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Stille Wasser

von

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Bruderherzen

"Brauchst du einen Eimer?"

Henrik verdrehte die Augen. Norman konnte vielleicht Fragen stellen. Alles, was nach so einem Abend in einen Eimer gehörte, hatte er auf der Straße gelassen. Irgendwo zwischen diesem Club Soundso und Normans Wohnung.

"Mir geht’s gut."

"Freut mich." Mit einer Ermahnung auf den Lippen sah Norman Henriks in die Ecke gefeuerten Schuhen nach, denen gleich darauf 80% seiner Kleidung folgten, ehe sich der dazugehörige Bruder auf das Bett schmiss und den Großteil davon wie selbstverständlich für sich beanspruchte.

"Rück rüber, du Walross."

Widerwillig machte Henrik Norman Platz. "Wie wär's mit einem größeren Bett?", knurrte er genervt.

"Wie wär's mit dem Boden?", entgegnete Norman spitzzüngig.

Henrik brummelte etwas unverständlich in Richtung der Wand, so dass nicht völlig klar war, ob er schimpfte oder sich über Norman amüsierte.

Norman beschloss, Henriks Anwesenheit auszublenden. Was die letzten 19 Jahre funktioniert hatte, klappte heute allerdings nur so lange, wie Henrik sich nicht auf dem schmalen Bett bewegte oder sich, wie gerade jetzt, zu Norman umdrehte und diesem die Knie in die Seite stieß.

"Henrik, du Esel, mach Platz!"

"Ich habe Platz, danke", murmelte Henrik mehr schlafend als wach, der anders als Norman offensichtlich keine Probleme mit dem Einschlafen hatte.

"Dreh dich um!" Norman stieß Henrik gegen die Schulter, der das schnaufend hinnahm und die fünf Zentimeter, die Norman ihn bewegt hatte, wieder zurücklegte, als zöge ihn sein Bruder magnetisch an.

"Henrik, du atmest mir ins Ohr."

"Und du schnarchst", murmelte Henrik im Halbschlaf.

"Ich habe noch gar nicht geschlafen", zischte Norman, dem mittlerweile so einiges durch den Kopf ging, wie man nervige Brüder entnervte. Und gerade, als ihm eine Idee kam, musste Norman an ein Erlebnis denken, das bereits gefühlte hundert Jahre zurückliegen musste.

Damals, als Henrik noch platzsparender gewesen war.
 

"Unser Hochbett – weißt du noch?", sagte Norman in die Stille hinein. Er bekam keine Antwort, was ihn allerdings nicht daran hinderte, weiter in ihrer vergangenen Kindheit zu schwelgen.

Sie hatten ein Hochbett bekommen, nachdem Henrik zu groß für sein erstes Kinderbett geworden war. Und kaum war das Bett aufgebaut, hatten sich Norman und Henrik pausenlos darüber gestritten, wer oben schlafen durfte.

Norman, der es als sein gegebenes Recht als Erstgeborener angesehen hatte, den oberen Platz darin zu bekommen, hatte nicht mit dem lautstarken Protest des jüngeren Henriks gerechnet, der sich das nicht hatte bieten lassen.

Irgendwann hatte ihre dauergestresste Mutter den Streit beendet und den Vorschlag gemacht, dass sie alle paar Wochen abwechselten.

Damit waren die beiden vorerst besänftigt.

Großzügig – und weil er wusste, dass sein kleiner Hosenscheißer-Bruder sowieso nichts mit Daten anfangen konnte – hatte Norman Henrik die erste Runde in ihrem Schlafplatz-wechsel-dich-Rhythmus überlassen.

Stolz wie der erste Mensch, der einen fremden Planeten betrat, hatte Henrik mitsamt seinem lächerlichen dreibeinigen Stoffhund sein Nachtquartier bezogen, während Norman unten lag und sich ausmalte, dem Kindergartenbaby Henrik in ein paar Tagen weiszumachen, die abgemachten vier Wochen seien bereits vergangen.

Norman musste nicht einmal vier Stunden warten.

Kaum war das Licht aus, da hörte Norman auch schon, wie die Matratze über ihm knarrte. Ein Fuß erschien, der blind nach der oberen Leitersprosse suchte und sie auch fand, ehe sich der zweite Fuß hinzugesellte. Sekunden später baumelte der Stoffhund kopfüber aus der oberen Etage, um dann, die verbliebenen drei Beine wie gerissene Fallschirmschnüre hinter sich her wedelnd, zu Boden zu fallen.

Und so begann Henriks Abstieg aus dem hart erkämpften zweiten Stock, der damit endete, dass er unter Normans Decke kroch, ihm die Knie in den Rücken drückte und, den Hund im Arm haltend, seelenruhig einschlief.

