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Un Monstre á Paris

Eine Liebe in Trümmern, eine Andere wächst
von

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Die, in der der Singvogel die Liebe wieder findet

Kapitel 4: Die, in der der Singvogel die Liebe wieder findet

 

Eine Woche war vergangen seit Lucille endgültig mit Raoul gebrochen hatte. Noch immer spürte sie eine Leere und ein Loch in ihrem Herzen, doch wurde es Tag um Tag weniger, denn sie hatte ja noch Francoeur. Er war so lieb, so eine angenehme Gesellschaft die sie niemals missen wollte, und war so aufmerksam. Immer für sie da, immer um sie besorgt, und war er auch der Grund wenn sie herzhaft lachen musste.

 

Raoul war nur noch eine unliebsame Erinnerung, eine Phase in ihrem Leben. Doch nun hatte das neue Leben für sie begonnen. Jeden Tag übte sie sich in ihrem Gesang und probte mit Francoeur neue Lieder ein. Abends gingen sie manchmal ins Theater oder saßen einfach nur zu Haus und sie lasen sich gegenseitig aus Büchern vor.

 

********

 

Wieder war ein Tag herum gegangen. Sie war noch nicht müde, aber erschöpft vom Gesangsunterricht, denn Francoeur nahm sie zeitweise hart ran, und forderte alles von ihr. Nun stand sie im Nachtkleid, gehüllt in ihrem seidenen Bademantel in ihrem Zimmer und betrachtete ihre Hand. Die Hand an dem der Verlobungsring funkelte. Der Ring von Raoul. Bisher war er an ihrem Finger geblieben, doch nun war Schluss. Er hatte keine Bedeutung mehr. So streifte sie ihn ab und nahm auch das Bild, auf der sie mit Raoul abgebildet war und legte es in einen Beutel. Das würde sie auf den Dachboden bringen.

 

„Lucille?“, rief Francoeur aus dem Salon. Heute Abend war wieder Leseabend.

„Ich komme“, rief sie und ließ den Beutel achtlos neben der Kommode fallen.

 

Als sie ins Salon ging, begann sie zu lächeln. Wie immer hatte es Francoeur sehr gemütlich gestaltet. Die Lampe blieb aus, auf dem Beistelltisch stand eine alte Öllampe die genug Licht zum Lesen schaffte und links und rechts neben der Chaiselongue standen hohe Kerzenständer mit brennenden Kerzen, die für romantisches Licht sorgten. Und natürlich, für jeden eine heiße Tasse Tee und eine große kuschelige Decke.

 

Francoeur hatte bereits sein neues Buch in der Hand, welches er am Vortag in einer Buchhandlung entdeckt hatte. Im letzten Jahr war ein junger Journalist und Autor ins L'Oiseau Rare gekommen und hatte sich ein wenig mit Lucille und Francoeur nach der Show unterhalten. Er sagte das er schon einige Male gekommen sei und die beiden ihn die nötige Inspiration gegeben hatten, an seinem Buch an dem er gerade arbeite weiter zu schreiben, da er gerade an immenser Lustlosigkeit leide und sein Kopf brumme.

„Ist dass das Buch von Leroux von dem er erzählt hatte?“, fragte Lucille als sie sich zu ihm setzte und sich in die Decke kuschelte. Sie rückte näher und legte die Decke auch über Francoeur's Schoß.

 

„Ja, und es klingt sehr interessant. Es heißt 'Le Fantôme de l'Opéra'.“

 

„Ein vielversprechender Titel. Na dann mal los“, sagte Lucille und kuschelte sich gemütlich in die Decke und lehnte sich an Francoeur.

 

Er genoss einen Moment das warme Gefühl ihres Körpers und sog den Duft ihrer frisch gewaschenen Haare ein. Doch bevor Lucille etwas merken konnte, fasste er sich wieder und begann zu lesen.

 

Am Abend der Galavorstellung, die Monsieur Debienne und Monsieur Poligny, die zurücktretenden Direktoren der Oper, anlässlich ihres Abschieds gaben, stürzte plötzlich ein halbes Dutzend Dämchen des Corps de ballet nach ihrem Auftritt in Polyeucte ganz aufgeregt in die Garderobe der Sorelli, einer gefeierten Primaballerina. Die einen lachten übertrieben und unnatürlich, die anderen …..“

 

Gebannt vom ersten Wort an lauschte Lucille den vorgelesenen Worten. Nur selten hatte sie versucht ein Buch zu lesen, doch nur noch seltener hatte sie es zu Ende gelesen. Sie war nie eine große Leserin gewesen, auch war sie mit anderen Dingen beschäftigt. Als Kind trauerte sie um ihre Eltern, in der Pupertät war ihr Körper und die dummen und nicht dummen Jungs interessant, ihre Freundinnen, später ihre magere Gesangsausbildung und nun ihre Karriere. Und dieses Buch war so schön im Klang und spannend geschrieben, das Francoeur's Stimme es perfekt machte.

 

'Das Phantom der Oper!'

Die Jammes stieß diese Worte mit unbeschreiblichem Entsetzen hervor und deutete dabei mit dem Finger in der Menge der Befrackten auf ein so bleiches, schauriges, hässliches, hohläugiges Gesicht, dass der von ihr bezeichnete Totenkopf sofort großen Erfolg einheimste.

'Das Phantom der Oper! Das Phantom der Oper!'

Man lachte darüber, man drängte zu ihm hin, man wollte dem Phantom der Oper etwas zu trinken anbieten – aber es war verschwunden!

 

„Warte, warte!“, rief Lucille hinein. „Ich mache uns noch eine Tasse Tee, willst du vielleicht ein paar Kekse? Habe letztens welche bei Chocolate gekauft, die sind sehr lecker.“

 

Eilig aufspringend wie ein Kind das nichts von ihrer Lieblingsgeschichte verpassen wollte, lief sie in die Küche und hantierte eifrig herum. Zehn Minuten später kam sie mit dampfenden Tassen Tee und eine Tüte Kekse, im Mund tragend zurück in den Salon. Sie stopfte sich einen Keks in den Mund und ehe Francoeur etwas sagen konnte, wurde auch ihm einer in den Mund geschoben. Natürlich war Francoeur's Magen nicht in der Lage diese feste Nahrung zu verarbeiten, doch leckte er gerne daran, da es schön süß war. Auch war er ein großer Bewunderer von Schokolade und Eis.

Er schleckte ein wenig daran, legte es auf den Tisch ab und begann weiter zu lesen. Die Zeit verging schnell und nach wenigen Minuten, so kam es Lucille vor, waren sie schon zehn Seiten weiter.

 

Richard sagte: 'Mir scheint, dass Sie das Phantom äußerst freundlich behandeln. Wenn ich ein so lästiges Phantom hätte, ließe ich es auf der Stelle verhaften. . .'

'Aber wo? Und wie?', riefen sie im Chor. 'Wir haben es noch nie gesehen!'

'Nicht einmal in seiner Loge?'

'Wir haben es noch nie in seiner Loge gesehen.'

'Dann vermieten Sie es doch!'

'Die Loge des Phantoms der Oper vermieten! Nun gut, Messieurs, versuchen Sie es!'

Daraufhin verließen wir zu viert das Direktionszimmer. Richard und ich hatten noch nie so gelacht.'“

 

Seite um Seite wurde gelesen, mittlerweile waren es über hundert Seiten und es wurde nicht langweilig. Doch obwohl das Buch so spannend war, wurde Lucille langsam müde.

 

Das Phantom lachte ihnen in den Nacken! Schließlich hörten sie in ihrem rechten Ohr deutlich seine Stimme, die unmögliche Stimme, die mundlose Stimme, die sagte:

'Heute Abend hält nicht einmal der Lüster ihren Gesang aus!'

