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Intrigo e amore

And it's with you that I want to stay forevermore
von
Koautor:  Coventina

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Ostern in Cambridge - Ars longa, vita brevis

Kieran

Auf dem Weg zur Bibliothek merkte er recht bald, dass er sich nach dem eben Vorgefallenen ohnehin nicht wirklich würde auf das konzentrieren können, was ihm die Bücher preisgaben. Ihn ärgerte sein eigenes Verhalten, aber auch die Reaktion des anderen. Er mochte sich vielleicht in der Absicht des anderen geirrt haben, aber irgendetwas in ihm schrie - die Alarmglocken schrillten. Und bisher war er auch immer gut darin gefahren, auf seine Intuition zu hören. Er wusste, dass er manchmal etwas zu misstrauisch, zu abweisend war, keine Frage, aber an diesem Sforza hatte ihn irgendwas gestört, was auch immer es war. Er hoffte nur, dass sie jetzt nicht ganz die Lizenz für ihre Auftritte verloren. Schließlich ging der Markt hier noch eine Weile, auch wenn es genügend andere Ostermärkte in der Umgebung gab, so war Cambridge doch noch immer der größte.

Er lenkte sein Pferd in Richtung Marktplatz, wo er hoffte, seinen Vater noch sehen zu können, um ihn vorzuwarnen, doch seine Leute waren schon weg und feierten wahrscheinlich an ihrem Lagerplatz mit anderen Schaustellern. Es war bereits recht spät geworden und die größeren Auftritte waren zeitlich begrenzt. Dennoch war der Marktplatz voll mit Menschen, die noch feierten. In den letzten Tagen der Stille in der Fastenzeit waren jegliche Veranstaltungen verboten gewesen und auch die Sperrstunde war deutlich früher gewesen. Und nun freuten sich die Leute, dass das angesichts des Osterfestes, dem Ende der Fastenzeit, aufgehoben war.

Und so waren die Schankhäuer und Tavernen voll mit Menschen, die es endlich wieder öffentlich genossen, trinken zu können. Und es waren einige Kleinkünstler noch da, so auch ein Zeichner, ein Künstler, der mitten am Brunnen saß, wo es am hellsten war, weil Fackeln dem Künstler ausreichend Licht spendeten. Kieran glaubte, das Gesicht des Malers schon ein paar Mal gesehen zu haben. Jener war, wenn Kieran sich recht entsann, viel unterwegs und daher auch öfters ähnlich wie sie selbst auf Festen, aber vielleicht täuschte er sich auch. Kieran schwang das rechte Bein über den Hals seines Pferdes und ließ sich vom Rücken seiner Stute gleiten. Dann band er sie an. Sacht strich er ihr über den Hals, während er den Maler beobachtete, wie dieser völlig konzentriert ein junges Paar zeichnete, das offensichtlich die erste wilde Zeit der Verliebtheit noch nicht überwunden hatte und dem es sichtlich schwerfiel, die Hände voneinander zu lassen. Eigentlich war ihm der Maler nur deshalb aufgefallen, weil er so gar nicht hierher zu passen schien. Nun... schon... aber er wirkte so versunken in seine Arbeit, dass es schien, als sei er nur physisch anwesend. Kieran musste lächeln. Er mochte es, wenn Menschen ihrer Arbeit aus Leidenschaft nachgingen.

Neugierig geworden, ob dieser Künstler wirklich so gut war, wie er wirkte, trat er an die Szene heran und gesellte sich zu einigen anderen Schaulustigen, die dem Künstler zusahen, vielleicht selbst auch gezeichnet werden wollten. Kieran musterte das Gesicht des Mannes. Er war wohl etwas älter als er selbst, auch wenn man andersherum wahrscheinlich sagen würde, dass der Künstler deutlich älter als er selbst wirkte. Aber das lag an Kieran, nicht an jenem Mann. Die Augen schienen von einem hellen Blau, vielleicht auch Grün zu sein und in ihnen lag ein Ausdruck absoluter Ruhe. Bewundernswert, wie Kieran fand, dem es schwer viel, wirklich immer so gelassen zu sein, wie er auf andere wirkte.

Kierans Blick fiel auf die Zeichnungen, die am Brunnengitter aufgehängt worden waren, um dem Publikum etwas vom Können des Künstlers zu zeigen. Er schlängelte sich durch die Menschen, um näher heranzutreten und die Bilder zu betrachten. Zunächst wirkten sie auf ihn wie viele Bilder der heutigen Zeit, in der die Dinge schön und hübsch dargestellt wurden, doch in einem Bild merkte er einen Unterschied zur herkömmlichen Darstellung der Gegenwart. Mitten in der Idylle der Landschaft sah man den Kadaver eines Tieres, wohl eines Hundes liegen. Kieran musste schmunzeln. Viele würden das sicher als missglückt betrachten. Er würde sagen, dass es das schönste Bild war, denn es zeigte, wie die Welt wirklich war. Und was gab es schöneres als die Welt in seiner Natürlichkeit.
 

Jonathan

Die Festtage, besonders aber auch das Osterfest, waren etwas ganz Besonderes für Jonathan. Nicht etwa, weil er besonders gottesfürchtig gewesen wäre oder das Gesöff und die Spielereien an sich mochte. Nein. An solchen Tagen waren die Plätze überfüllt mit Menschen. Menschen in Kostümen, Menschen in allen erdenklichen Zuständen und Menschen, die gerne für die eine oder andere Zeichnung ein paar Münzen springen ließen.

Und so hatte er auch diesmal die Chance genutzt, seinem Repertoire ein paar weitere wundervolle und neue Motive hinzuzufügen und sich in die Mitte des Marktplatzes, an den Brunnen gesetzt. Es hatte nicht lange gedauert, bis er einige seiner Bilder als Schaustücke an das Gitter gepinnt hatte und Menschenskizzen in sein Skizzenbuch übertrug. Er war nicht der Typ, der lauthals herumschrie und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Früher oder später kamen die Menschen von ganz alleine. Allein die Bilder am Brunnen würden sie anziehen. Es waren zwar auch einfache Skizzen und Zeichnungen dabei, doch die meisten waren in Farbe. Die meisten zeigten Landschaften und edle, sowie einfache Damen und Herren. Sie sahen realistisch, doch der Zeit angepasst und idealisiert aus. Dennoch hatte er zwei oder drei Bilder dazwischen, die die Menschen auch so zeigten, wie sie waren. Eine große, beleibte Dame mit beflecktem Kleid, schnapsroter Nase und einem großen, gefüllten Glas in der Hand. Ihr Gesicht war aufgedunsen und vom Alkohol zu einem schiefen Grinsen verzerrt. Dann ein alter Mann. Ein Kriegskrüppel, der sich mit fehlenden Beinen auf zwei hölzerne Krücken stützte und erschöpft an einem Stein lehnte. Seine Kleidung war zerrissen, sein Körper ausgemergelt und die vorbeigehenden Menschen würdigten ihn nicht eines Blickes. Ein weiteres zeigte eine wunderschöne Waldlichtung. Doch in ihrer Mitte lag der Kadaver eines Tieres. Es war ein Hirsch. Nah daneben ein Vogel und etwas weiter ein Hase. Doch sah man ganz genau hin, konnte man am Rand, in der Dunkelheit des angrenzenden Waldes, einen Mann, eine Frau und ein Kind sehen. Abgemagert und mit eingefallenen Gesichtern, die die Wurzeln aus dem trockenen Boden scharrten. Denn ihnen stand dieses Fleisch nicht zu. Ob es nun gebraucht wurde oder nicht. Alle diese Gestalten blickten den Betrachter direkt an und klagten ihn wortlos und doch allzu deutlich an. Dies waren die Bilder, die Jonathan berührten, die er nur allzu gerne den ganzen Tag schaffen würde. Sie waren provokant, ungewohnt und hin und wieder auch schon gefährlich gewesen. Zwar war er nur mit Mühe und Not immer wieder davongekommen, aber er wusste, dass er eher zu atmen aufhören würde, als diese Motive zu malen. Doch damit konnte man schlichtweg kein Geld verdienen. Niemand wollte so etwas sehen und so standen die feinen, wohl geformten Damen im Vordergrund und die Herren, mit ihren imposanten Haltungen, neben Bildnissen von Götterszenen und der Venus, die ihre wehenden Haare vor ihre unbehaarte Scham zog.

