war er immer dann da, wenn ich dabei war, mich in meinen negativen Gedanken zu verlieren. Aber ich wollte seine Hilfe nicht annehmen. Selbst wenn ich ihn auf das Übelste beschimpfte oder ihn einfach nur ignorierte, störte ihn das nicht und er kam immer wieder zu mir zurück. Ich wollte es mir selbst nicht eingestehen, doch ich war unglaublich glücklich darüber, dass er sich nicht von meinen Worten abschrecken ließ. Stattdessen wuchs sein Interesse an mir.
 

Doch ich hatte erkannt, dass ich weder Valon noch Jounouchi verdiente. Sie waren beide zu gutherzig. Zu liebevoll. Die Freundschaft zu den beiden hatte mich verweichlicht. Ich hatte verloren, worauf ich einst so stolz war. Meine Unabhängigkeit. Meinen Mut. Meine Stärke. Denn sie hatten mir beide etwas gegeben, das ich in meinem Leben immer vermisst hatte: Geborgenheit und das Gefühl gebraucht zu werden. Freundschaft. Etwas, wonach mein Herz seit meiner Kindhei sich gesehnt hatte. Doch ich konnte dies nicht akzeptieren. Weil ich mich selbst nicht lieben konnte. Ich hasste mich für meine dummen Entscheidungen. Also hatte ich den Entschluss gefasst, mich erst wieder mit ihnen zu treffen, wenn wir auf derselben Augenhöhe waren. Ich wollte ihnen ebenbürtig sein. Ich sehnte mich nach wahrer Stärke. Diese Stärke, die ich wollte, sollte aus meinem Herzen kommen und nicht geliehen sein.
 

Nicht nur hatte ich Jounouchi, der mich als seine Freundin bezeichnete und sich jeder Gefahr entgegenstellte, vor den Kopf gestoßen, auch Valon, der sein Leben für mich riskiert hatte und mir seine Liebe gestanden hatte, hatte ich ohne Anhaltspunkte verlassen. Das einzige, das uns verband, war die Harpyie. Ich hatte sie ihm überlassen, denn ich hatte nicht den Mut ihn direkt zu konfrontieren und mich zu entschuldigen. Wie sollte ich mit ihm reden? Oder gar seine Gefühle erwidern? Ich wollte jemand werden, auf den sich selbst stolz sein konnte. Ich wollte stark werden und in der Lage sein, mich meinen eigenen Ängsten und Problemen zu stellen. Ich war immer stark gewesen. Unabhängig. Mutig.
 

Die Begegnung mit Jounouchi und seinen Freunden hatte mein Leben geprägt. Diese Kinder hatten mich verändert. Ich wurde weich und begann, mich auf andere zu verlassen. Die Sehnsucht danach geliebt und gebraucht zu werden, fesselte mich und wurde meine größte Schwäche. Doch ich wollte stark sein. Und den Mut finden, mich aufrichtig zu entschuldigen. Das war jetzt schon fast sechs Jahre her. Seitdem hatte ich weder mit Valon noch mit Jounouchi Kontakt. Das ist gut so, redete ich mir ein, denn du hast es nicht anders verdient. Du hast ihre Freundschaft ausgenutzt und du hast kein Recht, ihnen unter die Augen zu treten. Besser, es bleibt wie es jetzt ist, bevor du es wieder vermasselst und du sie noch mehr verletzt.
 

Vielleicht hatten sie mich auch schon vergessen. Als ich mich aus der aktiven Duellantenszene verabschiedete und begann, mein Leben neu aufzubauen, sah ich auch viele Gesichter nicht mehr. Ich war 27 als ich mich dazu entschied, dass ich etwas Neues ausprobieren wollte und dass es keinen Sinn machte, immer nur der Vergangenheit hinterherzutrauern. Nichts änderte, was ich getan hatte. Ich musste die Konsequenzen meiner Entscheidungen akzeptieren.
 

Mit Vivian hatte ich immer noch Kontakt, immer wieder schrieb sie mir eine SMS, dass sie nun mit Prominenten XY zusammen war. Doch es hielt nie lange an und wenn es zu Ende ging, brauchte sie meinen Trost. Mein Leben war langweilig und banal. Es gab nichts mehr, über das ich lächelnd erzählen konnte. Mittlerweile glich jeder Tag dem anderen und manchmal, da erwischte ich mich selbst, wie ich der wilden Vergangenheit hinterher trauerte und mich ermahnte, den Blick nach vorne zu richten. Oft fühlte ich mich einsam und fragte mich, wie es meinen Freunden in Japan ging. Wie war es ihnen ergangen? Sie mussten nun über 20 sein.
 