Beide blickten gleichzeitig zur Decke und stießen einen entsetzten Schrei aus. Der Lüster, der riesige Lüster löste sich bei den Worten der teuflischen Stimme von seinem Haken, kam von der Höhe des Saals herunter und landete klirrend in der Mitte der Orchestersitze. Eine Panik entstand, und jeder versuchte sich zu retten. Ich möchte diese historische Stunde hier nicht in allen Einzelheiten heraufbeschwören. Neugierige brauchen nur die damaligen Zeitungen aufzuschlagen. Es gab zahlreiche Verletzte und Tote.

Der Lüster zerschmetterte der Unglücklichen den Kopf, die an jenem Abend zum ersten Mal in ihrem Leben in der Oper war und die Richard zur Vertreterin von Madame Giry, der Logenschließerin des Phantoms, ausersehen hatte. Sie war auf der Stelle tot, und am nächsten Tag lautete die Schlagzeile in der Zeitung: Zweihunderttausend Kilo auf dem Kopf einer Concierge! Das war der einzige Nachruf. …. …. Wir sollten schlafen gehen, Lucille“, beendete Francoeur das Kapitel und schloss das Buch.

 

Wie zu einem Zeichen begann Lucille zu gähnen und lehnte sich an Francoeur.

„Du hast recht. Ich kann auch nicht mehr wirklich zuhören, aber morgen müssen wir unbedingt weiter lesen.“

 

„Wenn wir nach der Show morgen Abend fit genug sind“, lächelte Francoeur, nahm sie auf die Arme, woraufhin sie lachend ihre Arme um seinen Nacken legte, und trug sie in ihr Zimmer. Dort legte er sie ins Bett und deckte sie zu.

„Ich bin doch kein Kind mehr“, lachte Lucille.

„Bonne nuit“, wünschte Francoeur ihr eine gute Nacht und ging hinaus. Er schloss die Tür hinter sich und strich noch einmal sacht über die Tür.

„Bien Réve, mon Chéri.“ - Schöne Träume, Liebste!

 

Lucille kuschelte sich in ihre Decke und schloss die Augen. Eine Weile dachte sich noch über das Vorgelesene nach. Es gefiel ihr sehr und sie glaubte zu wissen das es ihr Lieblingsbuch werden würde, vor allem aber da sie die Parallelen entdeckte und sich mit der Protagonistin Christine identifizieren konnte. Auch sie hatte bereits als Kind ihre Eltern verloren, war nun Sängerin, hatte ihren Liebsten aus Kindheitstagen, der ebenfalls Raoul hieß und es gab das Phantom, das Monster. Doch ihr Monster, war nicht wirklich ein Monster, sondern das liebenswerteste Wesen auf Gotteserde das sie kannte.

 

Nur das der Buch-Raoul für sie nichts sympathisches an sich hatte. Er erschien ihr wie ein verweichlichtes Mädchen, welches nur den Namen eines Mannes trug. Er jammerte ihr hinter her statt sie in Ruhe zu lassen, wie sie es von ihm verlangt hatte. Natürlich hatte das nichts damit zu tun das ihr Raoul so ein Idiot gewesen war, nicht im geringsten. Darüber spekulierend wie es denn womöglich weiter ginge in der Geschichte, driftete sie ins Traumland.

 

********

 

Die Show am nächsten Abend war ein voller Erfolg. Es war eines von Francoeurs neuesten Kompositionen gewesen, in letzter Zeit wurde er von einer fleißigen Muse geküsst, die ihn Tag ein, Tag aus mit neuen Liedern versorgte.

Lucille fragte sich woher diese Schaffensperiode gekommen war. Nicht das er nicht schon immer sehr musikalisch begabt war, doch in den letzten Wochen, hatte sich auch in ihm etwas gewandelt. Etwas, das ihn noch mehr Inspiration gab.

 

Auf ein Zeichen von Francoeur machte Lucille sich bereit während er an dem Klavier saß, welches schräg hinter ihr stand und extra aus ihrer Garderobe bereit gestellt worden war. Eine einfache kleine Melodie erklang, als er seine Finger über die weißen Tasten bewegte.

 

Denk an mich,

denk an mich zärtlich,

wie an einen Traum.

Erinn're dich!

Keine Macht trennt uns,

außer Zeit und Raum.

An dem Tag,

wann er auch kommen mag,

an dem du Abschied nimmst von mir.

Lass das Gestern weiterleben,

schließ es ein in dir!
 

 

Plötzlich schwall die Musik zu des Orchesters an, da auch die anderen Instrumente zum Einsatz kamen, welches zu einem herrlichen Solo ansetzte. Bevor wieder Lucille zu singen begann, nahm die Musik an einigen Instrumenten ab und eine sanfte Melodie wurde gespielt.

Natürlich war

von allem Anfang klar,

kein Glück kann leuchten ewiglich.

Aber wenn du dich allein fühlst,

immer denk an mich!

Denk an unsre Zeit im Sonnenschein.

Am Himmel stand der Mond im Sternenschein.

Denk an mich!

Sieh meine Zeichen,

wenn du dich verirrst!
 

Versuche mich

schnell zu erreichen

wenn du müde wirst!

Dann denk an mich!

Und quälen Sorgen dich,

dann träum dich heimlich her zu mir!

Und wo immer du auch sein magst,

such mein Bild in dir!

Wie spielte das kleine Orchester ihr Solo und berauschte die Gäste des Cabarets förmlich, welche gebannt zuhörten.

Was entsteht,

auf dieser Welt vergeht

Und eines Tags auch du und ich.

Doch Gefühle sind unsterblich.

Bitte denk ….
 

 

Nun holte Lucille noch einmal Luft, zum einen um die nächste kurze Passage zu überstehen und zum einen um ihre Nervosität zu verscheuchen. Jetzt kam wieder ein Moment in dem sie den Zuhörern zeigte was Francoeur aus ihrer Stimme gemacht hatte und obwohl sie um ihren Talent wusste, hatte sie noch immer Angst das sie versagen könnte.

Doch ohne einen Fehler oder einen schiefen Ton, kam aus ihrer Kehle die reinen hohen Tonleitern, die Francoeur ihr zu liebe eingebaut hatte, um es ihr leichter zu gestalten.
 

 

Ah ah ah ah ah ah aaaah

ah ah ah ah ah ah aaaaah

ha ha ha ha ha ha

aaaaann MICH!
 

 

Wie durch Zauberhand war die Nervosität verschwunden und der hohe reine Ton entsprang ihrem Hals als wäre es das Leichteste der Welt.

Die Zuhörer standen begeistert auf und klatschten als gäbe es kein Morgen mehr. Rosen fanden auf ihrer Flugbahn ihren Weg zu ihren Füßen und sogar zwei ganze Sträuße wurden von zwei Bewunderern auf die Bühne gelegt.

Gerührt schüttelte Lucille ihnen die Hand, nahm die Sträuße an und bedankte sich. Mit Francoeur an ihrer Seite verbeugte sie sich und trat zurück, damit der schwere Vorhang hinunter gelassen werden konnte.

 

„Oh Liebes, das war hinreißend, das war phänomenal, das war so fantastisch. Deine Stimme war schon immer sehr liebenswert, doch nun glaube ich das du es einmal zu einer großen Primadonna schaffen kannst“, plapperte Carlotta aufgeregt und schloss ihre Nichte in den Arm.

 

„Danke, aber das ist doch sehr übertrieben“, lachte Lucille und löste sich von der engen Umarmung, die ihr das Gefühl gab, bald keine Luft mehr zu bekommen.

 

„Ach was. Francoeur, sag du doch auch mal was dazu“, wandte sie sich an den großen Floh. Doch dieser wagte nicht etwas zu sagen, da er sich nicht einmischen wollte und zuckte nur mit den Schultern.

