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Bestienhandbuch für Anfänger

Lektion 1: Wie erziehe ich meine Bestie
von

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Abwechslung

Kapitel 2.2 – Abwechslung
 

„Es ist wichtig der Bestie soviel Abwechslung wie möglich

zu bieten  damit sie sich nicht langweilt. Wenn Sie die Phase

der ersten Wochen erfolgreich absolviert haben, dann holen Sie

ihr Geschöpf doch mal aus seiner vertrauten Umgebung heraus.

Sie werden sehen, dass sich ihre Bestie schnell an eine andere

Umgebung anpassen kann. Gehen sie aber sicher, dass sie auf

keine zu reizvolle Umgebung trifft, da sie noch sehr empfindlich

ist und schnell die Kontrolle verlieren könnte.“
 


 


 

Während der Fahrt sagt keiner ein Wort. Ich muss erst einmal verdauen was gerade eben geschehen ist. So wie es aussieht wollen mich Luka und Kati immer noch umbringen. Ihre Blicke sprechen Bände. Kati sieht immer wieder zu mir nach hinten und bewirft mich spürbar mit ihrer Feindseligkeit. Womit habe ich das nur verdient?

Was meinten sie eigentlich mit der Aussage, dass ich keine von ihnen wäre? Auf mich wirken sie recht normal und menschlich. Doch die Tatsache, dass Kati ihre eigene Chimäre zu haben scheint, beweist mir leider, dass ich mich irren muss. Da steckt mehr dahinter, als es den Anschein hat.

Wo bin ich da nur hineingeraten? Und was hat Liam mit all dem hier zu tun?

Denn der Einzige, der mich jetzt noch vor dem sicheren Tod bewahren kann, ist Liam. Eine eigenartige Vorstellung, da ich ja am Anfang angenommen habe, dass er mich auffressen will. So wendet sich das Blatt.

Luka hat offenbar weniger Interesse an mir, da er mich kaum eines Blickes würdigt. Dennoch fühle ich auch bei ihm eine große Anspannung, die mit Feindseligkeit verbunden ist.

Keiner der Insassen fragt nach meinem Namen, noch nach meiner Herkunft. Meine Chimäre bekommt dafür mehr Aufmerksamkeit. Der Fahrer und der zweite Beifahrer sind sichtlich Nervös. Immer wieder wandern ihre Augen nach hinten zu Liam.

Auch Luka beobachtet meinen Begleiter. Er scheint Liam schon einmal begegnet zu sein, wenn ich seine Reaktion von vorhin richtig beurteile.

Habe ich das bei seinem ersten Telefonat richtig verstanden? War Liam vor drei Monaten in Bayern? Was hatte er da zu suchen? Wie kommt er hier her? Warum ist er hier her gekommen? Und wiedereinmal frage ich mich, warum ich von ihm entführt wurde.

Ich habe wenig Hoffnung, dass ich bald aufgeklärt werde, darum lehne ich mich zurück und warte einfach ab.

Es gibt hier leider kein Fenster, mit dessen Hilfe ich mir einen Überblick von meiner Umgebung machen könnte. Ob sich da draußen wohl gerade ein Autofahrer wundert, wie der Transporter zu seinem neuen Dachfenster gekommen ist? Liams Werk ist deutlich zu erkennen. Das umgeklappte Dach scheppert laut beim fahren und dröhnt in meinem angeschlagenen Schädel. Aber keiner scheint sich daran zu stören. Darum zucke ich mit den Schultern und versuche das stetige Klappern zu ignorieren und meine Kopfschmerzen zu beruhigen.
 

Keine Ahnung wie lange wir jetzt schon unterwegs sind, aber der Wagen hält endlich an. Eigenartige Geräusche dringen an mein Ohr die ich nicht einordnen kann. Dann geht die Seitentür mit einem Ruck auf. Künstliches Licht kommt mir entgegen und juckt in meinen Augen.

„Bewegen Sie sich!“, schnauzt mich Luka an. Da ich keinen unnötigen Ärger provozieren will befolge ich seinen Befehl und springe aus dem Transporter. Liam folgt mir gemächlich. Er bleibt dicht hinter mir stehen und lässt seinen Blick scheinbar lässig schweifen. Aber nach der Zeit, die ich mit ihm verbracht habe, kann ich erkennen wenn ihn etwas beunruhigt.

