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Die Tochter des Puppenmachers

von

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Knochenporzellan

Muriel Growe war eine untersetzte 78-jährige Dame, unverheiratet und kinderlos. Ihr einziger Mitbewohner war ihr Siamkater Sokrates, der Near mit deutlichem Misstrauen begegnete und immer wieder laut miaute, wenn er das Gefühl hatte, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Ein kleiner Prinz eben. Das Apartment der alten Dame war vollgestopft mit Porzellanfiguren, Tassen, Teller, kleineren Büsten und sogar bemalte Dachziegel. Viele Sammlungsstücke waren wertvolle Antiquitäten und da schon ihre Großeltern mit der Porzellanherstellung vertraut waren, galt sie als wahre Expertin. Sie empfing Near herzlich, als sie von ihrem Neffen Colin im Rollstuhl zum Eingang geschoben wurde. „Du bist also der junge Mann, der etwas über Porzellanpuppen wissen will? Komm erst mal herein, wir trinken erst mal einen Tee.“ Near setzte sich ins Wohnzimmer aufs Sofa, welches einen uralten muffigen Bezug mit abscheulichen Mustern hatte, das wirklich nur alten Leuten gefallen konnte. Die ganze Einrichtung war vollkommen altmodisch und typisch für Senioren. Naja, zum Glück musste er hier nicht wohnen. Freiwillig würde er nicht hierbleiben. Miss Growe servierte einen asiatischen Grüntee und dazu Gebäck. Nur den Tee rührte Near an und zeigte die Puppe. „Ich habe sie von einer Bekannten bekommen, die diese Puppe gerne verkaufen will. Allerdings will der Interessent wissen, um was für ein Porzellan es sich handelt. Ich hatte gehofft, Sie könnten weiterhelfen.“ Vorsichtig nahm die alte Frau die Puppe entgegen und setzte eine Spezialbrille auf, wie sie auch von Uhrenmachern verwendet wurde auf, um selbst die feinsten Details sehen zu können. Sie wog das Püppchen vorsichtig ab, betastete die Oberfläche und klopfte diese ab. Dabei stieß sie immer wieder ein „hm“ aus und hielt sie hin und wieder näher ins Licht. Schließlich nahm sie ein paar Vergrößerungsgläser hinzu und sah sich den Kopf, die Gliedmaßen und den Torso der Puppe an. Schließlich setzte sie die Brille ab und gab Near die Puppe zurück. „Wirklich eine außerordentlich feine Ausarbeitung. Wer immer sie gebaut hat, er versteht sein Handwerk und besitzt äußerst geschickte Hände. Der Körperbau ist dem eines Menschen nachempfunden worden und damit sie besser bewegt werden kann, wurden Kugeln an den Gelenken eingebaut. Die Augen sind hochwertig und das Haar ist echtes Menschenhaar.. Also was das Material angeht, so handelt es sich eindeutig um Fine Bone China, ein Weichporzellan. Es wird bei einer für Porzellan niedrige Temperatur gebrannt und ist wärme- und stoßempfindlicher als Hartporzellan. Fine Bone China ist ein so genanntes Knochenporzellan.“

„Knochenporzellan?“

„Ja, ein sehr hochwertiges Porzellan, das besonders wegen seines festen, strahlend weißen brillanten Glanz geschätzt wird. Es wird aus Kaolin, bildsamen Ton, Quarz, Pegmatit und Spodium hergestellt. Kaolin wird auch als weiße Tonerde bezeichnet und wird oft in der Papier- und Porzellanherstellung verwendet. Pegmatit ist eine grobkörnige Varietät eines magmatischen Gesteins und Spodium ist phosphorsaurer Kalk, der aus Tierknochen oder Elfenbein gewonnen wird. Spodium ist also nichts weiter als Knochenkohle bzw. Knochenasche.“

„Welche Verwendungen hat man für Knochenporzellan?“

„Für alles mögliche. Geschirr, Vasen…. Es gilt als das beste und edelste Porzellan überhaupt. Was die Verarbeitung der Puppe angeht, so ist es auf jeden Fall Handarbeit und die Puppe ist ein kleines Vermögen wert, mein Junge.“ Edles Knochenporzellan. Hergestellt aus Tierknochen…. Eine seltsame Vorstellung. Lag hier drin etwa das große Rätsel? Selbst wenn dem so wäre, hätte Near immer noch keinen eindeutigen Anhaltspunkt. „Ist sonst etwas an der Puppe ungewöhnlich?“