 

An diesem Abend gingen sie nicht so schnell nach Hause. Ab und zu sah Lucille sich in der Pflicht ihren Fans und Verehrern die Gelegenheit zu bekommen mit ihr zu sprechen und kennenlernen zu können. Das verlangte die Gesellschaft nun einmal, auch wenn sie nicht immer Lust dazu hatte.

 

Hier und dort gesellte sich Lucille der schnatternden Runde dazu. Lernte Aristokraten oder auch Gelehrte kennen, erhielt Glückwünsche und nahm dankbar Blumensträuße oder auch Spenden für das Cabaret l'Oiseau Rare.

 

Spät kamen sie nach Hause und beide waren so erschöpft das sie zu ihrem Leidwesen nicht mehr weiter lesen konnten und gleich zu Betten gingen.

 

********

 

In den nächsten Tagen waren sie damit beschäftigt weiter an Lucille's Stimme zu arbeiten und sie weiter auszubauen. Sie machte gute Fortschritte und Francoeur war sehr zufrieden mit ihr. Lucille ging völlig in ihrer neuen Freiheit als ungebundene Frau auf und genoss mehr und mehr die ruhigen Stunden mit Francoeur, ohne auch nur einmal an Raoul zu denken. Es war so als hätte ihn niemals gegeben.

 

Nachdem sie eines Abends über ihren rauen Hals klagte verbot ihr Francoeur ihr die ganze Woche über zu singen oder gar zu viel zu reden und so musste ihre Tante Carlotta ohne sie auskommen. Lucille war gerührt wie sehr Francoeur um ihre Gesundheit besorgt war und auf sie aufpasste. Es war ihr unangenehm ihre Tante im Stich zu lassen, doch Francoeur hatte mit seinem Argument – das es nicht besser macht, wenn sie am Ende richtig krank wird – überzeugt.

 

Andererseits kamen sie wieder zu dem Genuss das Buch weiter zu lesen und es war mehr als spannend. Bei Sonnenuntergang begannen sie zu lesen, bis die Standuhr Mitternacht schlug. Natürlich mit kleinen Pausen, in denen Francoeur frischen Tee aufsetzte oder etwas zu knabbern mitbrachte.

 

Liebt er Sie denn so?“

Bis zum Verbrechen!“

Aber seine Wohnung ist nicht unauffindbar. Man wird ihn dort aufsuchen. Solange Erik kein Phantom ist, kann man ihn verhören und sogar zum Sprechen bringen!“

Christine schüttelte den Kopf:

Nein! Nein! Man kann Erik nichts anhaben! Man kann nur vor ihm fliehen!“

Warum sind Sie, da Sie fliehen konnten, zu ihm zurückgekehrt?“

Weil es sein musste! Sie werden das begreifen, wenn ich Ihnen erzähle, wie ich ihn verließ.“

Oh ich hasse ihn“, rief Raoul. „Und Sie, Christine? Sagen Sie es mir! Ich muss es wissen, um mir ruhiger die Fortsetzung dieser merkwürdigen Liebesgeschichte anhören zu können. Christine, hassen Sie ihn?“

Nein“, antwortete Christine schlicht.

Wozu dann die vielen Worte! Sicher lieben Sie ihn! Ihre Angst, Ihr Entsetzen, all das ist Teil der köstlichen Liebe. Der Liebe, die man sich nicht eingesteht“, sagte Raoul bitter. „Der Liebe, die einen erschauern lässt, wenn man an sie denkt. Man stelle sich nur vor: ein Mann, der in einem unterirdischen Palast lebt.“

 

Mon Dieu, ist das spannend“, sagte Lucille und sprang auf, da der Tee sie zur Toilette trieb.

Während sie Wasser aufsetzte und den Tee in den Tassen vorbereitete, überlegte sie kurz über das gesagte von Christine. Die Männerstimme war also ein Mann. Ein richtiger Mann. So wie ihr Monster auch nicht einfach nur ein Monster war.

 

Sie goss das heiße Wasser in die Tassen und holte sie noch ein paar Kekse und Pralinen und kuschelte sich wieder mit einer Selbstverständlichkeit an Francoeur, was ihn etwas aus der Bahn warf und sich damit ablenkte an einem Keks zu lecken, um sich ein wenig Zeit zu verschaffen.

Noch lange saßen die Beiden an dem Buch und lasen.

 

Ich muss an die Wand gepresst, das Entsetzen in Person gewesen sein – und er die Abscheulichkeit in Person!

Da trat er, mit seinen lippenlosen Zähnen fürchterlich knirschend, auf mich zu und überschüttete mich, die ich in die Knie sank, hasserfüllt mit sinnlosen Worten und wahnwitzigen Verwünschungen. Ach Gott, weiß mit was allem!

Über mich gebeugt, rief er:

Schau hin! Du hast es sehen wollen! Sie es dir an! Weide deine Augen, berausche deine Seele an meiner verfluchten Hässlichkeit! Betrachte Eriks Gesicht! Jetzt kennst du das Gesicht der Stimme! Es genügte dir wohl nicht, mich nur zu hören, was? Du wolltest auch wissen, wie ich beschaffen bin! Ihr seid alle zu neugierig ihr Frauen!“

Er stieß ein Lachen aus und wiederholte: „Ihr seid alle zu neugierig ihr Frauen!“

Ein donnerndes, heiseres, schäumendes, gewaltiges Lachen. Er sagte noch andere Dinge wie:

Bist du nun zufrieden? Ich bin schön, wie? Wenn eine Frau mich so gesehen hat wie du, gehört sie mir. Dann liebt sie mich immer und ewig! Ich bin der Typ des Don Juan.“

 

********

 

Den ganzen Tag in er laufenden Woche lag Lucille nur zugedeckt auf der Chaiselongue, las Bücher, aber nicht Le Phantôme de l'Opéra, denn das lasen sie nur gemeinsam und ließ sich von Francoeur verwöhnen. Er kochte für sie und machte ihre Besorgungen.

 

Nach vier Tagen stand sie von der Chaiselongue auf, da sie sich zu tode langweilte und da gerade Franceur nicht zugegen war und ihr nicht Gesellschaft leisten konnte, lief sie mit der Decke um den Schultern durch die Wohnung und wusste nicht so recht was sie tun sollte. Als sie an Francoeurs Zimmer vorbei lief, stand die Tür halb offen, so das sie einen Blick auf sein Klavier mit den vielen Notenblättern sehen konnte.

Neugierig was er denn gerade komponierte ging sie hinein und fand sofort ein Notenblatt, an dem er wohl die letzten Tage gearbeitet hatte. Es hieß Ein gefährliches Spiel und klang sehr vielversprechend.

Schon die ersten Zeilen ließen die Röte in Lucilles Wangen steigen. Es war nicht das typische Liebeslied, es war sehr... leidenschaftlich. Die Neugierde geweckt nahm sie es in die Hand und begann die geschriebenen Noten zu summen. Der gesamte Text war so feurig und ungestüm, das es ihr schon warm wurde und sie die Decke fallen ließ und nur noch im Nachthemd dastand. Es war noch früher Abend, aber da sie sowieso nichts machte, konnte sie sich genauso gut Bettfertig machen.

Auch wenn es ihr noch nicht erlaubt war – Francoeur war sehr streng wenn es um ihre Stimme ging – begann sie zaghaft die Worte zu singen die sie las.

 

Ich fühl' Berührung,

fühl' sanfte Führung,

fühl' ein Vibrier'n,

das mich zärtlich durchfährt.
 

Dein tiefer Blick,

der alle Sehnsucht weckt!

Verbot'ne Früchte,

die mein Körper begehrt!
 

Denn, wenn Du mich berührst,

mich mit Worten verführst.

Deine Augen vereinst mit mir.