Ich beobachte seine Reaktion. Die Ohren sind aufgestellt und seine gesamte Körpermuskulatur angespannt. Er erweckt, für das ungeübte Auge den Anschein, dass ihn die vielen Soldaten nicht stören. Er wirkt lässig und bewegt sich so anmutig, als ob das hier sein Reich wäre und er das Sagen hätte.

Seine ganze Körperhaltung strahlt pure Dominanz aus. Dennoch lässt er mich keine Sekunde aus den Augen und streift immer wieder mit seinem Schwanz meinen Körper. Ich versuche meine eigenen Anspannung nicht auf ihn zu übertragen, sonst könnte er vielleicht auf die Idee kommen mit mir abzuhauen.

Also schaue ich mich erst einmal selbst um. Seine Anwesenheit schenkt mir ein klein wenig Sicherheit. Darum versuche auch ich gelassen zu wirken, obwohl mein Herz wie wild vor sich hin hämmert.

Wir befinden uns in einer riesigen Halle. Links und rechts von mir stehen jeweils zwei Reihen von schwer bewaffneten Soldaten. Sie beobachten jede meiner Bewegungen und beäugen Liam ängstlich. Ich kann die Anspannung in dem Raum praktisch mit meinen Händen greifen.

Wie aus dem nichts taucht die Ziege wieder auf. Sie humpelt zu mir heran und beäugt Liam misstrauisch. Er knurrt seinerseits. Scheinbar möchte er nicht, dass mir die Ziege zu nahe kommt. Das kluge Tier bemerkt es und bleibt einige Meter von mir entfernt stehen. Ein leichtes Humpeln und einige blaue Flecken an seinem Körper zeugen von der vorangegangenen Auseinandersetzung. Beinahe könnte mir die Ziege leid tun.

„Bitte folgen.“

Kurz werfe ich einen Blick über die Schulter, muss aber feststellen, dass Luka und Kati bereits verschwunden sind. Achselzuckend folge ich der sprechenden Ziege mit Hose. Wie absurd ist das denn?

Die Soldaten bewegen sich dafür keinen Millimeter vom Fleck. Wie Statuen stehen sie eingefroren an ihrem Platz und vermeiden jeglichen Augenkontakt mit Liam. Ich hingegen ernte mehr als einen tödlichen Blick. Seufzend frage ich mich zum tausendsten Male, was ich nur verbrochen haben könnte.

Die Ziege, Liam und ich durchqueren die Halle und verschwinden hinter einer Metalltür. Irgendwie kommt die mir bekannt vor. Bei genauerer Betrachtung stelle ich einige ähnliche Merkmale, wie bei der Brandschutztür in dem Labor fest. Nur dass sich hinter ihr tatsächlich ein Gang befindet und keine kleine Kammer mit Abzugsschacht.

Eine weitere Gemeinsamkeit scheint der Name dieser Einrichtung zu sein. Mitten auf der Wand steht in großen Buchstaben: Gimini Intercorbs. Ob es auch hier Bademäntel mit dem gleichen Aufdruck gibt? Bei dieser Vorstellung muss ich innerlich grinsen.
 

Der Gang ist nur spärlich beleuchtet, dafür aber kilometerlang. Hier und da führen ein paar Türen in eine unbekannte Welt. Die Ziege läuft einfach weiter stur geradeaus ohne ein einziges Mal anzuhalten und zu kontrollieren, ob ich auch brav folge.

Als ich schon fast glaube, heute nicht mehr anzukommen, bleibt sie plötzlich stehen und öffnet eine weitere Brandschutztür. Wir treten in einen hell erleuchteten Raum. Denke ich jedenfalls zuerst. Aber nach kurzem blinzeln wird mir klar, dass ich mich in einer viel jüngeren und besser gepflegten Variante meines ehemaligen Gefängnisses befinde. Auch hier gibt es eine große Glaskuppel, die allerdings noch vollkommen in Takt ist. Durch die Fenster dringt das Tageslicht und erleuchtet die gesamte Umgebung. An den Wänden laufen wieder die Spiralförmigen Absätze entlang, die in eine Vielzahl von Räumen führen. Die Treppen sind ebenfalls noch funktionstüchtig. Ob wir uns wieder unter der Erde befinden?