Yuugi hatte sich als Duellant einen Namen gemacht. Sowohl Kaiba als auch Yuugi zierten regelmäßig das Cover der Duel Monsters Fachzeitschrift Duelist Today. Auch wenn ich nicht mehr aktiv an Turnieren teilnahm, liebte ich Duel Monsters immer noch und kaufte mir die Zeitschrift regelmäßig. Yuugi hatte sich kaum verändert. Er war etwas gewachsen und seine Gesichtszüge wirkten maskuliner als zuvor, doch seine schüchterne Art hatte er nicht abgelegt. Immer wieder waren Paparazzi Fotos von ihm abgedruckt, wo es eindeutig zu erkennen war, dass er sich unwohl fühlte und nicht abgelichtet werden wollte. Jounouchi war stets an seiner Seite. Die beiden waren auch immer zusammen!
 

Jounouchi war auch kein unbeschriebenes Blatt, trotz seiner sehr eigensinnigen und einzigartigen Strategie, die hauptsächlich auf Glück basierte, war er in der Weltrangliste einen Platz nach dem nächsten nach oben geklettert. Ich war glücklich darüber, zu sehen, wie sehr er sich verbesserte und wünschte ihm aus tiefstem Herzen alles Glück der Welt.
 

Über die anderen wusste ich fast gar nichts. Anzu und ich hatten nie unsere Handynummern ausgetauscht. Ob es der kleinen Shizuka gut ging? Nun, vermutlich war sie nicht mehr ganz so klein. Doch ich traute mich nicht, den Kontakt zu ihnen aufzubauen. Die Scham darüber, wortlos aus ihrem Leben verschwunden zu sein, war einfach zu groß. Da war diese Barrikade in meinem Kopf, die ich von selbst nicht zu erklimmen mochte. Sechs Jahre später glaubte ich, dass ich immer noch nicht das Recht hatte, sie wiederzusehen. Weder Jounouchi. Noch Valon. Und auch Yuugi und die anderen nicht. Ich schämte mich zu sehr, doch tief in meinem Herzen, ja, da wollte ich gerne mit ihnen lachen.
 

Feierabend. Freundlich verabschiedete ich mich von meinen Kollegen und machte mich auf den Heimweg. Den Motorradhelm setzte ich auf, machte es mir auf meiner Maschine bequem und fuhr los. Wenn der Wind mir auf die Haut schlug und die Umgebung an mir vorbei rauschte, hatte ich wieder das Gefühl von Freiheit erlangt, welches ich mir immer so sehr ersehnt hatte. Plötzlich überholte mich jemand.
 

„Du Vollidiot! Pass doch besser auf!“, schrie ich ihm hinterher.
 

Daraufhin fuhr er etwas langsamer. Es schien so, als wollte er einen Blick in mein Gesicht erhaschen.
 

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, mich an etwas oder besser gesagt jemanden zu erinnern. Er fuhr genauso fahrlässig und äußerst gewagt. Ungewollt holten mich Erinnerungen ein, leuchtende kobaltblaue Augen und ein Mund, frech zu einem Grinsen geformt, kamen mir in den Sinn. Durch den fließenden Verkehr und die Straßenlichter, die sich auf seinem Helm widerspiegelten, war es mir unmöglich, das Gesicht des Unbekannten zu erkennen. Ich bog in eine andere Straße ab. Vor meiner Wohnung überlegte ich weiter.
 

Dieser riskante Fahrstil... konnte das Valon sein? Nein, viel zu unwahrscheinlich.
 

Ich hatte mein altes Leben hinter mir gelassen und einen neuen Lebensabschnitt angetreten. Die Kujaku Mai von damals war nur noch eine blasse Erinnerung. Als ich den Schlüssel im Schloss umdrehte, öffnete sich meine Wohnungstür und ich trat ein. Ein Geruch kam mir entgegen. Nein, es waren mehrere. All die Düfte im Laden hafteten an mir. Nicht, dass es unangenehm gewesen wäre, aber ich entschloss dennoch duschen zu gehen und mich von den Fesseln meiner Arbeit zu befreien. Langsam entledigte ich meiner Kleidung, öffnete meinen Zopf und ließ mein langes blondes Haar über meine schmalen Schultern fallen. Das Geräusch des heißen Wassers, das auf den Boden plätscherte, gab mir ein Gefühl von inneren Frieden.
 

