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Ein zweites Leben

von

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Nur ein Freund...

„Ich mache mir Sorgen, was nun geschehen wird, da der König sehr krank ist“, sagte Andre zu Oscar an einem späten Abend und nach einem ihrer gemeinsamen Rundgänge im Versailles.
 

Die Luft im Palast war schon seit einigen Tagen angespannt. Der König war bei einer Jagd vom Pferd gestürzt und als wäre das schon nicht genug, bekam er anschließend noch die Pocken. Man munkelte, dass der König höchstwahrscheinlich sterben würde und viele der machthungrigen Höflinge zählten dabei schon ihre Vor- und Nachteile heraus.
 

Oscar hasste solche Menschen und verstand daher die Sorgen von Andre sehr gut. Die beide standen auf einem Balkon und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Im Bezug auf Andres letzten Satz, erwiderte Oscar nichts. Sie starrte in die Dunkelheit des späten Abends hinaus und verschränkte ihre Arme vor sich. Die andere Oscar in ihr, meldete sich aber diesbezüglich: „Seine Sorgen sind nicht unbegründet. Der König hat nicht mehr lange zu leben und dann kommt das neue Königspaar an die Macht. Viele von diesen verkommenen Aristokraten am Hofe werden sie ausnutzen und beeinflussen. Zu meinen Lebzeiten war ich mit Marie Antoinette befreundet gewesen und habe ihr oft erklärt wie arm Frankreich ist und wie sehr das Volk darunter litt. Aber es hat nichts genützt. Vielleicht hätte sie auf mich gehört und etwas dagegen unternommen, wenn nicht der Liebeskummer zu Grafen von Fersen sie in die Verschwendungssucht getrieben hätte.“
 

„Ich werde mein Bestes tun, um das zu verhindern“, versprach ihr Oscar in Gedanken.
 

Andre betrachtete Oscar die ganze Zeit von der Seite und wartete vergeblich auf eine Antwort von ihr. In letzter Zeit, besonders seit ihrer Genesung vor wenigen Wochen, versank sie mehr und mehr in ihre Grübeleien. Sie sprach schon mit ihm und hatte ihn jederzeit gerne an ihrer Seite, aber wenn sie sich unbeobachtet glaubte, ertappte er sie eben bei diesen tiefsinnigen Grübeleien. Ihm konnte sie nichts vormachen, aber sie schwieg beharrlich darüber. Er hätte gerne gewusst, worüber oder an wen sie in diesen stillen Momenten dachte. Er hatte sie nie danach gefragt, weil er genau wusste, dass er von ihr sowieso keine Antwort darauf bekommen würde. Er kannte sie schon gut genug. Sie war eben so und das musste er akzeptieren, wenn er weiterhin ihr treuer Freund sein wollte. „Ach, Oscar, wenn du nur wüsstest, was ich noch so alles für dich empfinde...“, dachte er bei sich schwermütig.
 

Sie standen noch eine Weile verstummt nebeneinander, bis Oscar wieder ihren Pflichten als Kapitän der königlichen Garde nachging. Zusammen mit Graf de Girodel, bewachte sie die Gemächer des zukünftigen Königspaares und sorgte für Ordnung.
 

Am nächsten Tag machte der König seine letzten Atemzüge. Er wurde noch in der gleichen Nacht beigesetzt. Seine Mätresse verlor ihre Macht am Hofe und wurde aus Versailles verbannt. Sie geriet schnell in Vergessenheit. Man bereitete sich lieber mit neuen Hoffnungen und Erwartungen auf die Krönung des zukünftigen Königspaares vor.
 

Auch das Volk freute sich über die neue Zeiten, denn die Steuern wurden gesenkt und einige Nahrungsmittel waren billiger geworden. Nach der Krönungszeremonie, besuchte das Königspaar ein Institut, wo ein junger Student die Gratulationsrede hielt.
 