Und tatsächlich. Gegen Abend, als Jonathan genug Skizzen gemacht hatte, um ein Dutzend neuer Werke zu schaffen, kamen die ersten zu ihm und nahmen Haltung an, um sich verewigen zu lassen. Für das einfache Volk hatte Jonathan besondere Preise, um auch ihnen diese Gunst und Freude zu ermöglichen, doch so war er leider zwangsläufig nur umso mehr auf die Aristokratie angewiesen. Stunden hatte er schon damit verbracht, erheiterte Menschen zu malen, als es langsam dunkel wurde. Doch Jonathan hatte sich ganz bewusst diesen Platz ausgesucht, wo es für ihn die besten Lichtverhältnisse gab.

Gerade saß ein junges Paar vor ihm, welches scheinbar noch auf Wolke 7 flog und Jonathan erfreute sich daran, ihre verliebten, unschuldigen Gesichter zu zeichnen. Sie lebten, wie in einer eigenen Welt und berührten sich ständig, doch Jonathan war ein geübter Zeichner und störte sich nicht sehr an den kleinen Bewegungen. Die Menge hinter ihm war mit der Zeit auch größer geworden und der Alkohol und das Feiern machte sie unbeherrscht und laut. Vielleicht war es besser, bald aufzubrechen, bevor irgendjemand randalierte und noch eines seiner Werke beschädigte. Die Dunkelheit schien die Menschen nur noch ungestümer zu machen. Geschickt zog er die letzte Linie und reichte dem Pärchen die Zeichnung, welches daraufhin kichernd davonging. Etwas zögerlich wandte Jonathan sich zu den Menschen um und überlegte, ob er es riskieren sollte, noch jemanden zu zeichnen oder ob er lieber packen sollte, als sein Blick auf einen jungen Mann in der Menge fiel. Jonathan erkannte ihn. Er war einer der Darsteller gewesen. Einer der Feuerkünstler. Jonathan hatte einige Skizzen von ihm angefertigt. Den starken Kontrast von Licht und Schatten auf seinem muskulösen Körper festgehalten. Und nun betrachtete er seine Bilder. Jonathan taxierte seinen Gesichtsausdruck. Er konnte keine Abneigung, keinen Unwillen in seinem Gesicht erkennen. Der Künstler erhob sich und deutete auf den Jungen. „Du da! Feuertänzer!“ sagte er laut und die Menge blickte verwundert um sich und teilte sich schließlich, als sie erkannten, wen er wohl meinte. Langsam trat Jonathan näher. Betrachtete den jungen Mann. Er wirkte jünger als er selbst, aber das spielte keine Rolle. Er trug nun nicht mehr seinen Lederschutz, wie zuvor bei der Show. Ungeniert, doch ohne jeglichen, sexuellen Hintergedanken, streckte er die Hände aus und fuhr über die Seiten des Mannes. Fühlte seine Muskeln an Bauch und Brust, unter dem Stoff. Ließ seine Hände über dessen Schultern, die Arme hinab gleiten. Er wirkte konzentriert, fasziniert. Als würde er fühlen wollen, aus welchem Material der Junge gemacht worden sei. „Ich habe dich gesehen.“ Sagte Jonathan leise und ließ die Arme sinken, während er in seinem Skizzenbuch blätterte. „Du hast eine wunderschöne Koordination. Würdest du mir einen Gefallen tun?“ nun endlich blickte er auf und hielt dem Fremden seine Skizzen von dem jungen Mann unter die Nase. „Würdest du mir erlauben, meine Skizzen zu vervollständigen? Von hier hat man einen miserablen Blick auf die Bühne und ich konnte nicht sehen, was ich sehen wollte.“ Erklärte er etwas verspätet und begann nun, die Gesichtszüge seines Gegenübers zu mustern, als würde er die Verästelungen eines Blattes zu ergründen suchen. „Du darfst dir eins meiner Bilder aussuchen oder ich bezahle dich in angemessenem Wert dafür.“ Fügte er noch hinzu und kam gar nicht auf die Idee, dass ein Mann in einem Zelt vielleicht nicht sonderlich viel mit Kunst anfangen konnte. Doch für ihn war es schier unvorstellbar, jemand könnte nicht den Zauber der Erschaffung einer eigenen Welt spüren.
 

Kieran

Kierans Augen verengten sich kurz, als er bemerkte, dass im Hintergrund, dort, wo es von der Lichtung in den Wald ging und das Licht weniger wurde, wo man sich auch am Tage gut verstecken konnte, dass dort noch Menschen hingezeichnet waren, arme Menschen, hungrige Menschen, Menschen, denen das Fleisch des Tieres - mittlerweile glaubte Kieran einen Hirsch erkennen zu können - wie ein Schatz vorkommen musste. Ein Schatz, der aber rotz der Nähe unerreichbar war. Fast meinte Kieran in dieser Szenerie zu stehen, die Jagdhörner des Grafen zu hören, dessen Meute dem verendenden Tier hinterher gehetzt war und bald das Sterbebett des Tieres erreichen würde. Und während diese armen Leute abends Steine kochten, um die Kinder zu beruhigen, dass es noch etwas zu essen geben würde, damit die Kinder über das Warten einschliefen, würden diese reichen Schnösel, die aus Spaß an der Freude töteten, wahrscheinlich so viel aufgetischt bekommen, dass sie genug hatten, um ihren Hunden auch noch etwas hinzuwerfen... Kieran schauderte innerlich und dachte an das versprochene Essen des jungen Sforza, der vielleicht wirklich keine böse Absicht gehabt hatte, als er ihn einlud. Aber wenn er dieses Bild sah, so wusste er für sich, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Und dann erstarrte er wie vom Blitz getroffen, als jemand mit recht herrischem Unterton offenbar ihm etwas zurief. Erschrocken fuhr er herum. Wer hatte ihn da "Feuertänzer" genannt? Waren die Arme dieses Domenico Sforza wirklich so lange, dass er noch heute festgenommen werden würde, damit sie die Stadt verließen, ihr Lager abrissen? Kieran spürte erst jetzt, dass die Angst, wirklich ernsthafte Probleme wegen seines vielleicht etwas unhöflichen Verhaltens, doch größer war, als sie sich zunächst angefühlt hatte. Er wusste, wozu diese Menschen in der Lage waren. Und er wusste, wohin gekränkte Eitelkeit führen konnte, egal welchen Standes man war. Unruhig glitten seine Augen durch die Menge, die sich teilte und ihm schließlich den Blick auf denjenigen freilegte, der ihn angesprochen hatte.

