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Das erste Mal

[KaiSoo]
von

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„Der Hübsche“

Er wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Oberlippe, schloss die Augen für einen Moment und versuchte mit gesenktem Kopf, seinen aufgebrachten Atem zu zügeln. Es fühlte sich gut an. Er genoss jeden angestrengten Atemzug und selbst das Ziehen in seinen Gliedern war nur ein Zeichen dafür, dass er lebendig war. Und das, was ihn so atemlos machte, war sein Leben. Seine Leidenschaft, sein Ausgleich, sein Ventil und der Grund, wieso er sich gut fühlte.

Seine Brust hob und senkte sich noch immer in einem Rhythmus, der nur gemächlich langsamer und ebener wurde. Sein kurzärmliges Shirt klebte an seinem verschwitzten Rücken und der Pony in seiner Stirn saß auch nicht mehr so perfekt, wie vor einigen Stunden. Er saß im Schneidersitz auf dem sauberen Laminatboden und führte die Wasserflasche – ohne Kohlensäure – in seiner rechten Hand an seine trockenen Lippen. Mit geschlossenen Augen genoss er die kühle Flüssigkeit, die seine innere Hitze minimal beruhigte und bändigte.

Die Flasche wurde wieder verschlossen, zu seiner dunklen Umhängetasche geworfen und danach tat er einen Blick in den blankpolierten Spiegel.

Der fast komplett leere und erhellte Tanzraum reflektierte sich vor ihm im Spiegel und Jongin beobachtete sein leicht verschwitztes Gesicht, seine Schultern, die sich bei jedem Atemzug hoben und senkten. Die schwarze Anlage, die links an der Wand stand, erfüllte den durchschnittlich großen Raum mit der Musik von Teen Top und auch wenn es sonst vollkommen ruhig und niemand anwesend war, war das hier ein guter Tag. Wenn es ihm möglich war, verbrachte er hier jede freie Minute und er bereute es nie. Auf andere wirkte der unmöblierte Raum vielleicht charakterlos, für ihn war es ein Zimmer, das ihm bei jedem Betreten eine neue Welt eröffnete. Eine neue Welt, die nur ihm gehörte.

Er warf einen Blick auf die Uhr an der Anlage und bemerkte, dass es langsam Zeit wurde sich auf den Weg nach Hause zu machen. Die Arbeit hatte er hinter sich gebracht und die Zeit für sich allein hatte er auch sinnvoll genutzt, ansonsten wäre er jetzt nicht außer Atem, und fühlte sich trotz der leichten Müdigkeit unglaublich gut.

Manche behaupteten, dass er nur tanzte, weil seiner Mutter dieses Tanzstudio gehörte.

Manche behaupteten, dass er es nur tat, weil er sich dabei nicht ständig artikulieren musste.

Manche behaupteten, dass er es tat, weil er Talent hatte.

Vielleicht stimmte es, dass seine Mutter der Grund war, wieso er, seitdem er denken konnte, tanzte. Aber er hatte es nie für sie getan, er tat es, weil er es wollte. Er liebte es und vermutlich war es deswegen sein kompletter Lebensinhalt geworden. Ein Tag ohne rhythmische Bewegungen war ein trauriger, verschwendeter Tag. Ein Tag ohne einen Tanz war niemals ein vollkommen erfüllter.

Er erhob sich geschickt, schaltete die Musik ab und den Stecker der Anlage aus und zusammen mit der Umhängetasche, in der die fast leere Wasserflasche verschwunden war, verließ er den Raum. Manchmal duschte er hier, aber er bevorzugte die große Dusche zu Hause. Die zwanzig Minuten Busfahrt würde er auch so überleben, seine Mitmenschen auch.