„Maximilien de Robespierre“, erläuterte die Stimme in Oscar genauer, während der Rede: „Er wird später ein Anwalt für das Volk sein und auch der Anführer in der Revolution. Ich war von seinen Reden und Zielen irgendwie beeindruckt gewesen. Nur leider weiß ich nicht, wie das ganze ausgegangen ist, nach dem die Bastille gestürmt war.“
 

„Bis dahin ist noch viel Zeit und vielleicht wird es gar nicht zur Revolution kommen“, dachte Oscar bei sich und ließ den jungen Student nicht aus den Augen. „Ich werde mein Bestes geben, um das Schlimmste zu verhindern. Vielleicht sollte ich nachher einmal mit Robespierre sprechen.“
 

„Ich glaube nicht, dass es etwas für die Zukunft nützt“, meinte die Stimme in ihr überlegend: „Robespierre, soweit ich mich erinnere, war nur seinem Starrsinn und seinen Prinzipien gefolgt. Sein Herz schlägt nur für Frankreich und die Rechte des Volkes. Lass ihn seinen Weg gehen und beschäftige dich lieber mit dem Hochadel. Denn die sind diejenigen, für die ein einfacher Bürger nichts zählt. Sie werden die Großherzigkeit des Königs und besonders die Königin für ihre machthungrigen Pläne ausnutzen, während das Volk immer tiefer im Elend versinken wird.“
 

„Also muss ich Marie Antoinette und König Ludwig XVI davor bewahren, ausgenutzt zu werden!“
 

„So sieht es aus, Oscar. Aber sei vorsichtig! Diese verkommenen und verschlagenen Aristokraten scheuen nicht vor Mord. Sie gehen gerne über Leichen.“
 

„Mich kriegen sie nicht!“, beharrte Oscar selbstherrlich in Gedanken.
 


 


 

Nach einigen Tagen der Krönungszeremonie und Feier, bekam Oscar dienstfrei, was sie Zuhause auch sehr auskostete. Am Hofe war sie stets bei Marie Antoinette gewesen und sparte nicht mit allen möglichen Ratschlägen für sie. Die gefährlichsten Intriganten am Hofe bekamen nicht einmal die Möglichkeit, ihre habgierigen Pläne durchzuziehen. Die neue Königin bevorzugte meistens, nichts voreilig zu entscheiden und speiste sie mit nichtssagenden Versprechen ab. Oscar war zufrieden. So würde Marie Antoinette nicht ausgenutzt werden. Es war eine anstrengende Aufgabe, sie auf den richtigen Pfad zu lenken und sie von den falschen Zungen zu bewahren.
 

Jetzt gönnte sich Oscar für ein paar Tage eine Pause im trauten Heim. Andre folgte ihr größtenteils wie ein Schatten, der von einem Lichtstrahl angelockt wurde. Er machte sich langsam um seine langjährige Freundin große Sorgen. Sie versank immer mehr in sich selbst, wurde zu ihm kaum gesprächiger und beliebte häufig mit der Kutsche durch Paris zu fahren. Ihre Zielorte waren immer dieselbe: Die Elendsviertel, die Tuilerien und Bastille. Sie betrat keine dieser Orte. Sie sah sie nur aus dem Fenster der Kutsche an und fuhr dann weiter, als wolle sie nur irgendeine Erinnerung dabei erfrischen. Aber welche? Soweit Andre wusste, verband Oscar nichts mit diesen Orten!
 

„Was ist los mit dir?“, hielte er es irgendwann nicht mehr aus. Kaum waren sie heute Nachmittag aus Versailles nach Hause gekommen, fuhren sie wieder mit der Kutsche nach Paris und Andre wusste schon wohin genau. „Du kannst mir doch ruhig alles erzählen! Du bist nicht mehr du selbst, wenn wir unter uns sind!“
 