Fast hätte er erleichtert aufgelacht, doch auf seine Lippen legte sich nur kurz ein Lächeln, als er sah, dass es jener Künstler mit diesen wasserblauen, ruhigen Augen, die ihn so sehr an sein Bad an diesem Morgen erinnerten, persönlich war, der ihn angesprochen hatte. Der Pulsschlag seines Herzens war noch immer deutlich erhöht, doch jetzt hob und senkte sich seine Brust zu einem Seufzen, das ihn sich wieder entspannen ließ.

Mittlerweile war der deutlich Größere an ihn herangetreten und sah ihn... hm... ja... irgendwie musternd an, so als habe er vor sich ein Stück Vieh, nein eher ein Pferd, an dem er Interesse hatte. Kieran erwiderte den Blick ruhig, aufmerksam und ein wenig irritiert. Was wollte er von ihm? Woher wusste er, was er tat? Hatte er ihn gesehen? Wahrscheinlich vorhin bei der Show. Aber dass er ihn wiedererkannt hatte? Noch bevor Kieran sich wirklich einen Reim auf die Geschehnisse machen konnte, spürte er mit einem Mal die forschenden Hände des anderen auf seinem Oberkörper, prüfende Finger, die sich daranmachten, die Konturen seines trainierten Oberkörpers nachzufahren, musternd, das spürte Kieran, nicht aufreizend, wie es vielleicht für den ein oder anderen aussehen mochte, der danebenstand und kicherte. Der Blick des Künstlers sagte ihm, dass er es nicht anzüglich meinte. Und wenn man ehrlich war: Wer würde es wagen in aller Öffentlichkeit seine homosexuelle Neigung so aufreizend zu zeigen? Kieran dachte eigentlich keine Sekunde daran, dass jener Mann ihn deswegen anfasste. Es lag vielmehr eine Faszination in dem Blick des Mannes. Nur, wovon war der Mann fasziniert? Von ihm? Seinem Körper? Kieran konnte das kaum glauben.

Kieran warf einer jungen Frau, die eine eindeutig zweideutige Bemerkung ihrer Begleitung zuflüsterte", einen mahnenden Blick zu und entzog sich dann wieder den Fingern des anderen, indem er einen Schritt zurücktrat, nicht widerwillig oder feindselig, sondern einfach, weil er es eigentlich gar nicht leiden konnte, wenn ihn jemand antatschte. Und um beim Vergleich mit dem Stück Vieh zu bleiben... Ein Pferd wurde am Markt auch so angefasst, geprüft, ob die Muskulatur des Rückens passte, die Kruppe breit genug für eine Kutsche war, die Fesseln schlank, der Hals in sanfter Rundung... Aber er war nicht zu kaufen...

Als der Künstler sagte, er habe ihn gesehen, wurde ihm klar, dass es jenem um die Show gehen musste. Waren seine Familie und er Inspiration gewesen? Kieran fand den Gedanken gut und blickte auf die Hände des Zeichners, der sich nicht daran gestört hatte, dass er sich seinen Händen entzogen hatte, sondern nun in einem Buch blätterte, das von Zeichnungen aller Art nur so strotzte. Kieran war noch immer ein wenig verwirrt, was jener Mann von ihm wollte und wartete geduldig, bis jener aufblickte und ihm erklärte, dass er eine tolle Koordination habe und er ihn um einen Gefallen bat. Überrascht sah er in die Augen des anderen, bis sein Blick von der Skizze abgelenkt wurde, die ihm unter die Nase gehalten wurde. Und war er vorhin überrascht, so war er es jetzt umso mehr. Wie konnte jemand mit so wenigen Strichen, so feinen Linien, mit so feinen, schier hingehauchten Linien jemanden in so kurzer Zeit so perfekt einfangen? Es war schon fast gruselig, wie so etwas möglich war. Kieran betrachtete das Bild von sich, das sichtbar noch nicht fertig zu sein schien, und doch so vollkommen schien. So hatte er sich selbst noch nie gesehen. Wie auch? Er konnte ja schlecht während der Show aus seiner Haut und sich selbst beobachten...

Kieran legte einen Moment den Kopf schief und bekam gar nicht recht mit, was der Künstler nun weitersprach. "Ich glaube, du hast meine Schultern breiter gezeichnet, als sie wirklich sind", sagte er schließlich und überlegte, ob es überhaupt angebracht war, Kritik zu üben. Erst jetzt blickte er den anderen wieder an und ein vielleicht etwas verlegenes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er den musternden Blick des anderen sah. Es war gar nicht so einfach, jemanden anzusehen, der ihn SO begutachtete... Mittlerweile war auch das, was sein Gegenüber zu ihm gesagt hatte, bei ihm angekommen. "Ich weiß nicht, ob die die Bewegung wieder so hinbekomme..." Er deutete auf die Skizze. "Was müsste ich tun? Und wo? Hier?" Ihn faszinierte es, in einem Moment gefangen genommen worden zu sein, wo er ganz in seinem Element gewesen war. Und ihn faszinierte es, dass es dem anderen gelungen war, das einzufangen. Warum also nicht diesem Künstler helfen, das zu vollenden? Und warum wollte er ihn dafür bezahlen? Wenn man "verewigt" wurde, obwohl man doch nicht einmal jemand von Stand war, war doch eigentlich Preis genug. „Ars longa, vita brevis“, wie man zu sagen pflegte – zumindest, wenn man Latein konnte, oder zumindest in der Sonntagsschule ein wenig aufgepasst hatte. "Und ich mache das auch umsonst", fügte er daher zwinkernd hinzu. Auch wenn die Bilder des Künstlers, die er sich nur zu gerne noch genauer angesehen hätte, wirklich toll waren.
 

Jonathan

Interessant zu sehen, wie der junge Mann zurückwich. Scheinbar war er es nicht gewohnt, so berührt zu werden. Die Unschuld war sein liebstes Motiv. Verderbtheit, Lust, Gier und Sucht konnte man an jeder Straßenecke einfangen, doch dieser junge Mann hier schien noch vollends unberührt. Er war frei von schlechten Gedanken und doch nicht naiv, stumpf oder dumm. "Ja..." murmelte er leise und konnte sich gar nicht sattsehen an dem fremden Körper. Seine Hände konnten es kaum erwarten, ihn in rechtes Licht zu rücken, ihn ohne diese lästige Kleidung zu sehen, die das Spiel der Muskeln verschleierte und die Formen des menschlichen Körpers deformierten.

Auch Jonathan hatte das ein oder andere Tuscheln vernommen. Seine Bewunderer kannten seine Art, an die Dinge heranzugehen, mit den Händen zu sehen. Doch für Neue war es immer wieder ungewohnt. Den Künstler interessierte das allerdings wenig. Würde die Stadtwache die Sammlung seiner ganz privaten Bilder finden, hätte er durchaus größere Probleme am Hals, als nur ein wenig Belästigung. Bei dem Kommentar des jungen Mannes, huschten seine Augen zu denen des anderen. "Es ist schwer, die Ausdehnung der Muskeln zu erfassen, wenn das Motiv in dauerhafter Bewegung ist, aber einen guten Beobachter weiß ich immer zu schätzen." sagte er sanft und streckte seine Hand so plötzlich aus, dass der andere nicht zurückweichen konnte. Wie ein Blinder fuhr er mit den Fingern über das fremde Gesicht. Über die gerade Nase, die dunklen Brauen, die weichen Lippen. Schließlich wandte er sich abrupt um und begann, seine Sachen einzusammeln. In großen Menschenmengen durfte man seine Sachen nie zu lange unbeobachtet lassen. Vor allem nicht, wenn jemand auf die Idee kommen könnte, damit Geld zu verdienen.