Ich werfe einen kurzen Blick über das Geländer und erkenne am Boden ein dickes H. Habe ich es mir doch gedacht! Hier kann also wirklich ein Helikopter starten und landen. Ich werfe einen kurzen Blick zu Liam. Dieser scheint zu wissen was in mir vorgeht, wirkt aber so, als ob er nur mit den Schultern zuckt und sagen will: “Was guckst du so, ist doch vollkommen normal.“

Wir marschieren einige Etagen nach oben, wobei mir vom ständigem im-Kreis-herumlaufen schwindlig wird. Endlich kommen wir an unserem Ziel an und ich kann erleichtert aufatmen. Unterwegs sind wir eigenartigerweise keinem begegnet. Man möchte doch meinen, dass so ein großes Gebäude reich bewohnt sei. Die Ziege öffnet mir die Tür und weist mir mit einem Nicken, dass ich eintreten soll.
 

Drinnen erwartet mich eine gemütliche Atmosphäre. Ein Mann mittleren Alters sitzt entspannt auf einer ledernen Couch und sieht mich an. Was für ein bizarrer Anblick. Ob der hier wohl das Sagen hat?

Durch ein Fenster dringt Tageslicht und verleiht dem Raum eine heimelige Atmosphäre. Der Fremde richtet sich sofort auf, als er Liam erblickt und kommt auf mich zu. Mein Beschützer knurrt ungeniert und stellt sich zwischen uns.

„Oh. Er scheint einen außergewöhnlich starken Beschützerinstinkt entwickelt zu haben. Wie interessant.“ murmelt mir der fremde Mann entgegen.

„Aha. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Entschuldigen Sie. Ich bin Professor Thomas Gillian. Mein Spezialgebiet ist die genetische Umstrukturierung von Säugetieren aller Art, um es für Nicht-Wissenschaftler verständlich auszudrücken. Die meisten können mit den präzisen Fachbegriffen eh nichts anfangen“, meint er arrogant und wedelt mit der linken. Ich komme mir wie eine lästige Fliege vor, die er verscheuchen will.

Scheinbar hält er mich für total verblödet und versucht gar nicht erst mich genauer aufzuklären. Aber was meint er mit genetischer Umstrukturierung? Verdutzt sehe ich ihn an und er bemerkt mein Unverständnis natürlich sofort. Ein funkeln in seinen Augen sagt mir, dass er meine Intelligenz auf diesem Gebiet wohl richtig eingeschätzt hat. Verdammt.

Er zeigt auf die Ziege und erklärt: „Ich erschaffe die Bestien.“

Ich blinzle. Bestien? Verwirrt blicke ich zu der Ziege und dann zu Liam. Offenbar erkennt der Professor meine Skepsis.

„Nein. XS-707-GP4 wurde von meinem Großvater erschaffen und nicht von mir. Obwohl ich unglaublich gerne einmal solch eine perfekte Kreatur kreieren würde. Aber leider ist sein Erbgut für mich unerreichbar. Man bräuchte schon seine Kooperation, aber ...“

Der verrückte Professor beendet seinen Satz nicht. Er starrt nur weiterhin meinen Liam an und nähert sich ihm zaghaft. Dieser aber schlägt mürrisch mit der Vorderpranke nach ihm und knurrt abfällig.

Der Professor weicht entzückt zurück. Scheinbar kann Liam diesen Mann nicht leiden. Ich selbst weiß noch nicht was ich von ihm halten soll. Er macht auf mich keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck.

Gerade fällt dem Professor wieder ein, dass Liam nicht alleine ist und sieht mich an. Seine glasigen Augen verursachen bei mir eine Gänsehaut und ein kalter Schauer läuft mir den Rücken herunter.

„Entschuldigen Sie Frau ...“

„Morel, Tamara Morel.“

„Nun gut. Setzten Sie sich doch. Tee?“

Ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen. Bietet der mir gerade Tee an?

Jetzt kann ich Professor Gillian doch noch einen Pluspunkt in meiner Sympathieskala geben. Freudestrahlend nicke ich heftig und nehme auf der gemütlichen Couch platz. Liam schmeißt sich indessen mit seinem ganzen Gewicht auf den Schreibtisch und bringt ihn so lauthals zum protestieren. Der Professor ist seltsamerweise keineswegs besorgt, dass der Tisch beschädigt werden könnte, sondern hellauf begeistert. Was für ein komischer Kauz.