Das Gebäude war tagsüber sehr hell, abends und nachts sorgten Energiesparlampen für ein gutes Licht. Das Tanzstudio befand sich im Songpa-Stadtteil, war einfach mit dem öffentlichen Verkehr zu erreichen und oft blickten neugierige Augen durch die Glaswand und -tür des Eingangsbereiches. Außer ihm und seiner Mutter arbeiteten hier sechs Leute und es war strukturierter, als man vielleicht annehmen wollte. Der Raum besaß getrennte Umkleidekabinen und Duschen, einen offenen, bequemen Eingangsbereich und zwei Trainingsräume. Ihre Arbeitszeit variierte, Jongin arbeitete meist am Abend.

Seine Mutter hatte das Studio eröffnet, als Jongin sechs gewesen war. Es war ein langersehnter Traum von ihr gewesen, auf den sie ihr ganzes Leben lang hin gearbeitet hatte. Für ihn war es eine zweite Heimat. Während seiner Schulzeit hatte er mehr Zeit hier als zu Hause verbracht. Es hatte sogar Nächte gegeben, die er auf dem laminierten Tanzboden oder der orangenen Wartecouch verbracht hatte. Das hier waren vertraute Wände und es gab keinen Ort, wo er sich besser und wohler fühlte. Das wusste jeder, der ihn kannte.

Umgezogen verließ er den Umkleideraum, trug seine Tasche über der linken Schulter und blieb still im Türrahmen stehen, als er bemerkte, dass seine Mutter mit einer anderen Frau sprach, in deren Anwesenheit ein schwarzhaariges Mädchen war. Er schätzte sie auf sechs. Vielleicht auch sieben. Sie trug ein pinkes, süßes Kleid und einen Haarreif mit einer Schleife.

Er kannte so gut wie alle, die hier unterrichtet wurden und sie gehörte nicht dazu. Noch nicht. Jongin war sich ziemlich sicher, dass sie und ihre Mutter hier waren, um sie anzumelden. Sie hatte ein strahlendes Lächeln auf den Lippen und sah sich mit großen, neugierigen Augen um.

Ihr Blick streifte ihn und sie schenkte ihm ein breites Grinsen, das Jongin sanft erwiderte. Danach blickte sie wieder zu den beiden Müttern, die sich unterhielten.

»Ich will tanzen«, unterbrach sie das Gespräch der beiden Frauen und Jongins Mutter schmunzelte, lehnte sich auf die Theke, die sie trennte und beugte sich zu dem Mädchen.

»Na, wenn du tanzen möchtest, dann lässt sich da sicher etwas machen.« Sie zwinkerte dem Mädchen zu und Jongin bemerkte nur am Rande, dass ihm das Mädchen bekannt vorkam. Möglicherweise nur deswegen, weil sie so aussah, wie jedes zweite Mädchen in ihrem Alter. »Was möchtest du denn tanzen?«, wurde dem Mädchen die Frage gestellt.

»Alles«, sagte sie und warf ihre Hände in die Luft, drehte sich einmal im Kreis, ließ den Saum ihres Kleides dadurch fliegen und Jongin lehnte sich an den Türrahmen, beobachtete sie lächelnd. »Ballett und Hiphop und das, was auf der Hochzeit in dem Film letztens getanzt wurde! Und ich will besser als Hyoyeon tanzen können!«

»Na, alles auf einmal wird etwas schwer«, sagte die Mutter mit einer sanften Stimme, zu ihrer Tochter, die in ein paar Jahren genau so hübsch und weiblich wie sie sein würde.

Das Mädchen schob die Unterlippe nach vorn und wirkte für einen Moment trotzig. »Aber du hast gesagt, dass ich tanzen darf!«

»Natürlich. Deswegen sind wir ja auch hier. Aber alles auf einmal wird etwas viel. Also, auf was haben wir uns geeinigt?«

»Ballett!« Das Mädchen strahlte übers ganze Gesicht.

Während seine Mutter ihnen erklärte, dass sie sich freuen würden, wenn sie hier Ballett lernen wollen würde, beobachtete Jongin weiterhin das Mädchen in dem süßen Kleid. Man konnte ihr die Freude wirklich ansehen. Sie strahlte über ihre leicht geröteten Bäckchen und vermutlich würde sie am liebsten gleich jetzt anfangen. Er kannte dieses Gefühl, wenn man nicht mehr abwarten konnte. Jeder kannte dieses Gefühl, wenn man sich auf etwas freute und es gleich in die Tat umsetzen wollte.