Oscar schreckte aus ihren Gedanken hoch. So vorwurfsvoll hatte sie ihn bisher noch nicht reden gehört. Was war denn mit ihm auf einmal los? Oder ahnte er etwas? Nein, das konnte er nicht! Sie war doch stets vorsichtig. Oscar setzte ein kaum merkliches Lächeln auf. „Es ist nichts, Andre, sei unbesorgt. Mir geht es gut.“
 

„Warum habe ich dann das Gefühl, dass es nicht so ist?“ Andre saß ihr in der Kutsche gegenüber. Seine Augenbrauen stutzig zusammengezogen, sein Blick schien tief in sie hineinzusehen und sein Ton verriet die Besorgnis in ihm: „Warum fahren wir zu den Orten, die du nie betrittst? Was hast du mit ihnen zu schaffen? Und worüber grübelst du, wenn du dich unbeobachtet fühlst?“
 

„Du stellst zu viele Fragen, Andre!“ Oscar bemühte sich, kühl zu wirken. Innerlich jedoch herrschte Unbehagen in ihr. Sie wollte ihn nicht mit der Bürde belasten, mit der sie es manchmal schon selbst schwer genug hatte. „Und ich kann dir auf keine der Fragen antworten. Das geht nicht. Nicht jetzt.“
 

„Wann dann? Und warum geht es nicht?“ Andre ließ nicht locker. Er sah beinahe verzweifelt aus. „Bitte, Oscar, rede mit mir! Vielleicht kann ich dir helfen! Gemeinsam ist doch bestimmt besser eine Lösung zu finden, als wenn du dich alleine damit quälst!“
 

„Lasse es gut sein, Andre, das bringt nichts!“ Oscar legte ihre Stirn in Falten. Ihr Blick wurde strenger, ihre Stimme schroffer, aber im Herzen tat es ihr weh, ihn so zu behandeln. „Es tut mir leid“, sagte sie ihm sogleich versöhnlicher: „Ich kann es dir noch nicht sagen. Ich brauche Zeit, um das selbst zu verstehen, aber ich versichere dir, mit mir ist alles in Ordnung.“
 

„Armer Andre“, äußerte sich die Stimme in ihr mitleidig: „In meinem früheren Leben habe ich nie gemerkt, was in ihm vorging. Aber er wusste dagegen immer, wenn etwas nicht mit mir stimmte.“
 

„Und würdest du es mir sagen, wenn du die Antwort gefunden hast, Oscar?“ stellte Andre seine Frage zuversichtlicher als vorher. Er wollte sie auf keinen Fall bedrängen und er wusste, wenn sie zustimmte, dann würde sie es auch so machen.
 

„Ja, Andre, das werde ich“, versprach sie ihm, was ihn erleichterte und milde stimmte.
 

Die Kutsche hielte vor den hohen Mauern einer Kaserne an. Die Haupttore befanden sich noch ein Stück weiter, aber Oscar wollte nicht hin - aus unerklärlichen Gründen. Sie stieg aus und sah nachdenklich in die Richtung. „Das ist also die Kaserne, wohin du versetzt wurdest - oder ich es sein werde, je nachdem was die Zukunft bringen mag.“
 

„Ja“, bestätigte schlicht die Stimme in ihr.
 

„Was wollen wir hier, Oscar?“ Andre gesellte sich unvermittelt an ihre Seite und betrachtete verwundert die hohen Mauern. „Das ist das erste Mal, dass du an dieser Kaserne anhältst und noch dazu aussteigst.“
 

„Das stimmt.“ Oscar sah ihn von der Seite an, ihre Hände nach hinten verschränkt und ihre Mundwinkeln leicht nach oben gezogen: „Was hältst du davon, wenn du ein Soldat in der Söldnertruppe wirst, Andre?“
 

„Ist das dein Ernst?“ Andre schauderte es. Er starrte sie kreidebleich an: „Willst du mich etwa loswerden? Habe ich etwas falsch gemacht? Oder gesagt?“ Das würde er nicht überleben! Weit weg ohne Oscar zu sein, sie sehr selten zu Gesicht zu bekommen und nicht zu wissen wie es ihr geht, was sie macht, ob sie etwas braucht... schien ihm noch unerträglicher als die unerwiderte Liebe zu ihr, die er stillschweigend schon seit Jahren in sich trug.
 