„Außer, dass sie echtes Menschenhaar hat, eigentlich gar nichts.“

„Könnten Sie anhand der Puppe sagen, wer sie gemacht hat?“

„Tja, da müsste ich mal überlegen.“ Nachdenklich rührte Miss Growe ihren Tee um, gab zwei Stück Würfelzucker hinein und rieb sich mit der anderen ihre alten Augen. „Es gab da doch mal diesen einen Mann“, murmelte sie und gab immer wieder „hm“ von sich und nickte zwischendurch. „Soweit ich weiß, ist er kein beruflicher Puppenmacher. Die Puppen verkauft er auch nur an Privatkunden und sonst an niemanden.“

„Können Sie sich an seinen Namen erinnern?“

„Das versuch ich gerade. Ich weiß, dass er ein berühmter Arzt war, bis er nach einem schweren Verkehrsunfall seinen Beruf an den Nagel gehängt hatte. Seitdem bastelte er nur noch Porzellanpuppen.“ Doch so sehr die alte Dame auch überlegte, sie konnte sich partout nicht mehr an den Namen erinnern. „Wissen Sie wenigstens ob er hier in England lebt?“

„Davon gehe ich aus. Allerdings ist er in Bukarest aufgewachsen. Der Mann war doch erst letztens im Fernsehen. Wo habe ich ihn noch mal gesehen? In einer Reportage? Oder war es in den Nachrichten? Ach Gott, ich habe es völlig vergessen.“ Nun gut, wäre auch zu schön gewesen um wahr zu sein. Jedenfalls waren diese Informationen schon mal ein bedeutender Anfang. Near wusste jetzt, dass die Puppe aus Knochenporzellan bestand und ihr Schöpfer ein ehemaliger Arzt war, der mal in den Nachrichten war. Vielleicht wusste Hester ja, wer dieser Mann war und konnte sich an seinen Namen erinnern. Entweder lag das Rätsel im Knochenporzellan oder beim Puppenmacher. Near bedankte sich bei Miss Growe und kehrte zurück nach Wammys House. Es machte keinen Sinn, Hesters Praxis aufzusuchen, sie kam sowieso demnächst vorbei um ihn zu untersuchen. Einen Versuch war es ja wert.

Als er die Wohnung von Miss Growe verließ, wehte ihm ein eiskalter Wind entgegen, der in seinem Gesicht schmerzte. Near zog seine Winterjacke fester zu und richtete seinen Schal. Zum Glück hatte Oliver ihm die Stiefel ausgeliehen, denn es herrschte zum Teil Glatteis und da Near so gut wie nie rausging, hatte er auch keine ordentlichen Winterschuhe. Er kam völlig durchgefroren zurück und wärmte sich erst mal bei einer Tasse heißer Schokolade. So ein verdammtes Wetter. Obwohl er schon seit einigen Monaten hier in England lebte, hatte er sich noch nicht an das kühle Klima gewöhnt. Vorher hatte er bei seiner Schwester gelebt, die in Birma als Sanitäterin einer Hilfsorganisation gearbeitet hatte. Birma… nie wieder wollte er dorthin zurück.

Der Tag neigte sich langsam dem Abend zu und Near verbrachte die restliche Zeit damit, seinen Bausteinturm noch weiter zu vergrößern, mit seinen Transformerspielzeugen zu spielen und anschließend noch ein Schiffsmodell zusammenzubasteln. Dann ging er in den Speisesaal zum Abendessen und besprach sich ein wenig mit Fear, der an einem wichtigen Projekt zur menschlichen Tiefenpsychologie und Philosophie arbeitete. Im Fach Sozialwissenschaft und Psychologie waren sie beide Partner und bearbeiteten zurzeit verschiedene Unterthemen und Schwerpunkte. Allein wäre diese Arbeit kaum zu bewältigen und die Note der Arbeit machte die Hälfte der sonstigen Mitarbeit aus. Und deswegen war es wichtig, gute Arbeit zu leisten, selbst wenn Near der Intelligenteste war. „Hast du schon Nietzsche und Freud ausgearbeitet?“

„Freud ist fertig, Nietzsche nicht“, antwortete Fear und biss ein Stück von seinem Butterbrot ab. „Ich hab Schwierigkeiten mit den Kernaussagen des Zarathustra-Textes, aber bis Freitag bin ich auf jeden Fall fertig. Und bei dir?“