Spiel'n die Sinne verrückt,

bin der Welt ich entrückt,

voll Erregung, voll Lust und Gier.
 

Plötzlich erklang Francoeurs Stimme hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um und blickte ihn entgeistert an. So hatte sie ihn noch nie singen gehört.
 

'S ist ein Weg ohne Ziel -
 

Doch statt ihn um Entschuldigung zu bitten, wurde sie durch eine unsichtbare Macht dazu getrieben weiter zu singen.
 

Eine Sünde zu viel
 

Wieder er:

Und mir sagt mein Gefühl -
 

Beide sahen sie sich in die Augen und er kam einen Schritt auf sie zu.
 

ein gefährliches Spiel!
 

Fordernd und lauernd begann er seinen Solo. So hatte sie ihn noch nie singen gehört. Wie gebannt blickte sie ihm entgegen. Ihm, mit seinen schönen roten Augen, die sie auf einmal gefangen nahmen. Er strahlte eine ihr nie gekannte dominante Kraft aus.
 

Ein dunkler Traum,

unecht und endlos,

doch Du begehrst seine Realität.

Ein Todestanz,

mystisch im Dunkel der Zeit -

Arme Prinzessin!

Ganz beklommen und bang.

 

Singend begann sie seinen Anschuldigungen zu verneinen.
 

Läuft sie einfach davon.
 

Nein!
 

Bringt sie sich zur Räson.
 

Nein!
 

Ein Entkommen ist Illusion.
 

Nun begann sie an seiner Stelle ihre tiefen Gefühle zu beschreiben, die er nun verneinte. Nicht die Gefühle des Textes, sondern auch ihre eigenen, musste sie zu ihrem Erstaunen feststellen.
 

Nein! Ich kann mich nicht entzieh'n -
 

Nein!
 

der Versuchung entflieh'n -
 

Nein!
 

Emotionen mein Selbst bedroh'n.
 

Nein!
 

Sie schritten aufeinander zu, umkreisten sich wie Tiere zu einem Kampf. Dem Kampf des Werbens. Auf einmal wirkte Francoeur bedrohlich, aber nicht auf eine wirklich gefährliche Art und Weise. Er sah sie an, mit diesen hypnotisierenden Augen, nahm sie gefangen. Wie um seine Dominanz zu unterstreichen zuckten seine Esshaken unter seinen Mundwinkeln unkontrolliert, als könnte er sich nur schwer zurückhalten.

Unter seinem Blick wurde ihr zunehmend heiß unter ihrem dünnen Nachthemd und es gribbelte stark in ihrer Magengegend, als flöge ein riesiger Schmertterlingsschwarm dadurch. Es war allerdings nicht nur das Gefühl der Verliebtheit, sondern auch eine andere Liebe.

 

Lucille begann wieder ihren Singsang, den er immer wieder quittierte und so gaben sie sich einen abwechselnden Schlagabtausch.
 

'S ist ein Weg ohne Ziel
 

Und mir sagt mein Gefühl:
 

Alles ist wie so viel,
 

ein gefährliches Spiel!

 

Sie standen nur noch Zentimeter von einander entfernt, umkreisten sich noch immer, konnten nicht von den Augen des anderen ablassen. Lucille's Körper vibrierte, Hitze stieg in ihr auf und schlug Blitze durch ihren Körper, die sich in ihrer Lendengegend entluden. Beide verstanden sie nicht was mit ihnen geschah und gaben sich nur ihren Gefühlen hin, berauschten sich an ihrer Musik.

Vorsichtig hob Francoeur seine rechten Hände und strich Lucille eine Strähne aus dem Gesicht. Auch sie überwand die Lücke zwischen ihnen, presste sich an ihn, krallte sich geradezu in seinen Pulli. Er schlang die oberen Arme um sie und begann mit den zwei unteren ihren Körper entlang zu fahren, was in ihr wohlige Schauer verursachte, durch den dünnen Stoff ihres Nachthemdes. Die Augen auf sich gerichtet gierten sie sich an und sangen gemeinsam weiter.
 

Lautlos still,

tief durchschaut,

denn die Augen

sprechen laut.
 

Schweigen spricht

dröhnend klar:

Uns're Sehnsucht

wird nun wahr!
 

Denn, wenn Du mich berührst,

mich mit Blicken verführst,

Deine Augen vereinst mit mir.
 

Spiel'n die Sinne verrückt,

bin der Welt ich entrückt,

voll Erregung, voll Lust und Gier.
 

Nun gaben sie sich wieder ihren Schlagabtausch hin den Lucille eröffnete und den sie gemeinsam beendeten.
 

'S ist ein Weg ohne Ziel -
 

Eine Sünde zu viel

und ein sanftes Kalkül -
 

Und mir sagt mein Gefühl: -
 

Alles ist, wie so viel...

ein gefährliches Spiel!

 

Ihre Stimmen verstummten und wie sich von einer schweren Trance zu lösen, ließen sie voneinander und brachten wieder einen Abstand zwischen sich. Mit erhitzten Wangen sahen sie einander an und wussten nicht so recht was gerade geschehen war. Zumindest erging es Lucille so. Francoeur's Herz machte Luftsprünge, denn er hatte sie gespürt. Sie, die sie nun endlich vollkommen frei von Raoul war und nur noch ihm gehörte. Der Kuss damals auf der Bühne war nicht ganz aus Versehen gewesen, das war ihm nun klar.

 

„Ich habe deine Kleider von der Reinigung abgeholt, brrr“, durchbrach er die Stille. Noch immer mit dieser Stimme, in der seine Lieblichkeit keinen Platz mehr hatte und von etwas Rauem überzogen war.

 

„Danke“, sagte sie atemlos, lief aus dem Zimmer und schloss sich im Badezimmer ein.

 

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr Körper glühte regelrecht nach und ihre Hände begannen zu schwitzen. Was war da gerade geschehen?

Sie hatte nicht wie sonst mit ihm gesunden. Sondern so leidenschaftlich und von Gefühlen erfüllt, als wäre sie …. eine Liebende.

War der Kuss also doch kein Versehen? Inzwischen konnte sie sich nicht mehr so recht erinnern wie sich seine Lippen auf ihre anfühlten. Zu ihrem Erstaunen fühlte sie Bedauern.

 

Und was war in Francoeur gefahren? Er war nicht mehr der Selbe. Das schon seit Wochen nicht mehr, hatte sie immer wieder das Gefühl, aber heute hatte sie die Bestätigung. Er war nicht mehr der übergroße Floh der hübsch singen konnte. Er war ein Mann. Ein richtiger Mann. Sie hatte sein Begehren gesehen, wie sie es bis dahin noch nie gesehen hatte. Kein Floh der Welt würde für sie, einem Menschen Begehren empfinden, wenn sie es denn überhaupt empfanden. Aber Francoeur... begehrte. Ob er auch liebte?

 

Um sich von ihren wirren Gefühlsinneren abzulenken, nahm sie ein langes, heißes Bad.

 

Währenddessen hängte Francoeur Lucille's Kleider in den Kleiderschrank und machte den Abwasch. Als er hörte das sie aus der Wanne stieg, begann er den Eintopf vom Mittagessen zu erhitzen und setzte ihn ihr vor, als sie im Bademantel gehüllt und noch mit einem Handtuch auf dem Kopf gewickelt vor die Nase. Während dem Essen schwiegen sie, da sie nicht so recht wussten was sie sagen sollten. Nicht nach diesem Erlebnis!

 

„Wollen wir später das Buch zu Ende lesen?“, fragte Lucille in die unangenehme Stille hinein.

„Gerne.“

 

Am späteren Abend setzten sie sich wieder auf die Chaiselongue und ehe es sich Lucille versah, hatte sie sich wie selbstverständlich mit einer Decke zu ihm gekuschelt.