Die Erinnerung daran, dass er auch so gewesen war, wenn es darum ging eine neue Tanzart zu lernen, war sofort aufgestiegen. Und vermutlich würde er sich auch so wie das junge Mädchen benehmen, hätte er die Möglichkeit noch mehr zu lernen. Schweigend lauschte er dem Gespräch, hörte dabei zu wie sie den ersten Probetermin ausmachten und sah dabei zu, wie sie den Raum wieder verließen. Jongin hatte dem Mädchen ansehen können, dass sie gar nicht hatte gehen wollen.

Er verstand sie.

Schließlich bewegte er sich zu seiner Mutter, die gerade dabei war die Theke aufzuräumen. Sie hob den Kopf, als sie ihn hörte und schenkte ihm ein schmales Lächeln, das ihm zeigte, dass sie müde war. »Ein süßes Mädchen, was?«

Jongin nickte leicht. »Ja«, sagte er und machte eine kurze Pause. »Ich geh nach Hause. Soll ich auf dem Weg noch in den Supermarkt gehen?«

Seine Mutter hob den Kopf, runzelte die Stirn und schien zu überlegen. »Wir brauchen durchaus ein paar Sachen, aber ich wollte morgen eigentlich selbst gehen. Wenn du also selbst nichts dringend brauchst, musst du nicht extra einen Umweg machen.«

»Geht klar«, sagte er. »Wann kommst du heim?«

Sie pustete die Luft hörbar aus, blickte auf die Uhr. »Maria und ich haben gleich noch den Tangokurs. Vielleicht in zwei, drei Stunden.« Maria war eine ihrer Tanzlehrerinnen. Sie stammte aus dem sonnigen und leidenschaftlichen Spanien und wenn er neben ihr stand, fiel gar nicht auf, dass er für koreanische Verhältnisse einen dunklen Teint hatte. Sie hatte eine Lache, die ihn immer an eine Hexe erinnerte, aber im Gegensatz zu einer klassischen, bösen Hexe hatte sie einen sehr angenehmen Charakter. Sie war streng im Unterricht und Jongin sah ihr gern beim Tanzen zu. Er mochte ihre langen Beine und ihre bewundernswerte Körperspannung und –beherrschung. Und auch, wenn er koreanische Standards gewöhnt war, fand er, dass sie eine schöne, kurvenreiche Figur hatte. Außerdem brachte sie ihm oft kleine Snacks mit.

»Soll ich was zu essen machen?«, fragte er und sie sah ihn einen Moment verwirrt an, ehe sie anfing ihn auszulachen.

»Hey«, beschwerte er sich. »Ein Nein hätte auch gereicht.«

»Wir wissen beide, dass du nicht gern und auch nicht gut kochst.«

»Komisch, vielleicht hat mir meine Mutter das einfach nicht beigebracht.«

»Hätte deine Mutter dir kochen beigebracht, wäre deine Kochkunst wohl noch schlimmer.« Sie schmunzelte amüsiert. »Dein Vater hat doch gestern Haemultang gemacht. Da müsste noch etwas übrig sein. Aber lieb, dass du fragst.«

Er zuckte mit den Schultern. »Bis später«, verabschiedete er sich schließlich von seiner Mutter, ehe er ihr kurz winkte und dann das Tanzstudio verließ.

Er begegnete auf dem Weg zur Bushaltestelle vielen Menschen, die er jedoch nicht ansah, weil sein Blick auf den Boden gerichtet war. Unbewusst hat er seine Schultern etwas hochgezogen, fast so, als wäre ihm kalt, und würde man seinen derzeitigen Gang beobachten, würde niemand auf die Idee kommen, dass er auf der Tanzfläche ein Gott war.