Die Worte des Mannes waren wie Musik in seinen Ohren. Es war selten, dass sich jemand so unbedarft fügte und nicht einmal Geld dafür verlangte. "Diese Unschuld..." sagte er leise und seine Locken hüpften leicht, als er kaum merklich den Kopf schüttelte. Manchmal hatte er das Gefühl, der einzige wirkliche Kunstliebhaber dieser lasterhaften Stadt zu sein.

Endlich hatte er seine Tasche gepackt und zog den Jungen etwas aus der gaffenden Menge, die sich allerdings allmählich wieder auflöste. "Ich bin Jonathan William Hodgson, falls das für dich eine Rolle spielt. Vielleicht solltest du mir auch deinen Namen nennen, sonst bleibe ich auch gerne bei 'Feuertänzer'." sagte er mit dem Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen und musste sich beim Anblick seiner Errungenschaft, seine Hände bei sich zu behalten. "Wenn du dich so bereitwillig zur Verfügung stellst, würde ich dich bitten, mir zu folgen. Ich habe ein Atelier in der Nähe. Dort ist das Licht besser. Außer natürlich, du würdest mir deine Künste noch einmal vorführen wollen, doch ich wüsste nicht wo, bei dem Gedränge hier und ich würde es ungern des Nachts allein auf freiem Feld machen. Man weiß nie, wer zu dieser Uhrzeit dort unterwegs ist. Ich fürchte, ich bin kein allzu tauglicher Beschützer." bekannte er und fuhr sich durch die dunklen Haare. Die irdischen Bedingungen machten es ihm wirklich manchmal schwer, seine Leidenschaft zu stillen.
 

Kieran

Kieran war erleichtert, dass seine Kritik, die er ohne recht zu überlegen angebracht hatte, nicht für Unmut bei dem Künstler sorgte. Er lächelte erfreut, über das indirekte Kompliment, ein guter Beobachter zu sein, als er schon wieder die Hände des anderen an seinem Körper spürte, diesmal mitten im Gesicht, das jener ertastete, wie es alte Mütterlein taten, die mit ihren Augen kein Tageslicht mehr einfangen konnten. Kieran erstarrte und spürte nun in sich einen gewissen Unmut aufsteigen, doch er hielt still, während sanfte Finger über seine Gesichtszüge, seine Brauen, seinen Mund strichen. Die Finger des anderen zeugten davon, dass jener noch nie „harter“ Arbeit nachgegangen war, zumindest waren die Hände feiner, länger, unversehrter als die eines Handwerkers oder Bauern. Die erste Überraschung überwunden habend spürte Kieran, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, wie bei einer Katze, die den Buckel streckte und zu fauchen begann. In seinen Augen sah man ein gewisses widerwilliges Funkeln aufsteigenden Zorns. Doch noch ehe er sich gegen die erneute „Anfasserei“ zur Wehr setzen konnte, war sie auch schon wieder beendet und sein Gegenüber hatte sich von ihm abgewandt. Kieran drehte den Kopf, so dass die Nackenwirbel knacksten, um seinen Unmut zu vertreiben. Offenbar war das so ein Künstler-Tick… Offenbar musste dieser Mensch die Dinge nicht nur ansehen, sondern auch antatschen…

Kieran beobachtete ihn, wie jener seine Sachen zusammenpackte und wusste gerade nicht, ob er da nicht doch ein wenig voreilig gewesen war, was das kostenlose Modeln betraf. Nicht, wegen des Geldes, das war ihm egal, eher, weil er jetzt Bedenken hatte, ob der Typ ihn nicht noch mehr antatschen wollen würde. Doch jetzt gab es erst einmal kein Zurück. Er ließ sich von dem Zeichner mitziehen und war froh, wenigstens der kichernden Menge entkommen zu sein, als jener sich vorstellte. „Jonathan“, wiederholte er den Namen des anderen leise, fasziniert von der Melodie, die dem Namen beiwohnte. „Mein eigentlicher Name ist Kieran“, stellte er sich nun vor. „Aber Feuertänzer finde ich auch nicht schlecht.“ Er grinste leicht. Sein Element war nun einmal das Feuer, da war Feuertänzer eigentlich ein Kompliment.

Er sollte ihm in ein Atelier folgen? Kieran sah den anderen kurz ein wenig skeptisch an. „Nein, ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, wenn ich hier nochmal etwas aufführen würde“, sagte er, nicht, wegen der Gründe, die Jonathan überlegt hatte, sondern weil er nicht wusste, ob er heute noch einmal auffallen sollte. Wer weiß, was die Stadtwache schon in die Wege geleitet hatte.

„Und nur, wenn du deine Finger bei dir lassen kannst…“, fügte er prompt hinzu, den ersten Gedanken aussprechend, den er bei dem Vorschlag ins Atelier zu gehen gehabt hatte. „Ich kann es nicht leiden, angetatscht zu werden“, fügte er erklärend hinzu und merkte, dass der Unmut doch noch nicht ganz weg war. „Und ich muss schnell noch mein Pferd holen“, sagte er und leistete seinen Worten gleich Folge, davon ausgehend, dass der Maler kurz warten würde. Als er wieder zu ihm aufschloss setzte sich auch der Künstler in Bewegung, um ihm den Weg zu zeigen. „Ich habe auch nicht allzu viel Zeit. Wenn die die Sperrstunde beginnt, und alle nach Hause geschickt werden, werden auch die Stadttore geschlossen und unseresgleichen ist es nicht gestattet in der Nacht in der Stadt zu verweilen.“ Es war sogar recht gefährlich, wenn man in der Stadt erwischt wurde, denn hohe Geldstrafen waren vergleichsweise noch harmlos. Sie würden dennoch zwei Stunden haben, bevor es soweit war und Kieran war sich sicher, dass das vollkommend ausreichend war. So lange konnte es doch nicht dauern, ein paar Striche zu Papier zu bringen…
 

Jonathan

So, so Kieran hieß der junge Mann also. Jonathan war sich nicht sicher, ob er fand, dass dies der passende Name für einen Künstler war, doch er hätte sich sicherlich auch nicht Jonathan genannt, wenn er die Wahl gehabt hätte. Einem Künstler einen so weltlichen Namen zu geben, war, als würde man versuchen, zu beschreiben, wie eine Tomate schmeckte. Einen Künstlernamen fand er allerdings albern und sich etwas dergleichen selbst zu geben, schien für ihn höchstens anmaßend, nicht angemessen.

Und nun protestierte der junge Mann, Kieran, auch noch gegen seine Berührungen. Nun gut. Seine Brauen hatten sich etwas verdrießlich zusammengezogen, doch man konnte nicht von jedem Menschen Verständnis erwarten und ohnehin hatte dieser ja schon zugesagt, sich von ihm zeichnen zu lassen. Seine Augen würden genügen. Ohne diesen lästigen Stoff am Leib, würde er endlich die Muskeln sehen. Jede Pore der sonnengebräunten Haut. Jede noch so kleine Narbe, von denen jede eine kleine oder weniger kleine Geschichte erzählte. "Nun gut, dann lass uns keine weitere Zeit verschwenden. Und falls du doch die Zeit vergessen solltest, habe ich eine weitere Strohmatratze, die ich dir zur Not bieten kann. Immerhin stehst du schon kostenfrei", entgegnete er leicht abwesend wirkend, während er nicht Kieran ansah, sondern in weite Ferne zu blicken schien. Und endlich hatte der Junge auch sein Pferd geholt und folgte ihm durch das Gedränge.