Von da an war das Thema, wer wo wie lange schlafen durfte, erledigt und Norman hatte seinen neuen Schlafplatz nie mehr wieder vor seinem kleinen nervigen Bruder verteidigen müssen.

Norman lachte leise.

Henrik war zeitweise wirklich schrecklich nervig gewesen, aber immer für Unsinn zu haben, was der größte Vorteil von kleinen Geschwistern war, die alles, was die Großen sagten oder taten für anbetungswürdig hielten – und denen man nebenbei auch schon mal die Schuld für etwas unterjubeln konnte, für das man als älterer und vernünftigerer Bruder sonst gleich irgendwelche Arreste oder Verbote bekommen hätte.

Das hatte zumindest so lange funktioniert, bis Henrik irgendwann die Taktik dahinter durchschaut hatte. Danach hatte er es gerne mal für sich selbst genutzt.

Dafür hatte Norman auch so einiges auf seine Kappe genommen, weil ihre Eltern manchmal nicht gerade wählerisch gewesen waren, wenn es um den Unterschied zwischen Es war keine Absicht und Okay, das war Absicht ging.
 

"Bist du noch wach?" Norman hörte seiner eigenen Stimme zu, die in dem ruhigen Zimmer verklang, ohne dass sich Henrik rührte. Norman hob den Kopf, aber alles, was er aus seiner Position heraus von Henriks Gesicht sehen konnte, waren die Konturen seiner geschlossenen Augen, seiner Wange, des Kinns und die Spitze seiner Nase.

Langsam öffneten sich Henriks Augenlider.

"Wir haben mal eine Decke an die Vorderseite gehängt und so getan, als schliefen wir im Zelt." Henrik drehte sich auf den Rücken. Vor dem geschlossenen Fenster summte leise der nie endende Stadtverkehr. Er dachte an das erste Mal, dass er Norman hier besucht hatte und daran, ihm damals schreckliche Schlafstörungen wegen der Lage an der Hauptstraße prophezeit zu haben. Was sich nicht bewahrheitet hatte.

Norman betrachtete sich das im Halbdunkel liegende Profil seines Bruders, der nach diesem einen Satz schwieg und an die Decke starrte.

"Du hast das Fenster geöffnet, damit es echter wirkt", sagte Henrik nach einer Weile und drehte sein Gesicht zu Norman hin, der einen Punkt an der Wand hinter Henrik fixierte. "Draußen hat es gestürmt und geregnet und ich hatte echt Schiss, aber es war wirklich sehr authentisch."

Henriks Lachen ließ Norman den Gedanken verlieren, der sich gerade am Aufbauen gewesen war.

Und wie er sich daran erinnerte! An alles. Den krachenden Donner, die Blitze, deren kurzes Aufleuchten sie durch das Gewebe der Decke hindurch hatten sehen können. Er erinnerte sich an den Regen, der in Traubengroßen Tropfen vom Himmel fiel und auf die Fensterbank prasselte, und an den Wind, der durchweichte Blätter gegen die klappernden Fenster klatschte. Mit wütendem Getöse hatten die Böen von draußen an der Decke vor dem Bett gezerrt, aber sie hatten sie so fest in die Matratze geklemmt, dass sie sich lediglich aufbauschte, ohne jedoch weggerissen zu werden.

Mit Taschenlampen hatten sie in Henriks unterer Etage gesessen und Norman hatten dem gebannt lauschenden Henrik, der mit offenstehendem Mund und an die Brust gedrücktem Stoffhund vor ihm gesessen hatte, Gruselgeschichten erzählt, bis sich Henrik vor Angst fast in die Hose gemacht hatte.

Und dann war ihr Vater ins Zimmer gekommen, hatte die Decke weggerissen und sie hatten ordentlich Prügel bezogen. Alles nur, weil es auf die Fensterbank und den Boden darunter geregnet hatte.

Normans Magen machte eine 180°-Drehung. Eigentlich hatte nur er die Prügel bekommen, aber Henrik hatte es mitansehen müssen. Unbewusst fuhr er sich durch das Haar an seinem Hinterkopf, weil er im ersten Moment sicher gewesen war, dass er dort ein Büschel herausgerissener Haare finden würde.

Henrik, der sich wieder zur Wand hinüber gedreht hatte, gab vor zu schlafen. Er spürte an der nachgebenden Matratze, wie sich Norman ihm zuwandte, kurz innehielt, als wolle er noch etwas sagen oder fragen, und Henrik dann den Rücken zudrehte, als der nicht reagierte.
 