„Aber nein doch!“ Oscar schmunzelte neckend und fasste ihn freundschaftlich an der Schulter. „Mir ist nur so eine Gedanke gekommen. Keine Sorge, es ist halb so wichtig.“ Sie klopfte ihm leicht auf die Schulter und stieg wieder in die Kutsche. „Kommst du mit, oder willst du doch noch der Kaserne beitreten?“
 

Andre erwachte aus seiner Schreckensstarre und beeilte sich ihr nachzukommen. Ihm fiel ein Stein vom Herzen! Oscar wollte ihn nicht loswerden! Aber warum hatte sie ihn danach gefragt? Einfach so aus Spaß? Oder steckte etwas anderes dahinter? Eine Frau zu verstehen, die wie ein Mann erzogen wurde und die sich auch wie einer benahm, war eine ganz schön schwere Sache.
 

Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Ein kleines Stück entlang der Mauer und fast am Haupttor, bog sie ab, nahm eine andere Richtung und ließ in kürzester Zeit die Kaserne hinter sich. Der Nachmittag näherte sich dem Abend. Die orange Sonne neigte sich dem westlichen Horizont zu und hinterließ ein farbiges Schauspiel am Himmel.
 

„Wo fahren wir jetzt hin?“, fragte Andre, obwohl er es bereits ahnte. Den Weg, den sie gerade nahmen, kannte er schon zur Genüge. Er wollte nur nicht, dass Oscar die ganze Zeit schweigsam war und ihren Grübeleien nachging.
 

„Zu den Tuilerien und dann zur Bastille.“ bestätigte sie ihm seine Vorahnung.
 

„Wie meistens“, seufze Andre. Er hätte gerne gewusst, was sie dort jedes Mal wollte, aber er hatte ihr halt ja versprochen, sie nicht mehr danach zu fragen und stattdessen zu warten, bis sie selbst mit einer Antwort zu ihm kam.
 

„Oscar, halte hier bitte an!“, bat die Stimme unruhig.
 

„Wieso?“ fragte Oscar gedanklich: „Was hast du auf einmal?“
 

„Diese Brücke... es war hier gewesen...“ Die Stimme in ihr wurde aufgebrachter.
 

Oscar spürte das genau und streckte ihren Kopf aus dem Türfenster. „Kutscher sofort anhalten!“
 

„Was ist, Oscar?“ Andre verstand ihre schnell wechselnden Launen nicht mehr. Gerade eben war sie ruhig und nachdenklich, aber jetzt wirkte sie urplötzlich aufgebracht.
 

Die Kutsche hielte am Ende der Brücke an und anstatt ihm zu antworten, machte Oscar die Tür auf und stieg erneut aus.
 

„Da ist eine Treppe... Sie führt zu einem Kanal unter der Brücke...“, sagte die Stimme zittrig und Oscar folgte ihr gebannt, ohne die Frage von Andre wahrzunehmen.
 

Langsam, als befürchte sie etwas Grauenvolles zu entdecken, stieg Oscar die Treppe hinab. Bei der letzten Stufe blieb sie stehen und sah in die dunkle, bogenförmige Unterführung der Brücke. Es war niemand da und trotzdem schauderte es ihr. Das dreckige Wasser, rauschte zu ihrer linken Seite und ihr Puls beschleunigte in dessen Takt. Mit der rechten Hand, berührte Oscar die kahle Wand und schloss die Augen. Sofort sah sie Bilder, die ihr die andere Oscar vermittelte:
 