Jonathan wohnte in einer winzigen, schäbigen Wohnung im oberen Stockwerk eines alt aussehenden Hauses. Als Künstler hatte er nicht den Erfolg gepachtet und abgesehen davon, war er nicht an reich ausgestatteten Häusern interessiert. Er brauchte etwas, dass ihn inspirierte und in dieser Straße befand sich keine Taverne, kein Gasthaus, welches Lärm verursachen könnte, doch man hörte schwach die Geräusche des Marktplatzes, wenn man die Fenster öffnete und die Musik, die die Musikanten zum Besten gaben. "Bindet euer Tier hier an. Ihr könnt es von oben sehen. Mehr kann ich euch leider nicht für es anbieten." sagte er leise, als sie die Haustüre erreicht hatten. Die Tür knarrte, als wolle sie den Hausherrn willkommen heißen und Jonathan trat in den dunklen Flur. Der Boden knarzte ebenfalls zum Gruße bei jedem Schritt und der Künstler nahm eine Öllampe von einem Regal an der Wand und entzündete sie. "Folgt mir. Oben wird es heller", kündigte er an und ging die Treppe empor. Das Licht hüpfte an der kahlen Wand entlang, bis sie einen kleinen, schäbigen Raum erreichten. Ein Kamin mit einem Kessel befand sich an der einen Wand, während in der Mitte ein kleiner runder Holztisch mit nur drei Beinen stand, um den zwei wacklige Stühle standen. Der Raum wirkte regelrecht kahl und abgesehen von einer kleinen, löchrigen Kommode und einer langen Strohmatratze, befand sich auch nicht viel mehr darin. Sah man allerdings genauer hin, konnte man in dem Dämmerlicht Rußspuren an den Wänden erkennen. "Stolpert nicht. Manchmal lasse ich die Dinge einfach liegen", sagte Jonathan leise, als wolle er das Haus nicht wecken und ging quer durch den Raum. Das Licht erhellte tänzelnd die Wände und nun konnte man Formen, ja Figuren an den Wänden ausmachen. Mit Ruß und Schmutz waren Wälder, Tiere, Menschen und Schlösser an die Wand gemalt worden. Wolken stoben über einen bröckeligen Himmel, während am Rand der Fußleiste sich ein Meer erstreckte, aus dem die wunderlichsten Gestalten und Tiere auftauchten. Das Meer wurde von Inseln eingeschlossen, welche an Bäume grenzten, so groß, dass ihre Kronen bis in die Wolken reichten und eine Schaar Vögel im detaillierten Astwerk zu erkennen war. Doch im nächsten Moment hatte Jonathan schon den Raum durchquert und die Bilder wurden wieder zu dunklen Umrissen an einer verdreckten Wand.

Endlich öffnete er die Tür am Ende des Raums. Diesmal mit einem kleinen Schlüssel, den er aus seiner ledernen Tasche gezogen hatte. Leise und geölt schwang die Tür in den Angeln und mit einem Mal flutete rötliches Licht den Raum und gab ein weiteres Zimmer preis. "Bitte hier herein und willkommen in meinem kleinen Reich", fügte er stirnrunzelnd hinzu, als er den angrenzenden Raum rasch durchquerte und hinab auf die Straße blickte.

Die Fackeln auf den Straßen erhellten den Raum in diesem flackernden Licht. Jonathan öffnete die Fenster weit, sodass kühle Nachtluft hineinstrich. Dann ging er entlang der Wände des Raumes und entzündete ein Licht nach dem anderen. Sie befanden sich in gläsernen Kästen, doch in der hinteren Mitte, stand ein großer Kerzenleuchter neben einer ebenso großen Staffelei aus dunklem Holz. Dieser Raum war ungefähr drei Mal so groß wie der vorige. Der Boden war mit Teppichen ausgelegt, die bunte Muster zierten. An den Wänden hingen Vorhänge in zahlreichen Farben und Mustern. In der Ecke zwischen Tür und Wand, gegenüber der Staffelei befand sich ein Paravent, auf den verzweigte Äste einer Baumkrone gezeichnet worden waren, die in allen vier Jahreszeiten, ineinander übergehend, schillerten. In der anderen Ecke stand ein Divan, der mit etlichen Kissen übersäht war und über dessen Liege eine flauschige Decke mit Silber und Gold bestickt lag. Doch diese Seite des Raumes, wirkte im Vergleich zu der gegenüberliegenden Seite geradezu leer, denn dort, hinter der Staffelei, standen drei massive Tische, die geradezu überladen waren. Nicht nur auf den Tischen, sondern auch darunter, dazwischen und wo auch immer sich Platz fand, waren Farben, Stifte, Pinsel, Papierbögen und unterschiedlichen Farben und Größen, sowie eine weitere kleine Staffelei, Holzplatten mit Spatwerkzeug, Steinblöcke - teils schon behauen, Teil völlig roh - und vieles mehr. Die Wände waren bedeckt mit Studien menschlicher Körper, - die meisten nackt - Gesichter, Stoffe, Materialien, in Farbe, Bleistift, Öl, Kreide, Kohle. Es war eine wahre Flut von Dingen, doch Jonathans Blick wurde weich, als er seine Schätze sah. Doch seine wirklichen Schätze befanden sich in den drei großen, schweren Truhen, die unter dem Fenster standen und mit Decken und Kissen bedeckt waren, als wären es Sitzflächen. Vielleicht, um diese wirklich zu schaffen, vielleicht aber auch, um ihren wahren Wert zu verschleiern. Jonathan zog die Vorhänge vor das Fenster und stellte seine Tasche auf einige Zentimeter freie Tischplatte. "Du kannst dich schon mal ausziehen." sagte er und neigte nur kurz den Blick, als er mit den Daumen auf den Paravent zeigte. Für ihn war es völlig klar gewesen, dass der Feuertänzer sich entkleidete. Wozu hätte er auch sonst zahlen wollen? Angezogen bekam er ihn auch auf dem Marktplatz zu sehen.

Ohne sich also weiter Gedanken zu machen, begann er leise, eine leicht melancholische Melodie zu singen, während er eine Leinwand auf die Staffelei spannte und sich sein Werkzeug und seine Farben zusammensuchte.
 

Kieran

Sie mussten gar nicht lange gehen, als Jonathan schon auf die Türe eines alten Hauses zusteuerte, da so aussah, als hätte der Eigentümer weder Zeit noch Kraft, es in Stand zu halten. Kieran blickte nach oben und einen Moment schien es, als reflektierten oben in Glasfenstern das Licht der Fackeln, aber vermutlich irrte er sich. Kieran band seine Stute an, lockerte den Sattelgurt und öffnete die Satteltasche, in der er stets etwas Hafer für sie aufbewahrte, und band ihr nun den Futterbeutel um, damit sie es in Ruhe fressen konnte. Sein Pferd versorgt wissend, betrat er nun hinter dem Künstler das dunkle und knarzende Haus, das im ersten Eindruck wenig einladend, eher ziemlich abweisend wirkte. Er nickte, auf die Worte des anderen hin, dass es oben heller werden würde und ging ihm hinterher die steile, und unerwartet lange Treppe hinauf. Irgendwie war ihm mulmig, irgendwie wusste er gar nicht so recht, worauf er sich hier eingelassen hatte. Aber er würde jederzeit hier rauskommen, sollte dieser Kerl auf dumme Ideen kommen. Jonathan war zwar deutlich größer als er, aber bestimmt nicht so wendig und schon gar nicht so trainiert wie er. Der Gedanke beruhigte ihn zumindest. Oben angekommen blickte sich Kieran mit unverhohlener Neugierde um. Hm, wenn er das hier so sah, musste er sagen, dass er komfortabler wohnte. Das Zimmer wirkte wirklich ärmlich und passte irgendwie zu dem Rest des Hauses. Verdiente der andere als Künstler so wenig? Oder war dem Mann materieller Reichtum einfach nicht so wichtig… Aber Kieran merkte, dass der Raum, trotz seiner Kargheit eine gewisse Wohlfühlatmosphäre ausstrahlte, die er im ersten Augenblick nicht erwartet hatte. Seine Augen wanderten durch den Raum und erst nach einigen Augenblicken nahm er wahr, was diese Atmosphäre schuf, es waren Zeichnungen, die fast märchenhaft die Wände zierten. Der Raum wirkte Dunkel, weil alle Wände vollgezeichnet waren, mit Figuren, Landschaften und Gegenständen, die wirklich an Märchen erinnerten. Doch viel Zeit zum Staunen blieb Kieran nicht, denn nun nestelte der Maler an einer Tür, die er selbst zuvor noch gar nicht gesehen hatte.