Erleichtert öffnete Henrik seine geschlossenen Augen. Seine Blicke fielen auf ein Bild, das in Augenhöhe an der Wand hing. Er konnte zwar weder alle Details noch die Farben darauf erkennen, doch die beiden Gesichter waren unverkennbar. Norman und Denny. Beide lachten glücklich und Henrik erwiderte ihr Lächeln unwillkürlich.

Norman hatte Recht, Henrik besaß genau ein einziges Talent, das er voller Hingabe hegte und pflegte: das Talent, immer den falschen Augenblick zu erwischen...

Henriks Lächeln verschwand.

In dem Moment, in dem er das authentisch ausgesprochen hatte, war Henrik wieder eingefallen, wie das Erlebnis mit ihrem selbst gebauten Zelt geendet hatte – nicht für ihn, für Norman – und er hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen.

Und da war auch wieder der Punkt, weswegen er sich von Norman vor Denny bloßgestellt gefühlt hatte, weil er ihm von den Streitereien ihrer Eltern erzählt hatte, von den unzähligen Stunden, die sie in ihrem Zimmer hatten verbringen müssen, und den Ängsten, die sie währenddessen ausgestanden hatten. Ausgerechnet davon.

Das Meiste wusste er nicht einmal mehr. Von vielem waren nicht mehr als ein paar schemenhafte Erinnerungen zurückgeblieben, die wie im Sonnenlicht verblasste Fotos wirkten, und Norman hätte es vielleicht auch besser dabei belassen.

Aber stattdessen hatte er Henrik dazu verdammt, diese Stunden, die wie zähes Karamell dahingeflossen waren, wieder zu durchleben, in denen ihm Norman die Ohren zugehalten hatte.

Immer wieder das gleiche.

Normans dumpfer Herzschlag, der sich – wie Henrik erst später herausgefunden hatte – je nach Heftigkeit der Streitereien ihrer Eltern beschleunigt hatte. Der rauschende Atem seines Bruders, der seine Brust mit Henriks dagegen gepresstem Kopf wie ein auf den Wellen eines Sturmgepeitschten Ozeans treibendes Boot auf und nieder geschaukelt hatte. Und das erstickte Flüstern, das in seinem Brustkorb nachgehallt hatte und von dem Henrik noch immer nicht wusste, ob es ihm gegolten hatte, oder ob Norman sich damit hatte selbst beruhigen wollen.

Aber vor allem hatte sich seine eigene Panik tief eingebrannt. Nicht, weil ihre Eltern laut geworden waren. Spielende Kinder waren auch laut. Startende Flugzeuge waren sogar unheimlich laut.

Norman war der Auslöser für diese Panik gewesen, weil er sich selbst gefürchtet hatte, obwohl Henrik bisher fest davon überzeugt gewesen war, dass Norman sich vor nichts fürchtete, weil große Brüder nun mal alles konnten.

Dass sein großer Bruder eigentlich machtlos war, war eine Erkenntnis gewesen, die Henrik tief getroffen und im ersten Augenblick gelähmt hatte.

Doch irgendwann zwischen diesem Erlebnis und Normans Auszug musste etwas passiert sein, dass Normans Hilflosigkeit sich hatte in Luft auflösen lassen. Auf einmal war Norman nicht mehr schwach gewesen und Henrik wollte wissen, warum.

Morgen würde er ihn fragen. Und Henrik wusste auch, was. Das, was ihm im Club dank Normans Kopfnuss und der Cola auf der Hose im Hals stecken geblieben war: ob er für ein paar Wochen bei ihm unterkommen könne, oder zumindest so lange, bis er etwas eigenes gefunden hatte.

Unterstützung hatte er auch, da war sich Henrik absolut sicher, immerhin war es Denny gewesen, der ihm davon erzählt hatte, dass Norman schon so einige Male unterwegs gewesen wäre, um seinen Bruder zu bitten, zu Hause auszuziehen.

Denny war also auf seiner Seite und Norman war praktisch überstimmt, noch ehe es zu einer Abstimmung kommen konnte. Und so wie er sich angestellt hatte, als es um Denny ging, würde er ihm doch niemals einen Wunsch ausschlagen.

Henriks Lächeln wurde von Denny und Norman auf dem Foto erwidert, ehe er die Augen schloss und zufrieden einschlief.

Er war ja so clever!
 

Mit einem schmerzenden Kopf, der sich anfühlte, als versuche er eine zentnerschwere Granitkugel auf seinem Hals zu balancieren, saß Norman am nächsten Morgen am Frühstückstisch und stocherte lustlos in einem ebenso lustlos schmeckenden Joghurt.