Da hatte sich eine kleine Truppe Söldner in der Unterführung Zuflucht gesucht, zusammen mit ihrem Oberst. Sie selbst war dieser Oberst! Sie hatte sich mit ihnen auf die Seite des Volkes gestellt und alle wurden dafür von dem königlichen Regiment verfolgt. Nicht einmal die Hälfte hatte von ihnen überlebt. Sie entschieden sich, durch die königliche Reihen durchzubrechen, um die Tuilerien zu erreichen, wo sie sicher wären. Sie ging ihren Soldaten voraus, achtsam und auf alles gefasst. Eine feindliche Patrouille stand oben auf der Treppe. Oscar hatte den Mann entdeckt, zog schussbereit ihre Pistole - doch es war zu spät! Er hatte sie ebenfalls entdeckt und richtete sofort sein Gewehr auf sie. Zwei Schüsse schallten durch die Luft. Erst ihrer, dann der seine. Er hatte sie verfehlt, doch ihre Kugel traf ihn dagegen todsicher. Er fiel auf der Stelle um.
 

„Oberst!“, rief einer der Soldaten hinter ihr: „Er hat Andre erwischt!“
 

„Nein, bitte! Höre auf mir das zu zeigen!“, flehte Oscar innerlich ihr anderes Ich an: „Ich will nicht sehen, wie er stirbt!“
 

Die Bilder verschwanden. Oscar wollte ihre Augen öffnen, um zu sehen, dass es nur eine Einbildung gewesen war. Aber ihre Lider fühlten sich schwer an. Ihre Wimpern glänzten feucht und an ihren Wangen rannen stumme Tränen hinab. Sie sackte neben der Wand auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Warum tust du das?“, fragte sie erschüttert die Stimme: „Du quälst doch damit auch dich selbst!“
 

„Verzeih...“, sagte darauf die Stimme in ihr verbittert: „Ich kann nicht anders... es gibt einfach viele Orte, die mich an ihn erinnern...“
 

„Aber warum müssen es unbedingt solche Erinnerungen sein?“ Oscar war durcheinander. Schmerz und Bitterkeit zerrten an ihrem Herz. „Es gibt doch bestimmt auch schöne Erinnerungen mit ihm! Oder etwa nicht?“
 

„Ja, es gibt sie! Aber es sind so wenige...“
 

„Denke dann bitte an sie, anstatt immer nur an den Tod!“
 

„Ich werde es versuchen.“
 

„Danke.“ Oscar verharrte noch kniend auf dem Boden. Sie rief sich in Ordnung, wischte mit ihrem Handrücken die Tränen weg. Sie wollte aufstehen, aber es gelang ihr nicht. Ihre Beine fühlten sich weich an, knickten ein und ihr Körper war auf einmal schwach, wie ausgemergelt.
 

„Oscar! Was ist mit dir?“, hörte sie einen Schreckenslaut und hastige Schritte hinter ihrem Rücken.
 

„Es ist nichts...“, wollte sie sagen, aber der dicke Kloß in ihrem Hals, hinderte sie daran.
 

Andre war schon bei ihr und kniete besorgt vor ihr. Er fasste sie vorsichtig bei den Schultern, mehr wagte er nicht. Seine grüne Augen weiteten sich noch mehr, als sie ihn mit kummervollen und tränennassen Blick ansah. „Oscar! Du weinst ja! Was ist passiert?“
 

„Ich bin die Treppe gestürzt...“, log sie in ihrer Not. Sie versuchte mit aller Kraft, ihre aufgewühlten Empfindungen niederzuringen. „...hilfst du mir beim Aufstehen, Andre?“
 

Andre half ihr selbstverständlich auf die Beine zu kommen und erhob sich selbst mit ihr. Seine Hände fassten sie dabei bei den Oberarmen. „Was ist nur los mit dir?“ Sein Gesichtsausdruck grenzte an Verzweiflung. „Ich kann es einfach nicht glauben, dass du bei einem Treppensturz weinen würdest! Das passt nicht zu dir! Niemals!“
 