Kieran trat hinter den andren, als die Tür aufschwang und er mit einer einladenden Geste in das „Reich“ des anderen gebeten wurde. Er folgte der Einladung und betrat den Raum, den nun den Namen „Atelier“ tatsächlich verdient hatte. Hatte er sich gerade noch gefragt, was an dem Wohnraum heller sein sollte, als der Flur unten, wurde ihm nun bewusst, dass dieser Raum, besonders bei Tageslicht, wirklich hell war. Also hatten ihn seine Augen nicht getäuscht, als er die Reflexion an Fensterscheiben von unten gesehen hatte. Kieran pfiff anerkennend durch die Zähne, als er sich umsah und besonders die chaotischen Tische mit einem Schmunzeln auf den Lippen betrachtete. Das nannte man dann wohl „kreatives Chaos“. Insgesamt wirkte der Raum wohnlich, und trotz der vielen, größtenteils verschiedenen Muster, war er auch in sich sehr stimmig und geschmackvoll eingerichtet.

Die vielen Zeichnungen an den Wänden machten Kieran neugierig. Er betrachtete sie und stellte fest, dass der Künstler ganz offensichtlich großes Interesse an der menschlichen Anatomie hatte. Der Gute sollte mal die Lehrbücher der medizinischen Bibliothek aufpeppen. Damit ließe sich sicher eine Menge Geld verdienen, denn teilweise erinnerten die Zeichnungen darinnen eher den Kritzeleien von Kindern… Einige Zeichnungen zeigten auch Menschen in eben diesem Raum, meist nackte Menschen, die auf dem Divan lagen, auf einem Stuhl saßen oder in anderen Posen dem Künstler Model gestanden hatten. Kieran runzelte in böser Vorahnung die Stirn.

Er war noch gar nicht richtig in den Raum eingetreten, als Jonathan mit seiner „Fenster auf und Licht an“-Aktion fertig war und mit verklärtem Blick an seinen „Arbeitsplatz“ trat. Dieser Blick war Kieran vorhin schon aufgefallen. Der Künstler wirkte dann unglaublich weit weg und doch präsent, was Kieran mit interessierter Neugierde wahrnahm. Nun, jemand, der Momente so treffend einfangen konnte, wie Jonathan, musste wahrscheinlich einen ganz eigenen Blick auf die Welt haben…

Die kalte Nachtluft, die durch die Fenster hereinströmte, ließ Kieran einen Moment frösteln. Er hatte zuvor nur das Leinenhemd übergezogen, und gerade hatte er überlegt, was er nun wohl zu tun hatte, damit Jonathan seine Zeichnung von ihm fertigstellen konnte, als jener auch schon mit einer klaren Ansage kam. Kieran hob unwillkürlich die Augenbrauen. Er sollte … was? Missmutig verzog er den Mund. „Auf der Bühne war ich auch nicht nackt“, entgegnete er prompt. „Und ich werde mich auch nicht ausziehen.“ Die Bilder an der Wand waren also doch ein schlechtes Vorzeichen gewesen. Wollte er eben noch in den Raum ganz eintreten, so blieb er nun demonstrativ in der Tür stehen, die Hände in den Hosentaschen, und lehnte sich an den Türrahmen. „Ich bin davon ausgegangen, dass du die Skizze fertigstellen möchtest, warum sollte ich mich dazu entblößen?“ So wie Jonathan hier in seinem Element war, glaubte Kieran nicht, dass jener ihn belästigen wollte, nein dafür schien jener wirklich das Zeichnen von Menschen zu sehr zu lieben. Aber er fragte sich doch, was den Künstler hat glauben lassen, er würde sich für ihn ausziehen. Gehörte zu so etwas nicht ein wenig mehr Vertrauen? Kieran hatte nichts gegen Blöße, schließlich hatte er schon viele Menschen untersucht, viele Menschen, die krank gewesen waren, gepflegt, gewaschen, versorgt. Aber er selbst? Er hatte sich noch nie für jemanden einfach so ausgezogen, zumindest nicht, ohne dass sich der andere auch ausgezogen hätte… Und dann waren es Frauen gewesen, naja… ehrlich gesagt nur seine Frau…
 

Jonathan

„Ich glaube wir haben aneinander vorbeigesprochen, tut mir leid…“, sagte er und drehte sich um.

Als diese allzu keuschen Worte an Jonathans Ohren drangen, verfinsterte sich seine Miene nicht. Er wirkte auch nicht wütend. Seine Gesichtszüge schienen eher gar nichts mehr zu zeigen. Stocksteif verharrte er in seiner Pose und starrte aus dem Fenster, aus dem er nichts, als Vorhänge und Dunkelheit sehen konnte. Vielleicht noch etwas reflektierenden, flackernden Feuerschein. Einen Moment blieb es still. Dann sprach Jonathan plötzlich, ohne sich umzusehen. Seine Stimme war leise, doch da es nur die fernen Geräusche des Platzes heranwehte, war jedes Wort deutlich zu hören. "Als ihr getanzt hab, trugt ihr euer Lederhemd. Es passte sich euren Muskeln an. Doch auch dies hat einiges geschluckt. Nun tragt ihr ein Leinenhemd." Langsam wandte sich Jonathan um und musterte den fremden Mann. "Was glaubt ihr, was ich zeichnen will? Jedes Kind weiß, dass ein Mensch zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf hat und ich habe genug Erfahrung, um Größe und Form der Dinge anzupassen. Auch meine Skizzen geben genug her, um eure Bewegungen, denen ihr beim Tanzen folgt, zu zeichnen. Was habt ihr gedacht, was ich zeichnen will? Eure Augen? Euren Mund? Euer Gesicht ist vielleicht eine Sache, doch hübsche Gesichter gibt es überall in der Stadt und sie sind leichter zu beschaffen, als ihr glaubt. Doch das, was ihr habt, ist ein Körper. Muskeln. Haut. Sehnen, die sich spannen, die sich bei jeder Bewegung dehnen und euren Körper in ein Schauspiel aus Licht und Schatten verwandeln."