Nach der Fahrt, die er mit der Musik auf seinem Handy verbracht hatte, und den fünf Minuten Fußweg zur Wohnung, betrat er das Hochhaus, lief hoch in den dritten Stock und als er die Tür zu der recht geräumigen Wohnung öffnete, wurde er sofort von seinem braunen Pudel begrüßt. Der Hund ging auf die Hinterpfoten und drückte seine Vorderpfoten an seinen Oberschenkel. »Na, hast du mich vermisst, Monggu?«, wollte er von dem Tier wissen und Jongin war sich sicher, dass er ihn verstand. Und vermisst hatte er ihn offensichtlich auch. Jongin streichelte sein wuscheliges, braunes Fell und spürte, wie der Hund seine feuchte Nase gegen seinen Arm drückte und ihn kurz abschleckte.

Nachdem er sich von seinem Hund befreit und seine Schuhe ausgezogen hatte, gab er seinem Hund etwas zu fressen, aß selbst eine Kleinigkeit und bevor er sich die Leine geschnappt hatte, hatte er unauffällig aus seinem Fenster gesehen um zu sehen ob er ihn erblicken konnte.

Er wurde enttäuscht, glaubte, dass es jedoch vielleicht besser war, weil Monggu dann möglicherweise noch ein paar Minuten länger auf seinen abendlichen Spaziergang hätte warten müssen. So stand sein geliebter Hund an erster Stelle.
 

Er würde gern wissen, wie er hieß.

Der Spaziergang war lange und ruhig wie immer verlaufen. Alles nahm seinen gewohnten Ablauf und Jongin saß schon seit mehreren Minuten in seinem dunklen Zimmer vor dem Fenster und blickte aus selbigem. Er war müde, aber dennoch konnte er seinen Blick nicht von dem beleuchteten Raum im Haus nebenan lassen.

Ihm war durchaus bewusst, dass es langsam aber sicher ungesunde Formen annahm; sein Verhalten, dieses ständige Beobachten. Deswegen hatte er auch immer das Licht aus. Man sollte nicht sehen, wie er manchmal viel zu lange aus dem Fenster blickte, einfach nur in der Hoffnung ihn zu sehen.

Er faszinierte ihn. Was genau der Grund dafür war, konnte er nicht sagen, aber es war irgendwie beruhigend ihm zuzusehen. Zu sehen, dass er wieder kochte, zu sehen, dass er in seinem Zimmer am Schreibtisch saß und vermutlich im Internet surfte. Es war fast so, als wollte Jongin sicher gehen, dass es ihm auch wirklich gut ging. Er wollte und wünschte, dass es ihm gut ging. Er glaubte, dass sein Nachbar, dessen Namen er nicht kannte, es verdient hätte glücklich zu sein. Er wirkte wie ein aufrichtiger, junger Mann mit viel Verantwortung, höflichen Manieren und jemand, der genug Vernunft für das Leben besaß.

Jongin wollte ihn kennenlernen. Wollte sich mit ihm unterhalten und herausfinden, ob sich seine Einschätzung bestätigte. Jongin wollte seinen Namen wissen, wollte herausfinden wie seine Stimme klang und was für kleine Macken er hatte, was für Dinge er mochte und was er nicht leiden konnte.

Den ersten Schritt zu machen, traute er sich aber nicht. Und er verfluchte sich dafür. Aber dafür war es ein Trost nachts hier zu sitzen und zu sehen, dass er existierte und seinem geregelten Leben nachging.

Manchmal fragte er sich, ob sein Nachbar, den Jongin in seinen Gedanken immer nur „den Hübschen“ nannte, ihn zuordnen konnte, würden sie sich wieder sehen. Die Wahrscheinlichkeit war gering und auch wenn das frustrierend war, war es in Ordnung. Aber neben dem Schichtdienst und einem voll ausgelasteten Privatleben, konnte man sich sicher nicht an irgendeine Person erinnern, der man nur einmal direkt ins Gesicht gesehen hatte. An einer Bushaltestelle, wo man täglich neue, fremde Menschen sah.