Ich genehmige mir einen Schluck von dem köstlichen Getränk, das mir die Ziege serviert und seufze zufrieden. Danach verlässt sie uns.

„Frau Morel, darf ich fragen, weshalb sie sich in das Labor geschlichen haben?“

Empört blicke ich auf. „Ich habe mich nicht rein geschlichen.“ Wütend werfe ich ein Auge auf den Übeltäter. „Liam hat mich entführt.“

Der Professor zieht eine seiner ergrauten Brauen hoch und muss meine Worte erst einmal verdauen.

„Entführt?“

„Ja richtig. Ich war mit meinen Kollegen und unseren Kindern im Ferienlager, als Justin einen Fußball in den Wald gekickt hat. Susi, Andrea und ich sind dem verflixten Ding hinter und haben uns aufgeteilt. Dann habe ich einen Schrei gehört. Als ich nachsehen wollte was passiert ist, war Liam gerade dabei Susi anzugreifen und ich habe ihn irgendwie ablenken können. Dann ging alles ganz schnell. Erst konnte ich entkommen, doch dann war er wieder da und dann wurde alles schwarz. Als ich ...“ atemlos stoppe ich meinem herunter gerasselten Bericht als ich merke, dass mir der Professor gar nicht mehr zuhört. Er blickt unentwegt zu Liam und murmelt vor sich hin. Irgendwie komme ich mir verarscht vor.

„Hören Sie mir überhaupt zu?“ Scheinbar genervt wedelt der Professor wieder mit der Hand.

„Ehrlich gesagt ist mir egal, wie Sie in das Labor gekommen sind. Das wird der Rat und der General genauer unter die Lupe nehmen. Ich finde es dafür viel interessanter zu erfahren, wie sie es geschafft haben XS-707-GP4 zu zähmen und das ohne spezielle Ausbildung.“

Jetzt scheine ich seine ganze Aufmerksamkeit zu haben. Mir platzt der Kragen. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und sehe den Professor herausfordernd an.

„Ehrlich gesagt ist es Mir egal, was Sie interessiert. Ich will einfach nur nach hause.“

„Das geht nicht. Sie haben verbotenes Terrain betreten. Entweder Sie kooperieren, oder Sie sterben. Ganz einfach.“

Ganz einfach? Was bildet der sich ein? Der hat kein Recht über mein Leben zu bestimmen.

„Ich war doch nicht freiwillig in diesem Labor! Liam hat mich verschleppt! Und wenn es stimmt was Sie sagen und Sie wirklich diese Chimären züchten, dann übernehmen Sie die Verantwortung und bringen mich nach hause! Sofort!“ Ich setzte mein strengstes Erzieher-Gesicht auf.

„Erstens, sind das keine Chimären, sondern Bestien. Und Zweitens, können Sie so viel Theater machen wie Sie wollen, es wird Ihnen aber trotzdem nichts bringen.“

Frustriert puste ich in meinen Tee.

Nach einer kurzen Pause lehnt er sich vor und sieht mir direkt in die Augen. Innerlich koche ich vor Wut.

„Sehen sie es mal so. Der einzige Grund dafür, dass Sie noch am Leben sind, ist der, dass XS-707-GP4 sie beschützt. Ansonsten wären Sie bereits tot.“

Wütend stehe ich auf. „NEIN! Wenn mich XS-irgendwas nicht entführt hätte, wäre ich jetzt zu hause!“

„Ich sehe schon. Mit Ihnen kann man nicht vernünftig reden.“

Frustriert stampfe ich mit dem Fuß auf und renne zu Liam. Wenn ich meine Wut jetzt nicht raus lasse, dann platze ich. Wütend richte ich meine Augen auf ihn. Liam aber scheint das egal zu sein, müde gähnt er mir entgegen.

„Du blödes Vieh. Das ist alles deine Schuld!“ schnauzte ich ihn an. Er reagiert, wie nicht anders zu erwarten war, laut brüllend. Natürlich lässt er sich meinen Wutausbruch nicht gefallen. Er erhebt sich und schlägt seine Krallen in den Tisch um mir zu zeigen, was er von meiner Standpauke hält.