„Die Texte von Schopenhauer und Descartes habe ich schon längst fertig. Falls du mit Nietzsche nicht weiterkommst, gib mir den Text. Dafür kannst du schon mal damit anfangen, die Texte zusammenzufassen.“ Zugegeben, der Nietzsche-Text war ziemlich schwierig zu verstehen, weil er sehr umständlich und kompliziert geschrieben war. Viele der Kinder verstanden ihn nicht und so war es auch nicht sonderlich verwunderlich für Near, dass sein Projektpartner ebenfalls aufgeben musste. Normalerweise hätte er alles alleine bearbeitet, aber es mussten ja Arbeitsgruppen gebildet werden…. Und alleine würde er noch länger für die ganzen Materialien brauchen.

Nach dem Abendessen folgte Near seinem Projektpartner zu dessen Zimmer, nahm den Nietzsche-Text „Also sprach Zarathustra“ und die dazugehörigen Notizen entgegen. Dafür brachte er ihm seine fertigen Texte zum Bearbeiten. Heute würde nichts Interessantes mehr passieren. Zumindest glaubte er das. Tatsächlich aber kam es am Abend noch zu einigen Turbulenzen, als nämlich Mello zusammen mit ein paar Älteren so etwas Ähnliches wie Paintball spielten und laut schreiend durch das ganze Haus rannten. In Wahrheit waren das so etwas wie Mehlbomben, die ein ziemlich großes Chaos anrichteten. Auch Near wurde Opfer dieses brutalen und heimtückischen Attentats als Oliver versuchte, Matt zu treffen, der aber hinter einer Säule in Deckung ging und stattdessen Near in einer Mehlwolke verschwand. Da er aber sowieso schon so weiß wie ein Schneeglöckchen war, machte es keinen großen Unterschied zu vorher. Trotzdem hatte er jetzt im Gesicht und im Haar sowie auf der Kleidung überall Mehl und da half ihm eine Entschuldigung seines Angreifers auch nicht groß weiter. Fast das ganze Waisenhaus wurde Opfer der verheerenden Mehlbombenschlacht und es sah drinnen jetzt genauso aus wie draußen im verschneiten Garten. Als Roger das sah, hagelte es nur so an Strafen und jene Beteiligte, die erwischt wurden, mussten das ganze Chaos beseitigen. Insgesamt wurden 6 weitere Zivilisten neben Near Opfer der terroristischen Mehlbombenattentate und wurden unter die Dusche geschickt. Die Gruppe „Ebony“, die von Rebellenführer Mello geführt wurde, hatte schwere Verluste zu melden. Fast alle wurden getroffen, sechs mussten das Schlachtfeld von Gefahrengut säubern und zwei gelang die Flucht. Die gegnerische Truppe „Ivory“ hatte es weniger schwer getroffen. Im Kampf für Recht und Freiheit haben sie zwei Leute verloren, einer wurde schwer verwundet und drei mussten die Strafarbeiter der Gegengruppe unterstützen. Der Rest kam triumphierend von einer ruhmreichen Schlacht zurück. Die Rebellengruppe „Ivory“ hatte das Waisenhaus von den schrecklichen Terroristen befreit!

Near brauchte fast eine halbe Stunde, bis er die letzten Mehlreste rausgewaschen hatte. Nicht nur Mehl hatte er abbekommen, sondern auch noch Sprühsahne, die einer der „Ivorys“ aus dem Waffenlager namens „Küche“ entwendet hatte. Die ganze Aufräumaktion wurde in den späten Morgenstunden des darauf folgenden Tages fortgesetzt und die Essensrationen beider verfeindeten Truppen wurden gekürzt. Eine Woche lang wurde der Nachtisch gestrichen und ein Arrest verhängt. Schwerer hätte diese Kriegsstrafe nicht sein können.