Er hatte die Augenlider halb gesenkt, während er die Unterarme auf dem kalten Fensterbrett verschränkt hatte und dabei zusah, wie der junge Mann sich durch seine dunklen, kurz gehaltenen Haare fuhr. Er saß an seinem Schreibtisch, tippte hin und wieder auf den Tasten des Laptops und Jongin würde nur zu gern wissen, auf was für Seiten er surfte. Und was für ein Shampoo er benutzte, damit seine Haare so weich aussahen. Jongin wollte seine Haare gern berühren.

Nach diesem Gedanken glaubte er, dass es höchste Zeit für ihn war ins Bett zu gehen.
 

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Er wusste noch immer nicht, wie er hieß. Wäre es nicht so sinnlos die Klingelschilder des Hauses zu studieren, würde er das vielleicht machen, aber wie sollte er darauf kommen, welcher Name nun richtig war, und welcher nicht?

Aber er wusste, dass er gerade wieder den Spätdienst hatte, was bedeutete, dass er ihn öfters erspähen konnte. Manchmal fragte er sich, was er arbeitete. Es gab so viele Jobs, die Schichtdienst hatten. Als erstes wäre ihm etwas im Krankenhaus eingefallen. Pfleger, oder Arzt. Aber für einen Arzt wirkte er fast zu jung, obwohl es natürlich durchaus schon sein könnte, dass er sein Studium mit Bravour gemeistert hatte und nun dabei war Internist zu werden. Jongin konnte ihn nur nicht so direkt schon auf Mitte zwanzig schätzen. Volljährig war er auf jeden Fall, aber älter als er wirkte er eigentlich nicht unbedingt. Jongin war jedoch nicht unbedingt gut darin Alter zu schätzen.

Wie ein Arzt wirkte er aber nicht. Da würde er ihn eher als Pfleger einschätzen.

Friseur? Verkäufer? Beamter? Kellner? Jongin wusste gar nicht so genau, was es sonst noch für Berufe mit Schichtdienst gab.

Es wäre so einfach ihn einfach mal anzusprechen.

Jongin würde ihn nur nicht ansprechen.

Er erinnerte sich daran, dass sein Vater bald seinen 60. Geburtstag hatte. Jongin wusste nicht, ob er sich auf die Feier freuen sollte oder nicht.

Er tendierte eher zu einem Nein.
 

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Monggu hatte ihn am Morgen mit einer großen Portion halbverdautem Hundefutter vor seiner Zimmertür geweckt. Er hatte den braunen Pudel am selben Tag, nachdem er sich das zweite Mal übergeben hatte, zum Tierarzt gebracht. Es hatte sich herausgestellt, dass er wohl einfach nur das neue Futter nicht vertrug.

Bevor er sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, hatte er gehofft den hübschen Nachbarn wieder zu sehen. Erfolgslos.
 

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»Hast du morgen Lust etwas zu unternehmen?«, fragte der junge Mann mit den braunen Haaren ihn und Jongin überlegte einen Moment.

»Weiß nicht«, antwortete er dann ziemlich knapp und nachdenklich. »Ich muss morgen arbeiten. Ich hab zwar um halb Neun Feierabend, aber du weißt, dass ich kein großer Freund davon bin wegzugehen, Yixing.«

»Ach, komm schon. Wenn ich schon mal nicht so viel für mein Studium lernen muss, kannst du nicht einfach absagen.« Yixing warf Jongin das weiße, stellenweise verschwitzte Handtuch entgegen. Jongin fing es, warf es zurück, verfehlte jedoch knapp und sah dabei zu wie das Handtuch auf der Bank landete.

»Du weißt genau, wieso ich nicht will«, antwortete Jongin und klang ungewollt etwas trotzig.

»Na, wenn du nichts dagegen unternimmst, ändert es sich auch nicht.« Yixing zog sich das Shirt über seinen Kopf. Jongin blieb mit verschränkten Armen im Raum stehen und beobachtete ihn.