„Jetzt beruhigen Sie sich doch mal! Es bringt rein gar nichts Ihre Wut an der Bestie auszulassen, damit provozieren Sie sie nur unnötig. Wissen Sie überhaupt was geschieht wenn sie der Raserei verfällt?“ ermahnt mich der Professor wie ein kleines, dummes Kind. In seinem Unterton erkenne ich einen Anflug von Panik.

Ich drehe mich zu ihm um und zeige auf die tobende Katze.

„Dieses Vieh ist an allem Schuld. Darum kann ich so wütend auf ihn sein, wie ich will!“

Als Prof. Gillian zu einer Erwiderung ansetzen will klingelt das Telefon. Mit hängenden Schultern geht er ran.

„Bitte Sir, geben Sie mir noch etwas mehr Zeit. Sie wird kooperieren … Nein … bitte, wir dürfen XS-707-GP4 nicht verlieren. Aber …. bitte … verstehe.“ Während des kurzen Gespräches wurde die Stimme des Professors immer kleinlauter. Scheinbar hat er hier doch nicht das Sagen. Nach dem Auflegen wirkt er geknickt. Erst sieht er traurig zu Liam, dann unglaublich sauer zu mir.

„Das ist alles Ihre Schuld.“ faucht er mich an. Als Liam den Ton des Mannes bemerkt springt er vom Tisch und faucht seinerseits zurück. Scheinbar hat er meinen kleinen Wutausbruch schon wieder vergessen und sein Beschützerinstinkt übernimmt wieder die Führung.

Die Ziege kommt in den Raum zurück und hält die Tür unaufgefordert auf.

„Folgen Sie ZP-984.“ Ohne einen weiteren Abschiedsgruß stellt sich der durchgeknallte Professor vor das Fenster und blickt nach draußen. Dieser Rückzug befriedigt meinen Beschützer und er folgt der Ziege beruhigt.
 

Die Bestie mit den Hörnern führt uns über den Treppenabgang in einen kleinen, dunklen Raum. Wieder eine Stahltür. Als ich mich umblicke überkommt mich eine Gänsehaut. Stahlplatten zieren die Wände und grinsen mich schadenfroh an.

„Lebewohl.“ gackert die Ziege noch schnell, dann schlägt sie die Tür zu. Liam macht es sich auf dem Boden gemütlich. Scheinbar kennt er solch eine Situation bereits und ist keineswegs beunruhigt. Ich dränge mich in eine Ecke und ziehe meine Beine an den Körper. Wollen sie mich hier jetzt für immer einsperren?

Die ganze Aufregung hat mich meine Kopfschmerzen vergessen lassen, aber nun melden sie sich freudig zurück. Mist! Frustriert sehe ich zu Liam.

„Warum hat du mir das angetan?“

Er reagiert nicht wirklich auf meine Frage. Das habe ich auch nicht erwartet. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Ich will nicht weinen. Normalerweise bin ich nicht solche eine Heulsuse, aber diese ganzen verkorksten Erlebnisse sind nun wirklich zu viel für eine normale Erzieherin aus einer kleinen, namenlosen Kleinstadt.

Ein leises Zischen weckt meine Aufmerksamkeit. Ich schaue verwundert zu dem großen Kater, aber der schlummert nur vor sich hin. Als ich nach oben blicke weiß ich, wie ich sterben werde: an einer Gasvergiftung! Grüner Rauch kommt in Sekundenschnelle in den Raum und verpestet die Luft. Wenigstens geht es so schnell vonstatten.

Kaum dass ich die erste Wolke einatme überkommt mich ein starker Hustenanfall. Meine Gedärme fühlen sich so an, als ob sie mit aller Macht nach draußen gezerrt werden. Vor Schmerzen krümme ich mich auf dem metallenen Boden zusammen und jammere vor mich hin. Liam ist sofort an meiner Seite und maunzt kläglich. Er spürt, dass mit mir etwas nicht stimmt und stupst mich mehrmals mit seiner kühlen Nase an, aber ich kann und will nicht auf ihn reagieren.

Langsam schwinden mir die Sinne, trotzdem kriege ich noch mit wie Liam plötzlich zu brüllen anfängt. Er fährt seine Klauen aus und tobt wie wild. Mit seinen Pranken hämmert er gegen die stählerne Tür.