Wärhend er mit seiner lieblichen Stimme las, waren die vorigen Stunden und Lucille verlor sich Gedanklich komplett in die Geschichte.

 

Mademoiselle, wenn Sie in zwei Minuten – ich habe eine Uhr, die auf die Sekunde genau geht – den Skorpion nicht umgedreht haben, dann drehe ich die Heuschrecke um und die Heuschrecke macht einen tüchtigen Luftsprung!“

 

. . .

 

Schließlich erklang Eriks Stimme, diesmal sanft, engelhaft sanft:

Die zwei Minuten sind um. Adieu, Mademoiselle! Spring Heuschrecke!“

 

Erik“, rief Chrisine, die dem Scheusal wohl in den Arm gefallen war, „schwöre mir, du Scheusal, schwöre mir bei deiner teuflischen Liebe, das man den Skorpion umdrehen muss!“

Ja – um zur Hochzeit zu fliegen!“

Ach, wir fliegen also doch alle in die Luft!“

Nicht in die Luft, du Unschuldsengel, sondern in den siebenten Himmel! Der Skorpion eröffnet den Ball. Aber jetzt reicht es! Willst du nicht den Skorpion? Dann wähle ich die Heuschrecke!“

 

. . .

 

Ich ließ“, fuhr Erik fort, „den jungen Mann frei und sagte ihm, er solle mir zu Christine folgen . . . In dem Louis-hilippe-Zimmer küssten sie sich vor meinen Augen . . . Christine trug meinen Ring . . . Ich nahm Christine den Schwur ab, nach meinem Tod von der Rue Scribe aus zu dem See zu kommen, um mich heimlich mit dem goldenen Ring zu begraben, den sie bis dahin tragen solle . . . Ich sagte ihr, wie sie meine Leiche vorfinden werde und was sie damit tun solle . . . Da küsste mich Christine zum ersten Mal von sich aus auf die Stirn . . . hier auf die Stirn – schau nicht hin, Daroga! . . . Dann gingen beide . . . Christine weinte nicht mehr . . . Ich weinte allein . . . Daroga, Daroga . . . wenn Christine ihren Schwur hält, kommt sie bald zurück!“

 

. . .

 

Drei Wochen später erschien in L'Epoque folgende Todesanzeige: ERIK IST TOT“

 

Der letzte Satz ließ Lucille mit einem bedrückenden Gefühl zurück.

 

„Armer unglücklicher Erik“, sagte Lucille und sah zu Francoeur, der ebenfalls etwas verlassen wirkte. Für Francoeur musste es ein komisches Gefühl sein das ein Mensch, ein richtiger Mensch, das selbe Schicksal erlitten hatte, wie er selbst. Doch zu seinem Glück hatte er Freunde und vor allem Lucille selbst.

 

„Glaubst du es hat ihn wirklich gegeben?“, fragte Lucille und rieb sich über die Arme um die Gänsehaut zu verscheuchen. Der Gedanke das es Erik tatsächlich gegeben hatte, ließ Lucille erschauern. Es war ein gruseliger, wie auch trauriger Gedanke. Vor allem da sie durch Francoeur's Schicksal sehr gut verstand was es hieß, ein Ausgestoßener zu sein. Auch wenn Francoeur vermummt ein gutes Leben führen konnte, aber dennoch würde niemals ein normales Leben führen können.

 

„Laut Monsieur Leroux hat er.“

 

„Glaubst du nicht das er das nur behauptet hat um die Geschichte besser verkaufen zu können?“, fragte Lucille, mehr um sich selbst zu überzeugen.

 

Francoeur zuckte nur mit den Schultern, saß gedankenverloren auf der Chaiselongue und legte das Buch auf den Tisch.

„Ich weiß nicht. Mich stört der Gedanke nicht das es ihn gab.“

 

Bevor Lucille etwas brüskierendes erwiderte, hielt sie inne, als sie schon den ersten Ton aus ihrer Kehle erklingen lassen wollte. Fand er den Gedanken nicht so schlecht, weil er dann einen Leidensgenossen hatte?

Darüber nachdenkend was sie sagen sollte, biss sie sich auf die Lippen.

„Was ist los mit dir?“, fragte Francoeur besorgt.

 

Lucille traute sich nicht wirklich ihm in die Augen zu sehen. Sie versuchten eigentlich so selten wie möglich über sein Los als übergroßer Floh - der, wenn er entdeckt werden würde, wieder als Monster gejagt werden würde - zu reden.

 

„Wenn Erik … also wenn er wirklich... Geht es dir besser mit dem Gedanken, das du … einen Leidensgenossen hast?“

 

Als Francoeur ihre Worte verstand begann er sanft zu lächeln.

 

„Glaubst du ich würde unter meinem Leben leiden?, brr?“

 

„Na ja, leiden vielleicht nicht, aber...“

 

„Lucille, mach dir keine Gedanken. Du weißt das es mir gut geht. Ich habe ein zu Hause, eine Arbeit, Freunde... und meinen Ange de la Musique“, sagte er und hatte sich etwas zu Lucille hinunter gebeugt.

 

„...dich“, hauchte er.

 

Ein Lächeln zauberte sich auf Lucilles Lippen und sie legte ihre Stirn an seine. Francoeur ließ es gerne zu und genießte den Moment der Innigkeit.

 

„Glaubst du, Christine ist vielleicht früher zurückgekehrt und konnte sich vielleicht von ihm verabschieden?“, durchbrach Lucille die Stille.

 

„Was denkst du?“

 

„Ich hätte es ihm gewünscht. Und auch ihr hätte ich es gewünscht, das sie nicht nur das Monster in ihm gesehen hat“, sagte sie, brachte etwas Abstand zwischen sich und ihm und blickte ihn vielsagend an.

 

Mit klopfenden Herzen blickte Francoeur ihr entgegen und hätte sie am liebsten geküsst, diesen Engel. Doch traute er sich nicht, auch weil er angst hatte, das sie es doch verschrecken könnte.

 

„Vielleicht sollten wir langsam ins Bett. Brr. Es ist spät“, warf er ein und zerstörte so den Moment.

 

„Hast recht, ich bin müde. Proben wir morgen wieder? Heute ging es doch sehr gut mit dem singen.“

 

„Einverstanden“, lächelte er.

 

Lucille stand auf, zwängte sich zwischen ihm und dem kleinen Tisch vorbei, wobei sie sich an seiner Schulter festhielt um das Gleichgewicht zu halten.

 

„Bonne nuit“, wünschte sie ihm eine gute Nacht, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ging in ihr Schlafzimmer.

 

Mit offenem Mund hatte er ihr nachgesehen. Als sie im Flur Licht gemacht hatte, schien das Licht durch ihrem dünnen Nachthemdchen und gab ihm den Blick auf ihre zierliche Silhouette frei. Ein Gribbeln stellte sich bei ihm ein und auch sein Herz schlug höher und schneller. Wie in Trance löschte er das Licht, ging in sein Zimmer und konnte für lange Zeit nicht einschlafen. Die ganze Zeit strich er sich über seine Wange und spürte das Gribbeln, welches sich einstellte, wenn die Erinnerung an diesem magischen Moment einsetzte.

 

********

Lucille war mit Tüten und Paketen bepackt und schlenderte durch die Straßen von Paris. Es war spät geworden und die Sonne ging bereits unter. Aus heiterem Himmel hatte Francoeur sie geradezu aus der Wohnung geschmissen. Unter dem Vorwand - er hätte Nachricht erhalten, sie könne ihr Kleid aus der Reinigung und ihre neuen Schuhe beim Schuster abholen und wenn sie denn schon unterwegs war - kännte sie noch andere Besorgungen erledigen.

Sie hatte sich nichts weiter dabei gedacht und war seinem bestimmten Vorschlag gefolgt.