»Ich unternehme etwas dagegen und das weißt du ganz genau.«

Sein bester Freund drehte sich zu ihm und schenkte ihm ein leichtes, sanftes Lächeln. »Tut mir Leid, das war nicht fair. Aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du mal wieder mitkommen würdest.«

»Das endet nur wieder im Desaster«, kam mit gedämpfter Stimme von Jongin.

»Und wenn wir uns einen schönen Tag bei dir zu Hause machen?«, fragte der andere dann.

»Das wäre in Ordnung.« Ein leichtes Lächeln hatte sich auf Jongins volle Lippen gestohlen. »Meine Mutter freut sich ja immer, wenn sie dich sieht und meinem Vater wird es eh nicht auffallen, ob du da bist, oder nicht.«

»Sehr schön. Dann steh ich morgen um neun auf der Matte.« Er hatte sich das frische Shirt übergezogen, strich es glatt.

»Und keine Sekunde später«, stellte Jongin scherzend die Bedingung.

»Keine Sekunde später«, erwiderte Yixing nickend und völlig ernst. Danach schmunzelte er, schulterte seinen Rucksack. »Soll ich was mitbringen?«

»Ich glaub nicht, dass du das musst. Oder hast du was Bestimmtes vor?«

Yixing steuerte die Tür der Umkleide an und Jongin folgte ihm. »Eigentlich nicht.«

»Dann musst du nichts mitbringen.«

»Geht klar.« Die beiden verließen den Raum, wobei Jongin nach ein paar Schritten stehen blieb und zu seinem besten Freund sah, der sich zu ihm drehte. »Hast du gleich noch ein Kurs?«, wollte er wissen.

»Ja, ich helfe meiner Mutter heute nur ein bisschen. Die Kleinen haben Ballett.«

»Na, dann viel Spaß. Und vergiss dein Tutu nicht«, scherzte Yixing breit grinsend.

»Ich hoffe du weißt, was dich morgen Abend erwartet.« Eine unterschwellige Drohung. Yixing lachte, hob seine Hand zum Abschied.

»Bis morgen, Jongin.«

»Bis morgen«, erwiderte er und sah dabei zu, wie der Chinese das Studio verließ. Er mochte ihn wirklich gern. Yixing war diese Art Person, mit er man sich als besten Freund wirklich wohl schätzen konnte. Auch wenn er im ersten Moment vielleicht nicht so wirkte, war er eine Person, die ihn immer aufheitern konnte. Sie kannten sich schon einige Jahre und vermutlich hatten sie beide keine Probleme damit zu ahnen, was der andere gerade dachte. Oder fühlte. Fakt war, dass sie sich besser verstanden, als sie auf andere den Eindruck machten. Ihre Freundschaft war speziell, aber unverbesserlich.

Er verbrachte gern Zeit mit ihm, auch wenn er manchmal nicht danach wirkte. In Yixings Gegenwart fühlte er sich wohl und locker und konnte einfach er selbst sein. Das Beste an ihrer Freundschaft war jedoch, dass sie dieselbe Leidenschaft teilten. Auch Yixing war ein begnadeter Tänzer und Jongin zog durchaus seinen Hut vor ihm.

Als Yixing aus seiner Sichtweite verschwunden war, trat er zurück in die Umkleide und betrat danach wieder den Tanzraum, der leer war. Die Fenster standen offen und die Musik lief noch immer in einer leisen Lautstärke.

Er hatte einige Minuten für sich selbst gehabt, ehe seine Mutter den Raum betreten hatte. Danach hatte es kaum eine Minute gedauert, bis das erste Mädchen voller Vorfreude aufgetaucht war. Jongin hatte bemerkt, dass das Mädchen von letztens dabei war. Ihr Name war Kyunghee und sie war unglaublich motiviert. Jongin mochte ihr süßes Lächeln.