Trotz der großen Reinigungsaktion nach der verheerenden Schlacht fanden sich immer noch Mehl- und Sahnerückstände, die die Kriegsgefangenen beseitigen mussten. Near jedenfalls war froh, dass dieser Unsinn endlich vorbei war und fragte sich manchmal, ob das hier ein Irrenhaus war. Andererseits waren sie alle Kinder und vielleicht gehörte es ja dazu, so eine Verwüstung anzurichten. Nach dem Frühstück ging er in die Bibliothek um ein Buch über Knochenporzellan oder allgemeine Keramik zu finden. Dabei rempelte er aus Versehen Chris an, der gerade einen riesigen Stapel Bücher schleppte. Chris gehörte zu den Ältesten im Waisenhaus und war von Geburt an taub. Seine Markenzeichen waren die Kopfhörer die er nie abnahm und die für einen Menschen ohrenbetäubende Bässe von sich gaben und sein Shirt mit der Aufschrift „Deaf but not dumb!“ Ein kleines Wortspiel, dass entweder in „Taub aber nicht stumm“ oder „taub aber nicht blöd“ übersetzt werden konnte. Chris besaß eine unglaubliche Gabe neben seiner Fähigkeit, Lippenlesen zu können. Anhand von Mikroexpressionen konnte er tatsächlich erkennen, was sein Gegenüber dachte oder fühlte und so konnte er sofort erkennen, ob jemand log oder nicht. „Entschuldige, ich hab dich nicht gesehen.“ Near half ihm, die Bücher aufzuheben und wieder zu stapeln. Chris machte ein Zeichen, dass er ihn auch nicht gesehen hatte und entschuldigte sich ebenfalls. Schließlich fragte er, was Near eigentlich suchte.

Chris, der mit anderen Kindern nicht zusammenarbeiten konnte, da die wenigsten die Gebärdensprache beherrschten und somit nicht mit ihm reden konnten, galt als Einzelgänger wider Willen und hatte nicht viele zum Reden. Auch einige Lehrer hatten dieses Problem, woraufhin Chris Privatunterricht bekam und durch speziellen Unterricht trotz seiner Taubheit sein Wissen leicht ausbauen konnte. Die meiste Zeit half er in der Bibliothek aus und zeichnete sich dadurch aus, dass er genau wusste, wo es welches Buch zu finden gab und welches man zu Rate ziehen sollte. Deswegen durfte er hier bleiben, obwohl er bereits 16 Jahre alt war und jedes Kind das Waisenhaus im Alter von 15 Jahren verlassen musste. Bald würde er die komplette Bibliotheksleitung übernehmen, wenn er bis dahin nichts anderes fand.

„Ich suche ein Buch über Keramik, besonders über Fine Bone China.“

„Suche am besten im Regal, wo die Historikbücher stehen. In der dritten Reihe findest du das Buch „Kunst und Handwerk in Asien“. Da findest du alles über die chinesische Keramik.“ Near bedankte sich für den Tipp und suchte die Abteilung für Weltgeschichte. Diese befand sich etwas weiter hinten und aus der dritten Reihe holte er schließlich das Buch „Kunst und Handwerk in Asien“. Er suchte im Inhaltsverzeichnis die richtige Seite raus und als er diese aufgeschlagen hatte, fiel ein Briefumschlag heraus. Er war nicht versiegelt und so öffnete Near ihn und holte den Brief heraus. Dieser duftete dezent nach Rosen und die Schrift war elegant und ein wenig altertümlich. Ein Zeichen dafür, dass der Schreiber geschickt in Kalligraphie war.
 

„Meinen herzlichen Glückwunsch Near,

du bist auf der richtigen Spur. Aber noch hast du nicht das ganze Rätsel gelöst. Ich werde dir einen kleinen Hinweis geben, um dir ein wenig zu helfen: Suche nach einem Zeitungsartikel vom 15. Mai vor fünf Jahren. Vielleicht findest du ja etwas Interessantes, das dir weiterhelfen könnte.
 

Viel Glück noch bei deinem Rätsel
 

Alice Chevalier
 

Soso, dann hatte sie also gewusst, dass er nach diesem Buch suchen würde? Aber wann hatte sie diesen Briefumschlag in dieses Buch geschmuggelt und wie war sie unbemerkt hier reingekommen? Near ging zurück zu Chris um ihn zu fragen, wer sich dieses Buch schon mal ausgeliehen habe, oder ob ein Mädchen mit Puppenaussehen in die Bibliothek gekommen sei. Der taube 16-jährige schüttelte den Kopf und erklärte, er habe kein solches Mädchen gesehen und das Buch hatte sich bis jetzt niemand ausgeliehen. Folglich also musste sich Alice heimlich Zutritt ins Waisenhaus verschafft haben. Aber warum diese Heimlichtuerei? Warum tat sie so geheimnisvoll? Hatte sie etwa einen Grund dazu?