„Ach, Andre...“ Oscar sah ihn tief eindringlich an - selbst verzweifelt; ohne zu wissen, wie sie ihm das erklären sollte. Der Blick seiner grünen Augen durchbohrte sie bis in das tiefste Innere und fesselte sie. Ein warmes Gefühl stieg in ihr hoch, das sie selbst noch nicht kannte. Nein, sie kann es ihm nicht sagen. Nicht jetzt. Sie will ihm nicht noch mehr Sorgen bereiten. „Ach, Andre...“, wiederholte sie und lehnte sich ermattet gegen ihn. Ihr Körper schien ohne ihren Verstand gehandelt zu haben, auf eigene Faust und als wäre er von ihr unabhängig. Es passierte so plötzlich, dass Oscar selbst davon überrascht war. Dennoch entriss sie sich nicht von ihm. Es fühlte sich sehr angenehm an. Sie hörte seinem aufgeweckten Herzschlag zu. Andre lebte! Diese Gewissheit war unbeschreiblich schön. Sie schloss ihre Augen wieder und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.
 

Andre stand wie versteinert da, unfähig sich zu regen. Oscar hatte sich an ihn angelehnt! Ihre Körper berührten sich zwar nicht, aber dafür ruhte ihre Schläfe an seinem Brustkorb. Das genügte, um ihn völlig aus der Bahn zu werfen. Nie hätte er von Oscar solches erwartet! Sie kam ihm schwach und verloren vor. Das ganze Gegenteil, wie sie sich sonst eigentlich immer gab. Andre wagte nicht einmal laut zu atmen. Was sollte er denn tun? Er konnte sie doch nicht umarmen, obwohl ihm ganz danach war! Sie würde das gewiss missverstehen, ihn von sich stoßen und das wollte er nicht. Wie qualvoll es auch für sein Herz war, er würde nichts tun und solange reglos ausharren, bis sie sich selbst von ihm trennte.
 

„Andre?“, hörte er stattdessen leise ihre Stimme.
 

„Ja, Oscar?“, wenigstens Sprechen konnte er noch.
 

„Bleibst du für immer bei mir?“
 

Andre war wie vor den Kopf gestoßen. Wie meinte sie das? „Aber natürlich, Oscar! Wir sind doch Freunde“, äußerte er halblaut. Was sollte er ihr denn sonst sagen? Sie durfte nichts über seine wahren Gefühle erfahren! Sonst würde sie womöglich die Freundschaft zwischen ihnen kündigen.
 

„Ja, Andre, wir sind Freunde... Schon seit langem...“ Irgendwie verspürte Oscar Bedauern in sich aufkommen. Er sprach von Freundschaft, nicht von Liebe. Komisch: Sie hätte gerne gehört, was er wirklich für sie empfindet – auch, wenn sie selbst noch nicht für die Liebe bereit war. Dennoch wollte sie von ihm in die Arme genommen werden. Eine trostspendende Umarmung, würde ihr vollkommen genügen. „Andre?“
 

„Ja?“
 

„Würdest du mir einen Gefallen tun?“
 

„Jederzeit, Oscar.“
 

Oscar biss sich auf die Lippe. Sollte sie ihm ihren Wunsch sagen, oder lieber nicht? Er könnte das vielleicht falsch verstehen. Daher gestaltete sie ihre Wortwahl ganz anders als beabsichtigt: „Könntest du mich wie ein Freund in den Arm nehmen?“
 

„Natürlich.“ Andre wusste nicht, ob er sich freuen oder verzweifeln sollte. Sie wollte nur eine freundschaftliche Umarmung von ihm. Mehr empfand sie also nicht für ihn. Sein Herz schmerzte, aber das war auf jeden Fall besser, als abgewiesen zu werden. Sachte legte er seine Arme um sie. Er würde immer ihr Freund bleiben! Er schloss die Augen und streifte seine Wange kaum berührend an ihrem weichen Haar. Er sog den milden Duft in seine Lungen ein und versuchte ihn sich einzuprägen. Lautlos atmete er durch die Nase und genoss diese schmerzliche, aber dennoch so kostbare Zweisamkeit mit ihr.



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