Vorsichtig, damit ich nicht ausrutschte, trat ich unter die Dusche. Mein langes Haar klebte nun an mir. War dieser Fremde wirklich Valon? Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn noch einmal wieder zu sehen. Meine Harpyien Karte befand sich in seinem Besitz. Ich hatte sie ihm geschenkt, um wenigstens auf diese Weise mit ihm verbunden zu sein. Mein Herz schlug schneller. Ich durfte ihm nicht nachtrauern. Ich schloss meine Augen und lauschte meinem Herzen.
 

Warum freue ich mich so sehr darüber, ihn wiederzusehen? Ich weiß doch nicht mal, ob dieser rücksichtslose Fahrer überhaupt er war. Das ist doch nur eine dumme Vermutung! Hör auf, dir Hoffnungen zu machen. Er kommt nicht zu dir zurück, versuchte ich mich gedanklich zu beruhigen. Warum auch sollte er nach mir suchen? Wahrscheinlich hatte er die Harpyie schon längst entsorgt! Ich wäre sehr wütend darüber, würde man mich so unverschämt versetzen und er hatte auch gar keinen Anlass, nach mir zu suchen oder mir zu folgen. Es war eine reine Zweckgemeinschaft. Dartz war tot und somit auch unser Bündnis. Wir waren eine Familie, weil wir gemeinsame Ziele hatten, doch darüber hinaus, gab es keinerlei Anlass für ihn, sich mit mir abzugeben.
 

Genau. Valon lebt jetzt sein eigenes Leben. Ihm geht es jetzt besser. Sicher hatte er Mitleid mit mir und ist mir deshalb immer hinterhergelaufen. Ich darf diese Güte nicht mit Liebe verwechseln, auch wenn er gesagt hat, dass er mich liebt. Es sind zu viele Jahre vergangen. Gefühle verändern sich und er wollte mir nur helfen, wollte ich mich überzeugen und dennoch keimte in mir dieser kindische Gedanke auf, dass er vielleicht doch nach mir suchte und wir unsere Differenzen beiseite legen könnten und wieder Freunde sein könnten. Das einzige, was dem im Weg stand, war ich selbst. Meine Sturheit. Meine Angst, mich zu offenbaren und verletzt zu werden. Und trotzdem... wollte ich ihn wiedersehen.
 

Verdammt... wieso muss ich jetzt daran denken? Dieser Idiot... er bedeutet mich nichts. Ich darf mich nicht so sehr an Erinnerungen klammern. Mann, Mai! Komm wieder auf den Boden der Tatsachen und hör auf dir alles schön zu reden!, grummelte ich gedanklich und verteilte das duftende Shampoo mit noch mehr Nachdruck, sodass der Schaum mich vollends einhüllte.
 

Es war ein Abschied und ein Neubeginn. Als unsere Seelen von der Gefangenschaft Leviathans in die Freiheit gelangten, hatte er meine Hand genommen. Uns war die Möglichkeit gegeben unseren Rettern – also auch Jounouchi – von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten. Wir entschieden uns dagegen. Nach allem, was wir getan hatten, war es für uns viel zu unangenehm sie zu sehen. Besonders für mich. Was hätte ich sagen sollen? Dass es mir leidtäte, was er und seine Freunde wegen mir durchmachen mussten?
 

Worte allein waren nicht genug. Es gab nichts, was ich ihnen sagen konnte. Ich fürchtete mich vor ihrer Ablehnung und in meinem Kopf spielten sich tausend Szenarien ab. Der Gedanke, dass Jounouchi mich nun hassen könnte und er mir sagte, dass er mich nie wiedersehen wollte, weil ich ihm nur Ärger bereitete, machte mir unendlich Angst, also entschied ich mich dazu, ihn nicht wiederzusehen. Ich hatte Jounouchi Ärger gemacht. Nur wegen mir hatte er seine Seele verloren.Wäre ich von Anfang an ehrlich mir selbst gegenüber gewesen und hätte den Mut aufgebracht, sie zu kontaktieren, wären die Dinge nie derart ausgeufert. Ich trug die Schuld auf meinen Schultern. Das hatte ich mir gesagt.
 

In einem Strandhaus lagen unsere Körper sanft in Betten gelegt. Valon schlief tief und fest. Ich starrte auf den Ozean, überlegte und musste mir eingestehen, dass ich zu viele Fehler begangen hatte. Viel zu überstürzt handelte ich, ließ Valon meine liebste Karte da und setzte mich auf meine Maschine. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte. Ich hatte ihn und Jounouchi einfach aus meinem Leben gestrichen. Ich wollte mich nicht mit meinen eigenen Fehlern auseinandersetzen und meinen Stolz als Duellanten wiederfinden, damit ich das Recht erlangte, sie wiederzusehen. Nur meinetwegen hatten beide leiden müssen.
 