Naja, im Moment blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als Alices Hinweis zu folgen und den Zeitungsartikel von damals zu finden, was immer da auch drin stand.

Zum Glück hatte die Bibliothek in Wammys House ein eigenes Archiv und mit Chris’ Schlüssel kam Near rein. Er half ihm, die Zeitungen des entsprechenden Jahres zu finden und legte sie für Near auf den Tisch. „Das sind alle, die ich für den 15. Mai finden konnte. Was genau suchst du denn?“

„Weiß ich selbst noch nicht.“

„Wenn du was brauchst, du findest mich vorne. Ich muss die Register überarbeiten.“ Als Chris gegangen war, begann Near die Zeitungen näher unter die Lupe. Er hatte nicht die geringste Ahnung, nach was genau er suchen sollte, aber ganz sicher würde er es wissen, wenn er den Artikel fand. Insgesamt hatte er fast sieben verschiedene Zeitungen vor sich und er entschied sich, alphabetisch vorzugehen. Er durchblätterte den Wirtschaftsteil, die Lokalnachrichten und alles, was sich im Ausland zugetragen hatte. Selbst die Stellenanzeigen nahm er unter die Lupe sowie den Prominententeil, fand jedoch nichts was mit Alice oder der Puppe zu tun hatte. Nach und nach hatte er jede Zeitung untersucht und doch nichts gefunden. Schließlich stand er kurz davor, die Zeitungen wegzulegen, da sah er für einen kurzen Augenblick den Namen Alice Chevalier irgendwo, als er alles zusammenlegen wollte. Schnell schlug er die Stelle wieder auf und spürte, wie ihn ein leichter Schrecken durchfuhr. Tatsächlich stand da der Name Alice Chevalier, da bestand kein Zweifel. Der Name war groß geschrieben und unübersehbar. Es handelte sich allerdings nicht um einen Artikel über sie, sondern um nichts anderes als eine Todesanzeige. In dieser stand, dass sie am 14. Mai im Alter von gerade mal 13 Jahren verstorben war. Normalerweise brachte Near nie etwas aus der Fassung, aber diese Todesanzeige jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Was hatte das zu bedeuten? Warum stand da, dass Alice vor fünf Jahren verstorben war? Konnte es sich um einen Irrtum handeln und es war eine andere Alice Chevalier? Aber wie viele Chevaliers wohnten denn schon in London? Sicher nicht viele und außerdem würde Alice ihn wohl schlecht auf eine Todesanzeige aufmerksam machen, wenn es sowieso eine falsche Spur war. Aber was genau wollte sie ihm mitteilen? Gab es irgendein dunkles Geheimnis, das niemand außer ihr wusste?

Was Near dann noch auffiel, war eine zweite Todesanzeige für Alice, allerdings nicht von ihrer Familie, sondern vom Chef der Universitätsklinik in London. Seltsam, warum hat die Klinik eine Anzeige aufgegeben? Alice war doch erst 13 Jahre alt und selbst wenn sie dort behandelt worden wäre, so etwas geschah nicht ohne Grund. Aber bevor er sich weiter mit den Todesanzeigen beschäftigte, suchte er nach einem Zeitungsartikel des vorigen Tages, wo der Unfall stattgefunden hatte. Dieses Mal wurde er etwas schneller fündig und tatsächlich stand da ein Kurzbericht, in dem es hieß, dass Alice Chevalier auf dem Weg nach Hause von einem Kleintransporter erfasst und gegen einen Baum gequetscht wurde. Der Fahrer selbst starb bereits am Unfallort und war stark alkoholisiert. Alice kam mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus, überlebte die Notoperation nicht und starb knapp zwei Stunden später. Mehr stand da nicht.

Aber dank der Todesanzeigen wusste er jetzt, dass ihr Vater Chirurg an der Universitätsklinik gewesen war und William Chevalier hieß. Im Laufe des Tages würde er sich ein wenig mehr über diesen Chirurg erkundigen, allerdings stand da noch ein Termin aus, den er lieber umgehen würde: Die Untersuchung bei Dr. Hester Holloway. Nicht gerade das, worauf er sich wirklich freuen würde, aber wenn er sich davor drückte, konnte das noch unangenehm für ihn werden.

Er nahm die Zeitungen mit den wichtigen Informationen mit und legte die anderen wieder weg. Dann verließ er die Bibliothek und machte sich auf den Weg zum Behandlungszimmer im Ostflügel.



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