Nebenan im Bad hört er das Rauschen der Dusche und Henrik, der fröhlich vor sich hin pfiff.

Was gab es da zu pfeifen?

Und wieso hatte ausgerechnet er einen Kater, obwohl er, anders als Henrik, nicht einen einzigen Tropfen Alkohol getrunken hatte?

Es war Norman völlig schleierhaft.

Er hatte nicht geschlafen, das war alles. Oder kaum. Eine halbe Stunde, um genau zu sein. Eine lausige halbe Stunde.

Norman schob den Joghurt beiseite, verschränkte die Arme vor sich auf der Tischplatte und ließ seinen Granit-Kopf darauf sinken. Vielleicht gönnte ihm sein Bruder, der ihm die ganze Nacht lang ins Ohr geatmet hatte, ja wenigstens jetzt noch ein paar Minuten Ruhe.

Prompt klirrte irgendetwas nebenan und Norman fuhr erschrocken auf.

Henrik fluchte und Norman tat es ihm in der Küche gleich, wenn auch aus einem anderen Grund.

Aus kleinen nervigen Brüdern wurden scheinbar keine vernünftigen kleinen Brüder. Sie wurden zwar älter und meistens auch größer, blieben aber nervig. Lebenslang.
 

"Morgen!", begrüßte Henrik Norman gut gelaunt. Er plumpste wie ein nasser Mehlsack auf den Stuhl gegenüber seines Bruders, reckte die Arme in die Luft, um sich zu strecken und gähnte gleichzeitig ausgiebig.

"Erzähl mir bitte nicht, du bist noch müde", brummelte Norman schläfrig.

"Ich hätte besser geschlafen, wenn du mir Platz gemacht hättest."

"Ich habe dir keinen Platz gelassen?" Norman konnte es nicht fassen. Henrik besaß tatsächlich die Frechheit, die Fakten zu verdrehen und ihn dabei auch noch unschuldig anzulächeln.

"Kaffee ist leer", eröffnete Norman seinem furchtbar vergnügt vor sich hin summenden Bruder, der sich gerade beschwingt ein Brötchen aufschnitt. So, dem hatte er es gegeben!

"Mag ich eh nicht." Seelenruhig bestrich Henrik die beiden Brötchenhälften mit Butter und quetschte Honig aus einer mit Wabenmuster verzierten Plastikflasche darauf. Er nahm eines der beiden Honigbrötchen und biss mit solchem Genuss davon ab, dass Norman kurz am Verstand seines Bruders zu zweifeln begann. Wie konnte man sich sonst so dermaßen über ein Honigbrötchen freuen? Vielleicht waren der Raubtier-Cocktail und seine nette Schwester doch zu viel gewesen?

"Wasgibbsnsons?", nuschelte Henrik mit vollem Mund.

Seufzend erhob sich Norman. Eigentlich gab es genug. Zum Beispiel das Thema, dass Henrik früher abreisen musste und das Norman noch ein bisschen hinauszögern wollte, weil er es nicht einfach so fertig brachte, seinem sich über ein Honigbrötchen freuenden Bruder das Herz zu brechen.
 

"Hier."

Henrik sah die dampfende Tasse mit großen Augen an. "Kakao?", hauchte er ehrfürchtig.

"Fang jetzt nicht an zu heulen", unterbrach Norman Henrik belustigt, der sich über die Tasse beugte und den aufsteigenden Kakaodunst einatmete.

"Das muss ewig her sein, dass ich das letzte Mal einen heißen Kakao getrunken habe. Ich liebe heißen Kakao."

"Ist das so?" Norman hob verwirrt die Schultern. Manchmal wusste er einfach nicht, ob es Henrik ernst meinte, oder sich über etwas lustig machte. Da er den Kakao aber anstandslos trank, schien er es ernst gemeint zu haben.

"Henrik?" Norman wartete, bis der Angesprochene damit aufhörte, in die Tasse zu pusten und ihn ansah. "Wir müssten über etwas reden."

Nur widerwillig ließ sich Henrik von seinem Frühstück abhalten, aber Wir müssten über etwas reden klang so... förmlich. So Norman-untypisch, der, seit sich Henrik erinnern konnte, zur Untermalung seines Gesagten gerne Kopfnüsse verteilte, statt großartige Erklärungen abzugeben.

"Über was denn?"

Norman sah auf die dampfende Kakaotasse hinab, die zwischen ihnen stand. Wie eine Barriere aus Kindheit und erwachsener Realität, die Norman nun im Begriff einzureißen war.