Müde stieg ich aus der Dusche, trocknete meinen nassen Leib und zog mir frische Kleidung an.
 

Der bekannte Klingelton meines Handys riss mich aus meinen Gedanken, die von Erinnerungen an die Vergangenheit erfüllt waren. Das Leuchten des Displays und ein kleiner Blick auf diesen, verriet mir, dass ich eine SMS bekommen hatte. Ich öffnete sie und sah, dass Vivian mir geschrieben hatte.
 

>Hey Mai! ♥ Kennst du Jean-Claude Magnum? Er redet so viel von dir! Wie geht es dir denn?<, lautete ihre Nachricht.
 

Urplötzlich erschauderte ich, bemerkte ein unangenehmes Zucken in meinem linken Auge und schüttelte mich, um die aufkommenden Szenen zu unterdrücken, die vor meinem geistigen Auge auftauchten. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Kurz verdrehte ich die Augen, als ich den Namen von diesem aufdringlichen Kerl las, antwortete ihr dann aber in knappen Sätzen. Von diesem Magnum hatte ich eindeutig genug! Ich war nur heilfroh, wenn ich diesen Idioten nie wieder sehen musste. Immer noch grummelnd setzte ich mir Kaffee auf, machte mir Toast und griff nach einem Pfirsich. Die süße Frucht roch verführerisch.
 

Mit meinem Abendessen begab ich mich in mein kleines Wohnzimmer. Nur ein Knopfdruck war nötig, um den Fernseher anzuschalten. Kaibas ernster Gesichtsausdruck strahlte mir entgegen. Genüsslich biss ich von meinem Brot ab. Hatte ganz vergessen, dass dieser Kerl ebenfalls geschäftlich in Amerika war, dabei wurde dies auf beinahe allen Nachrichtensendern gesendet und in diversen großen Tageszeitungen gedruckt.
 

In dem weißen Anzug sieht er ja richtig erwachsen aus. Sieht auf jeden Fall besser aus als dieser schäbige Flattermantel aus den Achtzigern, schoss es mir durch den Sinn und ich grinste leicht amüsiert. Kaibas Kleidungsstil war mindestens genauso ungewöhnlich wie er selbst!
 

Großes Interesse an ihm hatte ich nie gehabt, da ich nie viel Kontakt zu ihm hatte und ihn lediglich als Duellanten in Turnieren kennengelernt hatte, trotzdem sah ich mir seine Ansprache und die darauf folgende Reportage an. Er hatte Pläne für einen neuen Kaiba Park in Amerika, seine Augen strahlten voller Lebensfreude und immer wieder stahl sich ein begeistertes Lächeln auf seine Lippen. Es kam äußerst selten vor, dass man diesen jungen Firmenleiter überhaupt lächeln sah, doch wenn er über sein Unternehmen sprach oder seine zukünftigen Pläne, schien er ein anderer Mensch zu sein. Auch während seiner Duelle gegen seinen ärgsten Rivalen Mutou Yuugi ließ er eine andere Seite durchscheinen.
 

Mokuba, sein kleiner Bruder, kam zu Wort. Sein Name und sein Alter wurden eingeblendet. 17? Der jüngere Kaiba wurde auch langsam erwachsen. Seine Haare waren nun kurz und der weiße Anzug ließ ihn äußerst stattlich aussehen. Aus dem Kind wurde ein Mann. Unglaublich, wie schnell die Zeit verging. Staunend griff ich nach meinem Kaffee und nippte vorsichtig an der heißen Flüssigkeit.
 

Ich hatte Kaiba ganz anders in Erinnerung, stets hatte er einen unglaublich klugen Spruch auf Lager, scheute nicht davor seine Intelligenz zur Schau zu zeigen und Mokuba hing immer an seinem Rockzipfel – obwohl es sich hierbei eher um einen Mantel handelte. Kaiba war nun auch kein Knabe mehr, sondern ein erwachsener Mann. Seine Gesichtszüge wirkten reifer, sogar etwas kantiger und er strahlte eine gewisse männliche Würde aus, die vermutlich den meisten Frauen ein entzücktes Seufzen entlockte. Vielleicht war er auch endlich lockerer geworden? Früher war er immer so ernst und ein richtiger Perfektionist, außerdem ließ er niemanden an sein Inneres, versuchte dieses vor anderen geheim zu halten.
 

Ich erinnerte mich noch gut daran, wie sehr er darum bemüht war, eine gewisse Distanz zwischen sich und Yuugi aufzubauen, doch es war für jeden ersichtlich, dass sein Interesse nur seinem Rivalen galt. Er hatte sich zu einem stattlichen Mann entwickelt. Sicher gab es viele junge Frauen, die Interesse an ihm hatten.
 