Die Stunde verlief erfolgreich und Jongin fand es immer wieder aufs Neue unterhaltsam, wie die Mädchen von ihm und seiner Körperbeherrschung, seinen gezielten Bewegungen, beeindruckt waren. Ballett war etwas für Mädchen, war das Klischee, und Jongin fand das unglaublich schwachsinnig. Vielleicht war Ballett inzwischen nicht mehr die Tanzart, der er am liebsten nachging, aber er war so dankbar, dass er sie als Kind gelernt hatte. Allein durch das jahrelange Training, war er beweglich und hatte in anderen Tanzarten dadurch immer ein gutes Sprungbrett gehabt.

Die Mädchen und der einzige Junge wurden von ihren Eltern abgeholt und nachdem seine Mutter noch mit Kyunghees Mutter gesprochen und sie schließlich fest in die Gruppe eingetragen hatte, machten er und seine Mutter sich gemeinsam auf den Nachhauseweg.

Jongin erzählte ihr, dass Yixing morgen vorbeikommen würde. Seine Mutter sagte ihm, dass sie froh war, dass er jemand wie Yixing hatte und dass sie ihn sehr gut leiden konnte.

Bevor er eine gute Stunde später ins Bett gegangen war, hatte er einen Blick aus dem Fenster geworfen, aber feststellen müssen, dass das Licht in seinem Zimmer aus war.

Vielleicht schlief er schon, oder war noch nicht zu Hause. Möglicherweise hatte er auch gar keinen Spätdienst mehr.
 

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Jongin fragte sich, was seine Lieblingsfarbe war, was für Musik er hörte und ob er eine Freundin hatte. Er wusste nur, dass er passend kleine Hände für seine Körpergröße hatte, dafür aber ziemlich schnell tippen konnte. Möglicherweise arbeitete er ja auch in einem Büro. Eine Verschwendung, wie Jongin fand. Jemand wie diese Person sollte sich nicht in einem Büro, hinter einem Schreibtisch verstecken. Aber vielleicht war das besser, wenn das so wäre und nicht jeder in den Genuss seiner attraktiven Gegenwart kam.

Nach diesem Gedankengang bemerkte Jongin, dass er anfing sich mehr für ihn zu interessieren, als er sollte.

Er fing an mehr Interesse zu zeigen, als es geplant war. Er beobachtete ihn aus einem ganz anderen Licht, als ein Nachbar oder eine Person vom selben Geschlecht tun sollte.

Jongin bemerkte, dass er dabei war sich ein bisschen zu verknallen. In eine Person, mit der er noch nie ein Wort gewechselt hatte. In eine Person, die er nicht einmal wirklich kannte. In eine Person, der er erst einmal, für den Bruchteil einer vergänglichen Sekunde, in die Augen gesehen hatte.

»Seit wann steht der Stuhl denn vor dem Fenster?«, wollte Yixing wissen und riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ah«, machte Jongin etwas ertappt und kratzte sich im Nacken. »Nur so. Hat keinen wirklichen Sinn.«

»Wieso steht er dann nicht vor dem Schreibtisch, wie sonst?« Nach seiner Frage setzte sich der Chinese auf den Stuhl, drehte sich einmal halb im Kreis, dann wieder zurück und blickte aus dem Fenster. »Sag bloß, du fängst an jemand zu stalken«, scherzte Yixing und Jongin bemerkte, wie unangenehm diese Aussage war. Weil sie ein bisschen zutraf. Nur ein kleines bisschen. Immerhin war er kein Stalker, aber wenn er darüber nachdachte, war er vielleicht auf dem besten Weg dorthin.

»So ein Quatsch«, verteidigte sich Jongin und schnaubte danach etwas, als hätte Yixings Aussage ihn höllisch amüsiert. »Wen sollte ich denn bitteschön stalken?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist da ja ein hübsches Mädchen nebenan.«

Jongin spürte, wie fürchterlich unangenehm das Thema plötzlich wurde. »Naah, davon wüsste ich«, rettete er sich aus der Situation.