Leise stieß Jonathan die Luft aus und schloss das Fenster. Nun, da der Raum wieder mit frischer Luft durchflutet war, begann es auch ihn zu frösteln. Mit einem forschenden Blick auf Kieran, ging er an diesem vorbei und machte sich an dem Kamin im kleineren Raum zu schaffen. Während er Holz aufeinanderschichtete, sprach er weiter, doch im ersten Moment war es leise, eher, als würde er zu sich selbst sprechen. "Wenn ich fallenden Stoff auf einem Gegenstand erfassen will, hänge ich mir ein Tuch über einen Stuhl, wenn ich eine Hand zeichnen will, nehme ich meine eigene oder sonst eine. Wenn ich Haare zeichnen will, wäre jede Maus bei diesem Kurzschnitt anspruchsvoller." murmelte er vor sich hin, bis mit einem Mal eine helle Flamme aufloderte und den Raum in warmes Licht tauchte.

Nun erst drehte Jonathan sich wieder um und blickte Kieran direkt in die Augen. Sein Blick wirkte zum ersten Mal wirklich fest. Als wolle er ihm seine Gedanken, seine Gefühle, allein durch seinen Blick einflößen und verständlich machen. "Lasst mich nicht mit meiner brennenden Sehnsucht zurück, Feuertänzer. Es ist mir gleich, wenn ihr eure Unterkleidung anbehaltet, doch enthaltet mir nicht euren Körper vor, wo ihr ihn mir schon in Aussicht gestellt habt. Auch mein Geldangebot steht immer noch. Ich verspreche euch, es hat nichts mit Nacktheit zu tun. Nichts mit Blöße. Es ist das, wie ihr seid, wie wir alle sind. Ihr seid kein nackter Mann für mich. Ihr seid ein Mensch. Ich werde euch nicht anders betrachten, als ich einen Hund, einen Baum oder den Himmel betrachte", sprach er und innerlich flehte alles in ihm, Kieran möge bloß nicht gehen. Er würde ihn nicht aufhalten. Wie und warum auch? Schließlich war der junge Mann ein freier Mensch solange er sich in seinem Haus befand, doch er wusste, er würde sich selbst so lange grämen bis er etwas Vergleichbares gefunden hatte und das konnte schon mal einige Tage, vielleicht auch Wochen dauerte, wenn er Pech hatte.
 

Kieran

Kieran hörte dem Maler aufmerksam zu. War der Drang gerade noch groß geworden, einfach zu gehen, so schaffte es Jonathan in der Art und Weise, wie er sprach, ihn davon abzuhalten. Nun, er konnte sich ja mal anhören, was jener zu sagen hatte…

Und tatsächlich klang das, was jener sagte, durchaus plausibel. Wäre Kieran aufmerksamer gewesen, hätte er wirklich auch selbst darauf kommen können, dass jener nicht Interesse daran hat, ihn in seinen Klamotten zu zeichnen. Wieso sonst hatte er seinen Oberkörper abgetastet, seine Muskeln begutachtet, wieso sonst hatte er ihn so eindringlich gemustert. Und Jonathan klang tatsächlich so, als würde er in ihm einfach nur ein gutes Modell sehen, nicht ein Sexsymbol. Und doch war ihm nicht ganz wohl bei der Sache. In Gedanken blickte er zwar zu Jonathan, wie dieser das Feuer entfachte, nahm das aber eigentlich kaum wahr. Sollte er sich wirklich entblößen, sich vor diesem Mann nackt ausziehen? Er schluckte etwas bei dem Gedanken und blickte fast schon erschrocken auf, als Jonathan nun direkt vor ihm stand und ihn mit festem Blick ansah und nun seine Bedenken in Worte fasste und zerstreute.

Vielleicht lag es an den Argumenten, die jener vorbrachte, an dem Versichern, dass er ihn nicht als Lustobjekt sah, vielleicht lag es aber auch an dem Wort „Feuertänzer“, das ihm gefiel, das ihm schmeichelte…

Kieran erwiderte einen Moment nichts und sah sein Gegenüber nur ruhig an. „Ich möchte das Bild mit dem Hirsch haben“, sagte er dann und drehte sich um, durch den Raum schreitend und hinter den Paravent tretend.

Ein wenig war er selbst von sich überrascht, als er sein Hemd auszog, seine Hose abstreifte und schließlich zögerte. Er schloss einen Moment die Augen, lächelte und schüttelte über sich selbst den Kopf, als er auch das letzte Stück Stoff abstreifte. Wo war er hier nur wieder gelandet… Aber Jonathan hatte recht. Er war nun mal einfach nur ein Mensch. Und wenn er selbst einen Patienten hatte, um den er sich kümmern musste, war es letztlich nichts Anderes, wenn er jenen bat, sich zu entblößen…

Ihn fröstelte noch immer, aber langsam verbreitete sich die Wärme des Feuers im Kamin im Zimmer. Es wäre gelogen, wenn man schriebe, er hätte nicht etwas gerötete Wangen gehabt, als er schließlich, tief durchatmend, vor dem Paravent hervortrat, Jonathan lieber nicht ansah und zu dem hüfthohen Hocker hinüberging. Er hatte an der Wand einen Akt von einer Frau gesehen, die auf diesem Hocker gesessen hatte, und das ihm gut gefallen hat. Und so setzte er sich darauf, ein Bein hinabhängen lassend, das andere aufgestellt und erst jetzt sah er zu dem Künstler. „Ist es ok, wenn ich mich so hinsetze?“, fragte er, legte seinen Kopf auf seinem Knie ab, sein Bein mit seinen Armen umarmend und sah den anderen an, das Kinn etwas vorgestreckt in mutiger Pose, als bräuchte er ein wenig mehr Stärke, als er glaubte gerade zu haben.
 

Jonathan

Zu Jonathans Freude und auch Erleichterung, entschloss sich Kieran schließlich doch noch dazu, sich zeichnen zu lassen. Und noch überraschter war der Künstler, als Kieran das Bild seiner Tierkadaver als Bezahlung wählte. Der Hauch eines Lächelns huschte über seine Lippen und er nickte. "Ich bin mir sicher, es ist bei euch in guten Händen." sagte er leise, bevor er sich nun rasch an seine Tische begab, um sein Zeug weiter heraus zu suchen und seinen großen Skizzenblock in die Staffelei einzuspannen. Zunächst würde er nur ein paar einfache, aber ausgefertigte Zeichnungen machen, die ihn nicht allzu viel Zeit kosten würden. Ihm war klar, dass Kieran wohl etwas Zeit zum Aufwärmen benötigen würde und erst später würde er die Position, die dessen Muskelspiel und die Bewegung des Tanzes am besten zeigte, auf die Leinwand bringen und dies dann ausarbeiten.

Als Kieran allerdings anschließend hinter dem Paravent hervortrat, blieb Jonathans für einen Moment überrascht an dessen Hüfte hängen. Der Feuertänzer hatte die Unterwäsche doch ausgezogen. Was ihn wohl dazu bewegt hatte? Doch scheinbar schien den jungen Mann die Kunst ebenfalls zu interessieren und vielleicht hatte dies beim Verständnis geholfen. Bei Kierans Frage nickte Jonathan kurz und hob dann den Kohlestift. Zuerst wollte er nur grob anfangen und sich dann langsam ins Detail voran arbeiten. Die Pose, die der Mann angenommen hatte, half ihm nicht all zu viel, auch wenn es natürlich niemals etwas Überflüssiges gab. Doch würde er es erst einmal dabei belassen. Auch gab er keinen Kommentar zu Kierans gänzlicher Nacktheit ab. Er war sich sicher, dass diesen dies schon genug Überwindung gekostet hatte, denn das Licht war gut genug, um den leichten Rotton im Gesicht des Fremden zu erkennen und Jonathan behielt seine Gedanken so lieber für sich.