 

So hatte sie auch eine Gelegenheit gefunden über die letzten drei Wochen nach zu denken. Seit dem Tag als sie sein neues Lied Ein gefährliches Spiel entdeckt hatte und sie sich darin verloren hatten, war etwas geschehen, was bis zum heutigen Tag angehalten hatte. Auch wenn es vielleicht unzüchtig und verwerflich war, sich auch nur im Gedanken sich mit ihm einzulassen, wo er doch nicht einmal ihrer eigenen Spezies angehörte, doch fiel es ihr schwer dieses Hindernis wirklich als dieses anzusehen.

 

Er war so zärtlich, so zuvorkommend, so vorsichtig, als wäre sie eine Puppe aus Glas und noch nie hatte er sie als selbstverständlich angesehen. Sie hatte das Gefühl ihm alles erzählen zu können und nur er konnte sie verstehen, wenn es um ihre Musik ging.

Doch was sie ein wenig störte, war die Tatsache das er so vorsichtig war, das er nicht einmal versuchte sie zu küssen. Abgesehen von ihren Gute-Nacht-Küsschen auf seine Wange geschah nichts. Wenn sie lasen, legte er vielleicht zwei Arme um sie, und streichelte sie ein wenig über den Arm und auch so suchte er ihre Nähe, aber nicht so wie sie es sich wünschte.

Aber auch sie war ein wenig merkwürdig geworden, sie konnte sich das nicht so recht erklären. Doch immer wenn sie mit ihm Körperkontakt hatte, fand sie es sehr schön und hätte gerne mehr, fühlte sich aber nicht direkt körperlich zu ihm hingezogen, wie sie es bei Raoul damals verspürt hatte.

Sie sehnte sich nach seinen Küssen, sie sehnte sich nach seinen Umarmungen, aber mit ihm das Bett zu teilen, darauf würde sie niemals kommen, da einfach das Bedürfnis fehlte. Ob es dass das Ganze so schwierig machte?

Man konnte sich mögen und lieb haben, wenn man nicht der selben Spezies angehörte, wie bei einem Haustier, aber Liebe machen? - Das war wohl nicht ganz so leicht.

 

Vor ihrem Haus stehen bleibend, zog sie den Schlüssel aus ihrer Handtasche und schloss umständlich die Tür auf. Mit schmerzenden Armen lief sie Treppen hinauf, öffnete die Wohnungstür, lief hinein, schloss die Tür indem sie mit dem Fuß dagegentrat und legte die Tüten und Päckchen auf den Küchentisch ab.

 

„Francoeur, ich bin wieder zu Hause. … Francoeur? … Bist du da?“, lief sie während sie bereits begann die Päckchen auszupacken. Verwundert, da sie von ihrem Freund keine Antwort erhielt, lief sie aus der Küche und bemerkte nun die Veränderung. Das einzige Licht in der Wohnung drang aus der leicht offenstehend gelassener Tür ihres Schlafzimmers.

 

„Francoeur?“, rief sie und lief mit klopfendem Herzen auf ihre Tür zu. Was machte er wohl da drin?

 

Lucille schob die Tür auf und fand sich in einem Meer aus Kerzen wieder. Besonders ihre Kommode wurde reichlich mit Kerzen bestellt und mitten in dem Feuer fand sie einen weißen Umschlag mit ihrem Namen darauf.

Sie nahm den Brief, riss ihn voller Neugierde auf und las. In schön geschwungener, schwarzer Schrift, hatte Francoeur ihr einen Brief geschrieben.

 

Liebste Lucille,

 

wie dir inzwischen aufgefallen sein wird,

habe ich dich nur aus dem Haus geschickt um dir diese

Überraschung vorbereiten zu können.

 

Im Kleiderschrank habe ich dir Kleid bereit gehängt

und in der oberesten Schublade deiner Kommode

findest du die Sachen, die dich heute beschmücken sollen.

 

Ich habe es dir nicht erzählt, aber nur um dir nur

eine Freude zu machen. Nachdem wir das Buch von Monsieur

Leroux fertig gelesen hatten, hatte ich mich mit ihm noch

einmal in Verbindung gesetzt, woraufhin er uns zum

diesjährigen Maskenball in der Opéra Garnier eingeladen hat.

 

Wie du dir denken kannst ist er mit dem Personal dort bekannt

und hat durch sein Buch noch mehr Zuschauer angelockt,

wodurch er dort ein gerngesehener Gast ist.

 

Mach dich frisch und kleide dich an,

um halb neun wird dich eine Droschke erwarten und dich

zur Oper bringen.

 

Ich werde dich dort erwarten.

 

Dein Francoeur

 

 

Ungläubig blickte Lucille auf den Brief. Ihre Wangen glühten und ihr Herz machte einen riesigen Luftsprung. Noch nie war sie bisher in der Pariser Oper gewesen und nun durfte sie sogar dem Maskenball beiwohnen.

 

An ihrem Kleiderschrank klebte ein Brief, dessen weißes Papier ihr in die Sicht sprang, in dem dämmrigen Kerzenschein. Neugierig öffnete sie ihn und las:

 

Heute sollen dich feinste Stoffe zieren,

jeder Mann soll die Sprache verlieren.

Bei deinem Anblick Liebste mein,

wirst du die Schönste auf dem Maskenball sein.

 

Sie öffnete ihren Kleiderschrank, an dessen Tür ein Kleid von innen hinein gehängt worden war, wobei ihr der offene Spalt durch die Kerzenflut nicht aufgefallen war. Das Kleid das sich ihr zu wandte war unglaublich.

Aus den feinsten Stoffen sah sie ein traumhaft schönes, weißes Kleid. Es hatte zahlreiche Lagen an schwerer Seide. Hübsch glänzende Perlen waren überall hinein gestickt worden, vor allem an dem Dekolletébereich, welche dieses noch mehr betonten werden. Die Schultern würden von herabhängenden Schlaufen umschmeichelt werden. Wo oben herum ihre Figur betont werden würde, so würden die Beine unter einem weiten, langen Rock versteckt sein.

 

Sogleich lief sie ins Bad, duschte sich ordentlich, als glaubte sie das ihre Haut so makellos weiß sein müsste wie das Kleid. Die Haare kämmte sie und steckte sie zu einer schönen Frisur hoch, so das nur noch ihre langen Spitzen in ihrem Nacken auf die Schulter fielen.

 

Vorsichtig schlüpfte sie in das Kleid, dessen Bänder sie geschickt hinter ihrem Rücken verknotete, denn die Bänder der Corsage mussten nicht mehr enger gezogen werden, als hätte Francoeur genau gewusst welche Größe sie bräuchte.

 

Sich im Spiegel mit offenem Mund betrachtend, denn sie hatte noch nie so eine schönes junge Frau gesehen, fielen ihr Francoeur's Worte ein, die im Brief gestanden hatten. Lucille ging zu ihrer Kommode und öffnete die obere Schublade.

Dort lagen zauberhaft weiße Schuhe in mitten ihrer Spitzenunterwäsche, wie auch eine reichverzierte weiße Maske mit funkelnden Steinchen, die nur ihre Augen umrunden würden und auch eine Schachtel mit ihrem Namen darauf. Sie öffnete die Schachtel und entdeckte einen Brief, und ein teures, silbernes Collier.

 

 

Sich zurückhaltend, nahm sie zunächst den Brief und öffnete ihn.

 

Diese Ketten sollen dich schmücken,

auf das du jeden mit deiner Schönheit kannst beglücken.

Doch sei gewiss mein Herz, das heute hier,

die Schönheit nur gehört zu mir.

 

Francoeur's geschriebene Worte verursachten einen Flammeninferno in Lucille's Inneren. Die Röte schoss ihr in die Wangen, wie die Schauer und Blitze durch ihren Körper zu ihrer Mitte.