Yixing zuckte mit den Schultern. »Spielen wir eine Runde Wii?«

»Klar. Wenn du willst, dass ich dich fertig mache.«

Jongin hatte ihn nicht fertig gemacht. Yixing war durchaus geübter in Wii-Sports, was Jongin gar nicht verstehen konnte, weil sein bester Freund gar keine Wii besaß. Vermutlich war er nur einfach der geborene Zocker. Oder er hatte mehr Glück als Verstand. Möglicherweise hatte er auch einfach nur aufgepasst, als erklärt wurde, was man tun musste, um erfolgreich in den Spielen zu sein. Denn anspruchsvoll waren sie nicht wirklich.

»Also, wen stalkst du?«, wollte Yixing scherzhaft wissen, nachdem sie vor dem großen, flachen Bildschirm auf dem Boden saßen und das letzte Spiel beendet hatten.

»Niemand!« Jongins Antwort kam zu schnell und in einem falschen Ton. Yixing runzelte die Stirn, sah ihn an und fing an zu lachen.

»Hey, was soll das denn jetzt?«, wollte Jongin empört wissen.

»Du siehst aus, wie ein kleiner Junge, den man beim Lügen erwischt hat.«

»Ich stalke aber niemanden! Wie kommst du überhaupt auf die Idee?«, wollte er empört wissen.

Yixing grinste leicht, winkte ab. »Beruhige dich, war doch nur ein Scherz. Aber ich hoffe, dass du mir sagst, wenn da eine hübsche Dame nebenan wohnt, auf die du ein Auge geworfen hast. Vielleicht gebe ich ihr dann mal ein Hinweis, dass ein leidenschaftlicher Tänzer sie gern zum Walzer ausführen würde. Wenn du weißt, was ich meine.« Er hob seine Augenbrauen deutlich und vielsagend an und Jongin verpasste ihm einen leichten Schlag gegen den Hinterkopf.

»Lass das, du Idiot!«

Das Thema verlief sich und irgendwann sprachen sie wieder über Themen, die ihm nicht unbewusst unangenehm waren.

Jongin wusste, dass er Yixing einweihen würde, würde er sich sicher sein. Aber er war nicht sicher. Im Moment war er fürchterlich unsicher. Es war dumm zu behaupten, dass man sich möglicherweise in eine Person verguckt hatte, die man gar nicht kannte. Und die dazu noch vom selben Geschlecht war. Das war ihm noch nie passiert. Und Jongin war schon öfters verliebt gewesen. Er war sicher einfach nur fasziniert, redete er sich ein.

Das würde sich wieder legen, glaubte er.

Als Yixing die Wohnung verlassen hatte und Jongin im abgedunkelten Zimmer vor dem Fenster stand und bemerkte, wie der namenlose Nachbar, „der Hübsche“, an seinem Schreibtisch saß und geistesabwesend aus dem Fenster blickte, war er sich plötzlich sicher, dass es sich nicht so schnell legen würde.
 

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Er war sicher bei Facebook angemeldet. Oder hatte Twitter. Vielleicht sogar Weibo.

Wenn er doch nur seinen Namen wüsste, dann könnte er ihn anschreiben. Oder seine Email würde ihm auch schon reichen. Jongin wollte mit ihm in Kontakt treten. Wollte mit ihm kommunizieren und herausfinden, ob sein Charakter genau so liebenswert war, wie seine Erscheinung.

Man sollte meinen, dass es das einfachste wäre, ihn irgendwann vor dem Haus abzufangen und einfach zu fragen. Immerhin waren sie Nachbarn. Ein Gespräch anzufangen sollte eigentlich so einfach sein.

Eigentlich.

Für Jongin war es das nicht.

Und aus diesem Grund war er sich so sicher, dass sich nie ein Gespräch zwischen ihnen ereignen würde.

Das erste Mal, als er bemerkte, wie aussichtslos die Situation war, hätte er sich am liebsten übergeben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  jongtaeswifey
2013-11-13T22:35:02+00:00 13.11.2013 23:35
Omg so toll*_*
Antwort von:  dumm
14.11.2013 02:23
Daww, Dankeschön! <3


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