Metall auf Metall. So hört es sich an. Das Dröhnen durchbricht meinen Nebel und sorgt dafür, dass ich bei Bewusstsein bleibe. Liam tobt immer wilder. Er rennt zum anderen Ende des Raumes und springt mit voller Wucht gegen die Tür. Eine Delle zeugt von der gewaltigen Kraft, die in ihm steckt. Er versucht es gleich nochmal und nochmal. Und nochmal.

Ein lautes Krachen verrät mir, dass er die Tür erfolgreich aus den Angeln getreten hat. Draußen ertönt eine Sirene und schallt in meinem Kopf. Liam kommt zu mir gehechtet und packt mein zerrissenes T-Shirt. Ihm gelingt es mich wie ein Katzenjunges hochzuheben und nach draußen zu tragen. Ich würge und huste Blut auf den Boden. Aus den Augenwinkeln erkenne ich die bereits wartenden Soldaten. Mit Masken im Gesicht und aufgerichteten Waffen zielen sie auf uns, scheinen aber noch nicht schießen zu dürfen. Das Gas entkommt und strömt ebenfalls ins Freie.

Liam packt wieder mein T-Shirt, setzt zum Sprung an und landet eine Etage weiter oben. Auch dort wartet bereits eine große Anzahl von Soldaten auf uns. In der Ferne höre ich lautes Brüllen und Fauchen. Als ich meinen Blick in die Tiefe richte, entdecke ich eine kleine Armee von Bestien. Sie springen flink nach oben und haben uns ganz klar anvisiert. Das alles ist ein einziger Altraum.

Schluchzend will ich, dass alles endlich ein Ende hat. Liam aber denkt nicht daran aufzugeben und springt weiter nach oben. Erst als er die oberste Etage erreicht hat gibt er Ruhe. Er setzt mich in einer Nische unterhalb eines Querbalkens ab und blickt sich um. Versucht er gerade eine Strategie zu entwickeln? Bei ihm wundert mich langsam gar nichts mehr.

Die Wirkung des Gases hat nachgelassen. Mein Husten verschwindet und das Atmen fällt mir wieder leichter. Scheinbar war ich dem grünen Gift nicht lange genug ausgesetzt, um an den Folgen zu sterben. Ich schaue hoch zum Dach und hoffe, dass wir durch eines der Fenster entkommen könnten. Doch meine Hoffnung wird zerstört als ich vogelartige Kreaturen entdecke. Mit Krallen und Flügeln hocken sie da oben und warten auf uns. Ihre Schnäbel und Münder sind teilweise zu grotesken Fratzen verzerrt.

Ich blicke zu Liam. Auch er hat unsere scheinbar ausweglose Situation erkannt. Er sieht mir in die Augen und etwas in meiner Seele wird tief bewegt. Eine einzelne Träne rinnt meine Wange hinab. Ich will nicht sterben.

„Ich habe Angst. Hilf mir Liam“, flehe ich ihn flüsternd an.

Einen Sekundenbruchteil stoppt die Zeit. Dann glühen seine Augen auf und färben sich auf einmal rot. Nicht nur seine Regenbogenhaut, sondern sein gesamter Augapfel wird von dem glühenden Rot verschlungen. Mit einem Brüllen macht er seiner Wut Luft. Sein Fell verhärtet sich und wächst stachelartig aus seinem Rücken, seine Gliedmaßen werden kräftiger und sein Brustkorb schwillt an. Er wächst um einige Meter. Meine Augen weiten sich vor Schreck. In dieser Gestalt und so wütend habe ich ihn noch nie gesehen.

Mit einem mächtigen Satz durchbricht er das Dach. Glassplitter regnen herab. Menschliche, sowie bestialische Schreie kommen aus der Tiefe. Eine Gänsehaut überkommt mich.

Als ich meinen Blick gebannt nach oben richte, erwartet mich ein erbarmungsloses Schlachtfeld. Federn, Köpfe, Füße. Alles verschwimmt in einem riesigen Knäuel. Liam nimmt sich einen Gegner nach dem anderen vor ohne einmal anzuhalten. Er schleudert sie mit bloßer Kraft durch die Gegend, sorgt dafür dass die ersten die Flucht ergreifen. Von unten kommt Verstärkung. Vierbeinige und zweibeinige Kreaturen stürzen sich mit ins Getümmel. Die Luft ist von Schmerz und Blut durchtränkt.

Plötzlich packt eine Hand meine Schulter. Ein Mann mit langen schwarzen Haaren und meerblauen Augen sieht mich an.