 

Sie schlüpfte mit ihren kleinen Füßen in die Schuhe, die natürlich wie angegossen passten und behängte sich mit dem Schmuck. Zu guter Letzt kam die Maske und als könnte Francoeur ihre Gedankenlesen, fand sie noch ein kleines schwarzes Säckchen mit zwei hübschen Haarspangen, die mit Perlen verziert waren, darin.

 

Wie auf ein Zeichen hörte sie Hufgetrampel und als sie das Fenster öffnete und hinunter sah, erblickte sie eine hübsche, kleine, schwarze Droschke, die von zwei schwarzen Pferden gezogen wurden und von einem Kutscher gelenkt wurden.

Freudig lief sie hinunter, riss die Haustür auf und ging mit klopfendem Herzen auf die Droschke zu. Der Kutscher nickte ihr zur Begrüßung zu und hob kurz seinen Hut. Sie stieg hinein und kaum hatte sie sich gesetzt, lenkte der Kutscher die Pferde auf die Straße um sie zum Pariser Opernhaus zu bringen.

Als Lucille sich entspannte und sich etwas breit machte, stieß ihre Hand gegen eine Schachtel welches sie zuvor nicht gesehen hatte. Es war eine kleine schwarze Schachtel, die mit einer dunkelroten Schleife zugebunden war und wieder haftete ein Brief daran.

 

Neugierig riss sie es auf und las.

 

Ein kleines Stelldichein soll dich begleiten,

um die Fahrtzeit zu bestreiten.

 

Lang wird’s nun nicht mehr dauern,

alles steht bereit, du wirst erschauern.

 

Der Rote Tod erwartet dich,

in der Flut des großen Kerzenlichts.

 

Geschwind zieht er dich in sein Reich,

wo die Stimme der Sirene die Wellen erreicht.

 

Schon bald bist du bei mir,

auf dem Maskenballe hier.

 

Herzklopfen war ihre erste Reaktion auf sein Brief. Schamröte die Zweite und zu guter Letzt der versprochene Schauer, der heiß und kalt über ihren Rücken lief.

 

Lucille öffnete die Schachtel um sich etwas abzulenken, wie Francoeur es vorausgesehen hatte und fand die leckersten Pralinen vor sich, die man bei Chocolate kaufen konnte.

Sie schob sich die erste in den Mund und es war wie der Himmel auf Erden. Die süßherbe Schokolade umschmeichelte ihre Zunge und als sie genüsslich hinein biss floss die flüssige, süße Sünde aus der harten Schale und breitete sich in ihrem Mund aus.

Wohlig begann Lucille zu seufzen und schob sich sogleich noch eine Praline hinein. Als sie die letzte von neun hinunter geschluckt hatte, fuhr die Droschke auf einen großen Platz und sie erblickte die hell erleuchtete Opéra Garnier.

 

Die Droschke kam vor den Stufen der Oper zu stehen, ein Concierge der Oper, öffnete ihr die Tür und hielt ihr als Hilfe seine Hand hin. Etwas umständlich, da sich das Reifrock sehr ungewohnt anfühlte, schwang Lucille die Beine über den Rand und hüpfte mehr runter als das sie stieg.

 

Mit leuchtenden Augen und nervösem Geist lief sie die Stufen zum Eingang hinauf und wurde von einem nicht verkleideten Herrn, der sie direkt zur Seite nahm, als sie schon direkt zur Tür hineinlaufen wollte.

 

„Moment, moment, Mademoiselle. Wie lautet ihr Name?“

 

„Äh.... Lucille Frémir.“

 

Der Mann sah auf der langen Liste nach und entdeckte wohl ihren Namen, da er sie einließ. Er und ein anderer Mann öffneten die Flügeltüren und sie wurde eingelassen in die Welt voller Musik, Wein und Tanz.

 

Viele Menschen kamen gerade an, wie sie und liefen die Treppen des prächtigen Foyers hinauf. Da sie sich nicht auskannte lief sie der Masse hinter her und es führte sie zum Foyer de la Danse. Dieser riesige Saal erschien ihr so hoch wie ihr Wohnhaus, so groß wie alle Wohnungen zusammen, die sich darin befanden. Herrliche Kronleuchter beleuchteten den Saal, die oberen Zehntausend standen am Rand, tranken und unterhielten sich über die interessanten Vorkommnisse des Jahres. Es spielte schönes Musik, und in der Mitte des Saals tanzten die Paare und wirbelten umeinander herum in ihren farbenprächtigen Kleidern.

Lucille lief unsicher durch die Menge und wusste nicht so recht was sie tun sollte. Jedem der sie erblickte stockte der Atem und keiner der hübschen Männer traute sich sie anzusprechen. Doch plötzlich änderten sich die Blicke der Männer. Sie sahen durch sie hindurch, etwas schien sie zu schockieren und ihre Blicke wanderten etwas nach oben. Sahen sie denn noch sie an?

 

Als die Menschen schon vor ihr etwas zurückwichen, spürte sie einen Schatten auf sich und etwas tippte sie an. Erschrocken drehte sie sich herum und erblickte einen großen Mann. Er war in einem feuerroten Anzug gekleidet, mit einer schwarzen Weste, mit goldgelbem Faden reich bestickt, einem schwarzen Schal und einem ebenso feuerroten Schlapphut mit einer großen roten Feder darauf. Schwarze Handschuhe bedeckten seine Hände und als Lucille ihm ins Gesicht sah, erschauerte sie.

Vor ihr stand ein lebender Toter. Die Maske war ein weißer Totenschädel, nur die Mundpartie blieb frei.

Der Rote Tod.

 

Lucille bekam eine Gänsehaut. Sie erkannte sofort diese betörenden roten Augen die sie eindringlich betrachteten.

 

„Möchte Mylady einen Champagner?“, fragte er charmant und bot ihr einen Arm an.

 

„Es wäre mir eine Ehre“, sagte Lucille elegant und ergriff seinen Arm.

 

Schnell war ein Angestellter gefunden, der gefüllte Gläser auf einem Tablett herumtrug und sie jedem reichte, der noch keines hatte. Gemeinsam stellten sie sich an den Rand, etwas abgelegen von den anderen.

 

„Oh Francoeur, wie soll ich...“, begann Lucille sich zu bedanken, doch winkte Francoeur sogleich ab.

„Sag nichts, genieße es einfach, brr. Du siehst bezaubernd aus, wie erwartet“, sagte er.

 

„Und du siehst schaurig aus, wie vorher gesagt“, lächelte sie.

 

Sie unterhielten sich angeregt bis sie ihre Gläser geleert hatten.

 

„Darf ich um diesen Tanz bitten?“, fragte Francoeur, als eine liebliche Melodie zu spielen begann.

 

Lucille erkannte sofort die Melodie des Schwanensee's, ein fantastisches Ballett.

 

Francoeur führte sie zur Mitte, an den tanzenden Paaren vorbei, die nun langsamer zu tanzen begannen. Alle sahen sie an, Lucille, wie auch Francoeur. Lucille trafen eifersüchtige und neidische Blicke, während Francoeur voller Bewunderung, aber auch Vorsichtig betrachtet wurde. Es war nicht nur die makabere Totenkopfmaske, sondern auch seine körperliche Größe machte Eindruck.

 

Sich bis zur Mitte des Saales durch schlängelnd verbeugte sich Francoeur ehrfürchtig vor ihr, ebenso wie sie einen Knicks machte. Er ergriff ihre Hand und zog sie zu sich, in eine Drehung. Während dem Tanz schien Lucille alles zu vergessen, selbst ihren Namen. Es gab nur noch ihn. Nur noch diese roten Augen die sie so voller Liebe ansahen.