„Die Kaiba Corporation wird in den nächsten Jahren viele Pläne umsetzen. So verkünde ich heute mit Freude, dass ich an einem geheimen Projekt arbeite. Ein neues Spiel, das die Gamingszene komplett erschüttern und sicher dem ein oder anderen den Atem verschlagen wird! Dieses Spiel wird einzig und allein in den Kaiba Parks spielbar sein“, hörte ich seine Stimme tönen. Er schien mit Stolz erfüllt. Ein neues Spiel? Nun, es war ja nicht ungewöhnlich für die Kaiba Corporation Spiele herauszubringen, immerhin handelte es sich ja auch um eine Spielefirma.
 

Als ich meinen Teller geleert hatte, erhob ich mich und wanderte in Richtung Küche, stellte dort meinen Teller in die Spüle und bequemte mich zurück. Entnervt stöhnte ich auf, als die Werbung mich begrüßte. Jedoch wurde meine Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher gelenkt, als Kaibas Gesicht erneut schien und er ein neues Turnier bekannt gab. In nur wenigen Tagen würde es stattfinden und der König der Spiele würde sehr wahrscheinlich dabei sein. In Gedanken ermahnte ich mich. Ich sollte nicht daran denken. Unentschlossen biss ich mir auf die Unterlippe, kaute auf dieser. Wie in Trance bewegte ich mich in mein Schlafzimmer und öffnete eine Schublade.
 

Mein Deck blickte mir entgegen und ich entnahm es vorsichtig, betrachtete die einzelnen Karten, die im Licht der Lampe leicht aufzublitzen schienen. In Erinnerungen schwelgend, begab ich mich zurück ins Wohnzimmer. Tatsächlich wollte ich mir die Karten nur ansehen, konnte aber nicht verhindern mein Deck aufzustellen und mir verschiedene Strategien auszudenken. An dem Turnier teilnehmen wollte ich nicht, denn ich hatte lange Zeit nur noch privat gespielt und war mir nicht sicher, ob ich es momentan mit großen Gegnern aufnehmen konnte. Was lediglich als Zeitvertreib anfing, wurde immer ernster und obwohl ich mich immer wieder ermahnte und mir sagte, dass ich nicht teilnehmen würde, konnte ich die aufkeimende Lust nach einem Spiel nur schwer unterdrücken.
 

Glücklicherweise fand das Turnier an einem Samstag statt, sodass die Teilnahme rein theoretisch möglich war, da ich genau an diesem Tag frei hatte. Wenn ich teilnahm, würde ich garantiert einige vertraute Gesichter wieder sehen und unter Leute kommen.
 

Wieder dudelte mein Handy, skeptisch betrachtete ich es. Vivian hatte geantwortet und ich freute mich. Anstatt ihr eine SMS zu schreiben, wählte ich ihre Nummer und erzählte ihr von dem Turnier und meinen Zweifeln wegen der Teilnahme.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2015-06-01T10:15:43+00:00 01.06.2015 12:15
Hallo!

Yugi-Oh ist leider gar nicht mein Fandom, daher kann ich nicht beurteilen, ob du die Charaktere wie im Original getroffen hast. Das, was ich aber herauskehren möchte, ist Mais Art mit ihrem Alltag umzugehen. Sie hat eine feste Struktur, einen sicheren Arbeitsplatz, ist mit dem Notwendigen versorgt - und dennoch merkt man durch viele kleine Kommentare von ihrer Unzufriedenheit. Einerseits spiegelt sich das im Vergleich zu Vivians Lebensstil (neue Partner, anderes Land, ...), andererseits durch den Blick auf Seto. Sogar der hat sich gemacht und herausgeputzt, obendrein spürt man die stille Begeisterung für sein Tun.
Und Mai? Nun, die liebt ihre Freiheit nur auf dem Motorrad ("der kühle Wind auf der Haut" war eine schöne Phrase!) und vergleicht die Arbeit mit "Fesseln". Kein Wunder, dass sie sich nach der lockeren Jugendzeit sehnt, in der man sich nur auf Strategien und Siegesfreude konzentrieren brauchte.
Übrigens, einige Kasus-Fehler sind mir über den Weg gelaufen, z.B. "gab mir ein Gefühl von inneren Frieden" (innerem Frieden)

Mal schauen, wem sie auf dem Turnier begegnet!
Viele Grüße,
Morgi
KomMission-Unterstützerin, für mehr Feedback auf Animexx :-)


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