„Beenden Sie das Ganze, Frau Morel.“

Verdutzt mustere ich sein Gesicht. Er sieht unglaublich gut aus. Benebelt von den Eindrücken versuche ich mich zu konzentrieren. Jetzt erst kommen seine Worte in meinem Gehirn an.

„Beenden?“, frage ich verwirrt.

„Pfeifen Sie ihre Bestie zurück.“

„Das kann ich nicht“, gebe ich kleinlaut zu.

„Doch das können Sie. Sie sind die Einzige die das kann. Darum leben sie noch, auch wenn Sie dem Feind angehören.“

Ermunternd drückt er meine Schulter. Wütend runzle ich die Stirn. Ich lebe noch, weil Liam mich beschützt. Und welcher Feind? Dennoch macht mir der derzeitiger Zustand meines Begleiters Sorgen.

Wird er ein Blutbad anrichten? Kann ich das mit meinem Gewissen vereinbaren? Ich glaube nicht. Aber wie soll ich ihn wieder beruhigen? Wenn ich es versuche und es tatsächlich schaffe, werden diese wahnsinnigen Soldaten und der irre Professor dann wieder versuchen mich zu töten?

Scheinbar kann der Fremde meine Gedanken lesen. Er blickt mir tief in die Augen.

„Ihnen wird nichts mehr geschehen. Kooperieren Sie und zeigen Sie uns Ihren guten Willen.“

Ich beschließe ihm zu vertrauen. Auf mich wirkt er jedenfalls netter als der Professor.

Ich straffe meine Schultern und suche nach Liam. Er befindet sich noch inmitten des Kampfes. Soweit wie ich es erkennen kann besitzt er die Führung. Immer mehr Kreaturen ziehen sich schwer verletzt zurück. Sie fauchen und wimmern und scheinen Liam beruhigen zu wollen, doch der denkt gar nicht daran sich zurückzuziehen.

So wie es aussieht hat er unglaublich viel Energie und scheint alles auseinander nehmen zu wollen. Seine Hiebe lassen nicht nach und er verliert auch nicht an Schnelligkeit oder Kraft. Wie ein Berserker widmet er sich seinen Gegnern. Blut regnet auf uns herab. Einzelne Gliedmaßen verteilen sich überall auf dem Boden. Mir wird schlecht. Das ganze macht ihm zu viel Spaß. Verunsichert schlucke ich. Kann ich ihn wirklich aufhalten?

Zögernd mache ich einen Schritt nach vorne, nur um sicher zu gehen, dass Liam mich auch sehen kann. Dabei weiche ich einem riesigen taubengrauen Flügel aus.

„Liam. Stopp!“, rufe ich zu ihm herauf. Doch er reagiert nicht. Ich schaue wieder zu dem Fremden.

„Versuchen Sie es noch einmal. Er muss merken, dass Sie es ernst meinen.“

„LIAM. NEIN!“, brülle ich ihm entgegen. Seine Ohren zucken und kurz sieht er in mein Richtung, aber dann wirft er sich wieder ins Gefecht. Noch eine Bestie wird auseinander gerissen.

„Scheinbar habe ich Ihnen zu viel zugemutet.“

Ich drehe mich wieder um und fixiere den Mann. Er wirkt … enttäuscht? Dann holt er ein Telefon aus der Tasche.

„Professor. Frau Morel konnte ihn nicht stoppen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn auszulöschen. Ich werde mich jetzt an dem Kampf beteiligen.“ Ein lauter Schrei kommt von der andern Seite des Telefons. Der Professor ist wohl alles andere als begeistert.

Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Wenn ich Liam nicht aufhalte, dann werden sie ihn töten. Auch wenn ich ihm diese ganze Sache zu verdanken habe, so ist er mir doch irgendwie ans Herz gewachsen. Ich kann nicht zulassen, dass er stirbt.

Ich drehe mich wieder zu ihm um und versuche ihn mit mehrmaligem Rufen aufzuhalten, doch er hört einfach nicht. Ich trete an das Geländer und spüre einen stechenden Blick in meinem Nacken. Dann lehne ich mich nach unten und prüfe die Höhe. Schwindelgefühl und Angst greifen mich an.

„Was machen Sie da?“, fragt mein Beobachter scheinbar entsetzt.