 

Wie in Trance, wie eine willige Puppe wurde sie in seinen starken Armen herumgewirbelt, folgte seiner Führung. Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust, sie spürte die Röte auf ihren Wangen, die nicht nur vom Champagner verursacht wurde. Die Musik schwoll an, die Paare um sie herum machten Platz, da sie sich förmlich bedrängt fühlten von ihrem eigenwilligen Tanzstil. Auch konnten sie nicht die Augen von dem ungewöhnlichen Duo nehmen. Es kam zum Höhepunkt, Francoeur und Lucille vollführten einige Drehungen und kamen mit der Musik zum Stillstand.

 

Sie sahen sich in die Augen. Alles um sie herum war unwichtig geworden. Das Orchester begann wieder zu spielen, doch sie hörten es nicht. Die anderen Gäste genehmigten etwas zu Trinken oder tanzten weiter, doch sie sahen es nicht.

 

„Hier sind Sie Monsieur Francoeur, ein hinreißender Tang. Aber gönnen Sie ihrer reizenden Begleitung etwas Pause, sie scheint mir doch sehr aus der Puste“, kam plötzlich ein junger Mann, mit einer Brille auf der Nase mit runden Gläsern und einem Schnurrbart. Ein wirkliches Kostüm hatte er nicht. Er trug nur einen blauen Anzug, ein Rüschenhemd und eine weiße einfache Maske um den Hals.

 

„Monsieur Leroux“, sagte Francoeur erfreut und reichte ihm die behandschuhten Hände. „Vielen Dank für die Einladung.“

 

„Keine Dankesreden junger Freund, Sie und Mademoiselle Frémir haben mir in einer Schreibblockade geholfen. Genießen Sie das Fest und die Schönheit ihrer Begleiterin. Ein beeindruckendes Kostüm im Übrigen. Sie würden ihm fast alle Ehre machen“, lächelte Leroux zweideutig.

 

„So meine Lieben, ich werde mich einmal wieder unter die Menge mischen, ich möchte noch mit einigen guten Freunden ein Pläuschchen halten“, verabschiedete er sich und ging.

 

„Monsieur Leroux?“, hielt Lucille ihn kurz auf und holte ihn ein.

 

„Ja Mademoiselle?“, fragte er überrascht.

 

„Gab es ihn wirklich?“, fragte sie eindringlich.

 

Sofort entdeckte sie das Leuchten in seinen Augen, das sogleich aufblitzte.

 

„Wimmeln Sie die Fremdenführer ab. Gehen Sie in Loge fünf und klopfen Sie an die rechte Säule...“

 

„Ja, das haben Sie geschrieben.“

 

„Dann tun Sie es. Sie werden Ihre Antwort finden wenn Sie sich nur zur Genüge hier umsehen. Ihr Freund hat sich in letzter Zeit auch etwas umgesehen, er bat mich um ein wenig Anleitung. Seien Sie wachsam und versuchen Sie mehr zu sehen als das was die anderen sehen. Einen schönen Abend noch, Mademoiselle Frémir“, sagte er eindringlich und ging davon.

 

„Was hast du mit ihm besprochen, brr?“, stand Francoeur plötzlich hinter ihr.

 

Lucille spürte seine Anwesenheit in ihrem Rücken und sah Leroux hinter her, der in der Menge verschwand.

 

„Ich habe ihn nach Erik gefragt“, sagte sie und lehnte sich etwas an ihm, während er sacht eine Hand auf ihre Taille legte und sich zu ihr hinunter beugte.

 

„Was das angeht muss ich dir etwas zeigen“, sagte er plötzlich geheimnisvoll und zog sie mit sich. Sie gingen aus dem Foyer de la Danse und er führte sie den langen Gang entlang den sie zuvor gekommen war. Im Foyer angekommen, gingen sie rasch die Treppe zum Zuschauerraum hinauf. Die beiden liefen aber nicht direkt durch die großen Flügeltüren, sondern den Gang rechts hinein, die Treppe hinauf und in die dritte Tür hinein. Es war eine der Logen des Zuschauerraums und Lucille glaubte zu wissen welches es war. Auf der rechten Seite, wo die Brüstung begann, befand sich eine hohe, recht breite Säule. Lächelnd schob Francoeur sie dort hin.

 

„Soll ich wirklich?“, fragte Lucille, zunächst etwas peinlich berührt ob sie denn wirklich auf eine kalte Säule klopfen sollte.

„Tu es, brr“, ermunterte Francoeur sie.

 

Lucille schritt näher zur Säule, strich einmal sacht darüber als wäre es etwas Heiliges und klopfte sacht daran. Dann etwas härter. Weiter oben, weiter unten. Es war hohl.

Verzückt lachte Lucille auf. Voller Aufregung klopfte sie immer wieder daran.

 

„Soll ich dir noch etwas zeigen?“, fragte Francoeur freudig wie ein kleines Kind. „Ja“, hauchte Lucille, ergriff sogleich seine Hand und ließ sich mitziehen. Wieder ging es ins Foyer, die Treppen hinunter, den Gang nach links hinein. Mehr konnte sich Lucille nicht merken. Das Opernhaus war riesig. Die vielen Stockwerke, die Gänge, die Zimmer. Es verwunderte sie das Francoeur wusste wohin sie liefen. Irgendwann standen sie vor einer einsamen Tür, ganz weit hinten eines Ganges. Er öffnete sie und sie fanden eine Garderobe vor. Gegenüber der Tür befand sich ein mannhoher Spiegel.

 

„Das ist doch nicht....“, verschlug es Lucille die Sprache.

 

Schnell lief Francoeur zum Spiegel, griff mit seiner Hand auf mittlerer Höhe des Spiegelrahmen und betätigte einen Mechanismus, denn plötzlich gab es ein klickendes Geräusch und er schob den Spiegel wie eine Tür auf.

Enttäuscht jedoch musste Lucille feststellen das der erwartete Geheimgang dahinter nur eine Mauer war. Doch beim längeren Hinsehen fiel ihr auf dass das Mauerwerk eine völlig andere Farbe hatte, als die wenigen Zentimeter der richtigen Mauer. Auch wirkte es als wäre es schlampig und auf die schnelle errichtet worden.

Andächtig und vorsichtig lief sie auf die Mauer zu und strich ein weites Mal darüber.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie fühle Bedauern.

 

„Armer unglücklicher Erik“, hauchte sie.

 

Francoeur trat hinter ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern.

 

„Es wirkt wie ein Gefängnis“, sagte Lucille und lehnte sich an ihn.

 

„Findest du? Er liebte die Oper und wurde erlöst von der einzigen Frau die er je liebte und von der er geküsst wurde“, flüsterte er, nahm sie in seine Arme und schloss den Spiegel.

 

Lucille genoss den Moment in seinen starken Armen, gelehnt an seinem warmen Körper. Francoeur erging es nicht anders, er roch an ihrem Haar und schloss dabei die Augen. Es war ein überwältigendes Gefühl mit seinem Engel so nah beisammen stehen zu können.

 

Nachdem Lucille sich etwas gefangen hatte und ein Stoßgebet für Erik gen Himmel geschickt hatte, löste sie sich aus der Umarmung und bestand darauf die Räumlichkeiten zu verlassen, da sie nicht den ganzen Abend bedrückt herumlaufen wollte.

 

Wieder im Foyer de la Danse fühlte Lucille sich wie in eine andere Welt geschleudert. Vom Tal der Trauer ins Tal des berauschenden Festes. Zunächst fühlte sie sich etwas fehl am Platz, doch Francoeur holte den beiden noch etwas zu Trinken und bat sie danach wieder um einen Tanz.

 

Noch lange blieben sie an diesem Abend und Lucille glaubte noch nie so viel getanzt oder gelacht zu haben. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin und in Francoeur glaubte sie den perfekten Prinzen zu sehen.



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