Und dann begann er, Kieran zu mustern. Genau unter die Lupe zu nehmen. Jeden einzelnen Zentimeter von ihm, mit brennender Leidenschaft abzutasten. Schien ihn geradezu zu durchbohren. Doch nicht, wie man einen Menschen mustert, um zu testen, ob er ein guter Bettgenosse ist. Es war ein viel ehrlicheres und doch auch sachlicheres Interesse. Es wirkte echt. Brennend und doch nur kühl an der Oberfläche abprallend. Eindringlich und doch, ohne zu direkt und aufdringlich zu wirken.

Nach etwa 20 Minuten hatte er die erste Skizze fertig. Jonathan prüfte noch einmal die Linien, dann wechselte er zum weichen Bleistift und tauschte das Papier aus. "Zeig mir die Muskeln auf deinem Rücken. Lehn dich gegen die Wand dort. Hebe die Arme. Spreiz die Ellenbogen zu den Seiten ab und lege dein Gesicht seitlich auf die übereinander gelegten Handflächen." Es war kein Befehl. Eher eine Anweisung. Eine Hilfestellung. Eine Bitte. Erwartungsvoll blickte Jonathan zu seinem Modell und wartete darauf, dass dieser seiner Idee nachkam. Er war nicht ungeduldig. Es dürstete ihn viel eher nach einer Befriedigung, die wohl die wenigsten verstehen oder auch nur in Ansätzen nachvollziehen konnten.
 

Kieran

Es war gut, dass Jonathan erst einmal nichts zu ihm sagte, sondern anfing zu arbeiten. Kieran sah einige Zeit dem etwas älteren Mann zu, der ihn mit so einem ganz eigenen Blick betrachtete und völlig in sich versunken schien. Doch bald schweiften seine Gedanken ab und sein Blick rückte in die Ferne, während er über dies und das nachdachte, den Tag Revue passieren ließ und schließlich bei Dominico Sforza ankam, dessen seltsames Verhalten ihm Rätsel aufgaben. Es beschäftigte ihn, was der Anlass für diese Einladung gewesen sein wollte oder ob er doch unnötig misstrauisch gewesen war. Und er dachte über die Konsequenzen nach, deren Ausmaß er momentan noch nicht abschätzen konnte. Aber er hoffte darauf, dass es kein Nachspiel geben würde, oder zumindest keines, das ihm wirklich Ärger einbrachte.

Völlig in seinen Gedanken vertieft erschrak er, als der Künstler ihn wieder ansprach, und geriet gefährlich ins Schwanken auf dem hohen Hocker. Und dieser Schreckmoment ließ ihn auch nicht weiter nachdenken, ob das, was der Künstler da sagte und um was er ihn bat, ihn irgendwie störte, sondern er leistete den Worten des anderen schlichtweg Folge. Kieran war sogar recht froh, sich endlich wieder bewegen zu dürfen, denn lange in einer Pose, einer unbequemen Pose, zu verharren, schmerzte bekanntlich jeden irgendwann. Und so stieg er behände vom Hocker und stellte sich an die Wand, genau wie Jonathan ihn gebeten hatte. Er lehnte sich gegen die Wand, die Arme als Stütze verwendend, den Kopf auf den sich überkreuzenden Händen ablegend.

Und so blieb er stehen, dehnte etwas seinen Rücken, der durch die krumme Haltung zuvor sehr angetan war von der neuen Pose.

Es war gar nicht so schlimm, wie es sich anfangs angehört hatte, und mit der Zeit vergaß er letztlich völlig, dass er nackt war. Jonathan ließ ihn noch weitere zwei Male die Position ändern, auch der Künstler änderte immer mal wieder sein Werkzeug, und Kieran genoss diese absolute Stille, diese konzentrierte Stille, die in dem Raum herrschte, und die wohl vor allem von Jonathan ausging, der mit dieser absoluten Ruhe in seinem Blick dafür sorgte, dass Kieran sich wohl fühlte.

Und so geschah es, dass Kieran, der sich zuletzt auf dem Divan positioniert hatte, einfach eingeschlafen war, und dass er noch nicht einmal die Glocken hörte, die die Bürger Cambridges darauf hinwiesen, dass sie nun in ihre Häuser zu gehen hatten, und den „Fremden“ mitteilten, die Stadt verlassen zu müssen.
 

Jonathan

Es war erstaunlich mit anzusehen, wie Kieran immer mehr auftaute und immer offenere, direktere Posen einnahm. Haltungen, die er auch beim Tanzen einnahm. Stellungen, bei denen Kieran nichts verbergen konnte und Jonathan sogar dessen Männlichkeit mit auf die Bilder setzen konnte. Für ihn gab es keinen bedeutenden Unterschied zwischen einem Arm und einem Penis. Beides waren Gliedmaßen, die zum männlichen Körper gehörten und beides wollte in seiner richtigen Größe, Form und Plastizität dargestellt werden. Ihm fiel überhaupt nicht auf, wie die Zeit verging. Wie immer, wenn er konzentriert an etwas arbeitete, was ihn befriedigte. Wenn sich eine Gelegenheit einmal bot, musste man sie auch ausnutzen und Kieran würde vielleicht nie wiederkommen, vielleicht sich auch nicht noch einmal überreden lassen können. Und so zeichnete er und zeichnete und zeichnete, bis ihm plötzlich auffiel, dass der Feuertänzer auf dem Divan eingenickt war.

Kurzerhand schnappte Jonathan sich einen kleineren Block und kniete sich vor Kieran hin, um sein schlafendes Gesicht von nahem zu zeichnen. Es war zwar schade, dass sein Model schon eingeschlummert war, doch er nahm es ihm nicht übel. Ein Tag Arbeit auf dem Marktplatz als Artist war sicher alles andere als erholsam. Und so nutzte Jonathan seine letzte Chance, bevor er sein Zeug sorgfältig wegräumte. Anschließend suchte er sein 'Hirschbild' heraus und schrieb leicht mit weichem Bleistift auf die Rückseite den Titel des Bildes, welche er normalerweise für sich behielt: 'Nur wer hat, dem wird gegeben' und rollte es zusammen. Dann nahm er die erste Skizze des sitzenden Kierans auf dem Hocker, rollte sie zusammen und steckte sie in die Mitte der anderen Rolle. Er gab seinen Modellen immer eine Skizze Ihrer selbst mit und dieses Bild würde den jungen Mann vielleicht nicht so sehr beschämen, da man seine Mitte nur erahnen konnte und es dennoch sein erster mutiger Schritt war. Außerdem besaß er solch eine Körperskizze schon und sie war darum auch sehr gut und schon ausgearbeiteter geworden. Um beides Band er einen einfachen Faden und legte das Bündel dann auf die Kleidung des anderen hinter dem Paravent.

Allmählich löschte Jonathan das Licht, als er die Glocken aus der Stadt hörte. Einen Moment überlegte er, ob er den jungen Mann wecken sollte, doch er entschied sich dagegen. Es würde schon nichts passieren. Das Pferd könnte auch seines sein und der Feuertänzer sah ihm zu erschöpft aus, um ihn nun noch einmal aufzurütteln und auf den Heimweg zu schicken. Jonathan schien dies ein schlechter Dank und so legte er einige Decken über den jungen Mann und trat dann in das kleinere Zimmer, wo er den Kamin noch einmal ordentlich anfeuerte, bevor er sich auf seiner eigenen, schmalen Strohmatratze niederließ. Die Tür zum Atelier ließ er offen, damit die Wärme auch dort hineinströmen konnte. Und so schlief er wenige Augenblicke später, zufrieden und mit dem beruhigenden Gefühl, etwas geschaffen zu haben, ein.



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