„Ihn aufhalten.“, entgegne ich eiskalt.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und hoffe, dass Liam das jetzt mitbekommt. Ich setze mich auf das Geländer und lasse mich Rückwärts nach unten fallen. Hoffentlich geht meine Taktik auf und ich aktiviere Liams Beschützerinstinkt.

Der Fremde kommt angerannt und scheint ebenfalls zum Sprung anzusetzen. Doch mir bleibt nicht viel Zeit. Ich richte meinen Blick nach oben.

„LIAM!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Überarbeitet am: 06.09.14,12.07.15, 11.02.18 Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Mimmy-chan
2013-07-01T22:34:58+00:00 02.07.2013 00:34
So, nun wird es langsam mal Zeit die vielen Stichpunkte in Kommis zu verpacken. XD
*Ärmel hochschieb* Frisch ans Werk:

Hach, die arme Tamara. Kaum, dass sie aus einem Gebäude kommen konnte, sitzt sie auch schon einem anderen. Vielleicht will ihr das Schicksal damit sagen, dass sie nicht davor davon laufen kann? XD

Boah, dieser Professor hat ja eine echte Liam-Manie! XDDD
Jedoch ist alles was er zu Tamara sagt weniger witzig. Sie soll kooperieren, oder sterben? Na was für eine Auswahl. >.< Kein Wunder, dass die Kinderbetreuerin nun wütend auf ihrer zu groß geratenen Kater ist.

Ö.Ö Die wollen sie vergasen?! Ach du… ein Glück, dass der Liam die Tür mit Leichtigkeit öffnen kann. Hach, er ist schon ein Held. Einer, der die Wünsche seiner Prinzessin nicht immer erfüllt, aber ihre Sicherheit steht ihm zumindest über allem anderen.
Insbesondere, als die vielen Bestien und Soldaten sie angreifen wird das deutlich. Die Vorstellung wie sie zitternd in dieser Ecke hockt und ihren Beschützer anfleht ihr zu helfen ist ursüß. <3

Der Kampf wiederrum hat mir so richtig Angst gemacht. Bei der Raserei ist es kein Wunder, dass Liam seine Prinzessin nicht hört. Da hilft ihr wohl kein Geschrei. (Ganz nebenbei, wer ist dieser Mann mit den schönen Augen? *hrhr*)

Neiiiin! Sie lässt sich einfach fallen. Einfach so! Wehe du fängst sie nicht Liam! Wehe! WEHE!

Kyaaa, das Kapitel war so spannend. Ich musste einfach weiter lesen.

chuchu Mimmy-chan
Von:  Thuja
2013-05-07T22:37:07+00:00 08.05.2013 00:37
Liebe Geschichte. Lass dich drücken. Du bist einfach so toll ♥

Das war Spannung der extra klasse.
Mehr als einmal habe ich um sie gebangt. Ganz besonders in diesem Raum mit dem Gas wurde es wirklich eng und ich habe gezittert und mitgefiebert
Du hast hier wirklich Höhepunkte geschaffen.
Aber Liam ist super. Er hat sie beschützt so gut wie er konnte.

Sehr interessant war auch die Begegnung mit dem Erschaffer der Bestien.
Und noch eine Person, die hier aufgetaucht ist, hat mein Interesse geweckt. Dieser Kerl, der sie erst dazu ermuntert hat, Liam unter Kontrolle zu bringen und sich nun selbst in den Kampf einmischen wollte. Irgendwie hat er etwas, was mir gefällt. aber ich kann es noch nicht definieren. Dafür weiß ich noch zu wenig über ihn

Jedenfalls hoffe ich nur, dass Liam ihren Sturz jetzt auch wirklich abfängt. Ein gewagter Plan von ihr

Antwort von:  NaBi07
09.05.2013 13:58
*liebe Geschichte drückt dich zurück*
*gg*
Ja, der General ist auch einer meiner lieblinge. Ich hoffe du kannst ihn später auch so sehr in dein Herz schließen, wie ich es getan habe ;)
Von:  hanabi_2001
2013-04-15T15:28:58+00:00 15.04.2013 17:28
Oh man ich bin ganz außer Atem so aufregend und so viele verschiedene Bestien im Kampf, das alles nach dem Mordversuch an Tamara. Dann lässt sie sich auch noch in die Tiefe fallen. Ich kann nicht aufhören mit lesen. Ab zum nächsten Kapi.


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