Er fühlte sich schlechter, als an dem Tag, an dem er zu Hause ausgezogen war und Henrik, der gerade erst angefangen hatte, die Welt außerhalb seiner eingeschränkten Kindheit zu entdecken, ihn beim Abschied so abgeklärt angesehen hatte, dass Norman gemeint hatte, Henrik wüsste, was der Auszug für seinen Bruder bedeutete. Er hatte es nicht gewusst. Dafür hatte Norman gesorgt.
 

"Mir ist was dazwischen gekommen", begann Norman bedächtig und hoffte auf das Verständnis seines jüngeren Bruders.

Henriks Mimik wechselte von fragend zu verstehend. Was dazwischen gekommen. Was konnte schon viel dazwischen kommen, wenn man wie Norman keinem Beruf nachging, der Wochenendarbeit bedeutete und andererseits auch kein Hobby besaß, für das man sich weiter als die Wohnung wegbewegen musste?

"Geht's um Denny?"

Norman atmete tief ein und aus.

Wem hatte er hier etwas vormachen wollen?

Henrik?

Henrik, der die Adresse seines Bruders innerhalb kurzer Zeit herausgefunden hatte, nachdem der sich umgemeldet hatte?

Henrik, der Normans Briefkasten so dermaßen überschwemmt hatte, dass Norman persönlich auf dem Postamt antanzen musste, um den Rest der Briefe und Päckchen abzuholen, die nicht mehr in den Briefkasten gepasst hatten?

Norman hatte nur einer einzigen Person versucht, etwas vorzumachen: sich selbst.
 

"Ja, es geht um Denny."

Henriks besorgter Blick wandelte sich in einen verständnisvollen. "Du kannst ruhig gehen, ich werde mich schon nicht langweilen."

"Ich glaube, du hast das falsch verstanden. Es geht um was Privates."

"Soll ich gehen und euch eine Weile alleine lassen?" Henrik klimperte unschuldig mit den Wimpern. "Kein Problem, sag mir nur, wie lange und schon bin ich weg."

Norman schwankte zwischen laut loslachen und den Kopf auf die Tischplatte zu hauen. Er sich nicht sicher, was angemessener wäre und ließ beides sein.

"Tut mir ja leid, Henrik, aber könnten wir das verschieben?"

"Was?" Henrik ließ die Hand, in der er sein halbaufgegessenes Brötchen hielt, sinken, als hätte das Brötchen plötzlich enorm an Gewicht gewonnen. "Was willst du verschieben? Unser langes Wochenende?"

Norman biss sich auf die Unterlippe und nickte.

"Oh." Mit einer unbeholfen wirkenden Geste wischte Henrik ein paar Krümel vom Tisch. "Klar."

"Klar?" Norman horchte auf. Kein Drama? Keine Vorwürfe? War Henrik etwa wirklich keine Fünf mehr?

"Ja, klar." Henrik lächelte seinen überrumpelt dreinguckenden Bruder an. "Wenn es um Denny geht, ist es in Ordnung."

Jetzt war Norman richtig verblüfft. "Wieso?"

"Ich brauche ihn noch", antwortete Henrik so beiläufig, als unterhielten sie sich über eine geplante Feier, bei der nur noch zu entscheiden war, welche Getränke man noch besorgen musste.

"Aha." Hinter Normans Stirn begann es zu arbeiten. Das Gespräch verlief nicht ganz so, wie ursprünglich geplant und er hatte keine Ahnung, wo er die Spur wieder wechseln konnte.

"Wann genau kommt dir denn was dazwischen?", unterbrach Henrik Normans Spurensuche.

Normans Blicke gingen zu der digitalen Uhr am Backofen hin. "Um halb zwei."

In zwei Stunden schon? Jetzt sah Henrik doch überrascht drein. Wenn er das gewusst hätte, hätte er nicht so lange geschlafen.

"Wir müssten aber jetzt schon losfahren, sonst komme ich zu spät."

Henriks Mund formte ein stummes Oh, das er sich instinktiv verkniff, als er sah, wie Norman bei der Bewegung kurz die Augenbrauen hob. Eine unbewusste Geste, aber da, noch ehe Norman sie wieder unter Kontrolle hatte.

"Gibst du mir Dennys Nummer?"

Schneller als Norman antworten konnte, hatte Henrik sein Handy gezückt. Die linke Hand tippbereit über dem Display schwebend sah er seinen Bruder abwartend an.

"Ich gebe ihm deine", schlug Norman Henrik vor, der seufzend sein Handy einsteckte und den Rest seines kaltgewordenen Kakaos trank.

"Na schön." Henrik stand auf und stellte nach einem tadelnden Blick seines Bruders artig sein Geschirr in die Spüle. "Fahren wir?!"



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