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Night's End

Der Wiedergänger
von

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Das Massaker in Night’s End

In einer Talsenke, umgeben von Wäldern und Felsen, lag Night’s End. Das warme Sonnenlicht tauchte das idyllische Dorf in ein magisches Licht. Grüngolden schimmerten die Straßen. Die grauen Gebäude und gedrungenen Fachwerkhäuser wurden von Heckenrosen, Efeu und wildem Wein überwuchert und vom Wind bewegte Schattenflecken der Blätter in der Sonne, malten zauberhafte Bilder auf Wände und in die farbigen Glasfenster.

Der große, alte Findling, den man das Felsenkind nannte, thronte im Zentrum des Ortes. Ob der vielen Gäste, hatten die Bewohner den Granitblock mit Blütenketten und Bändern geschmückt, als sei der alte Stein ein lebendes Geschöpf. Einige Händlerkarren standen auf dem kleinen Marktplatz und Bäuerinnen und Mägde boten Obst, Gemüse, Korn, Eier und Fleisch an. Ein Mädchen schritt, einen ausladenden Korb mit kleinen Blumengebinden am Arm, durch die breiten Straßen und bot ihre Ware an.

Durch die vielen Fremden, die aus der Höhle geretteten Händler und Edelleute, hielt sich der Markt wesentlich länger als an anderen Tagen. Die Männer und Frauen, die Orpheu nach Night’s End gefolgt waren, tauschten mit den Bauern und Händlern hier ihre Sachen, erstanden neue Kleidung, frische Nahrung, Bier, Wein und Milch.

Das Gasthaus und alle umliegenden Gebäude waren mehr als ausgebucht. Die kleinen Höfe um Night’s End und selbst die Holzfällersiedlung eine knappe Meile südwestlich des Dorfes profitierten von den ganzen unerwarteten Gästen.

Auf ihrem Weg von dem Bach bis in den Ort bekamen Ayco und Luca einen klaren Eindruck davon.

Allerdings wollte der Elf nicht direkt in die Stadt. Er suchte sich einen Platz unter den Bäumen, im Schatten, ein wenig höher gelegen, sodass sie einen schönen Blick in die Ortschaft hatten, ohne selbst gesehen zu werden. Luca allerdings war so umsichtig seinen Wasserschlauch zuvor noch zu füllen, bevor sie sich nieder ließen, denn zum einen war es heiß und sie würden schnell Durst bekommen und zum anderen, wenn Ayco erzählte, würde sich sein Hals sicher bald rau und trocken anfühlen.

Tambren hatte seinen ersten Hunger mit frischen Walderdbeeren und Brombeeren gestillt. Unterwegs fütterte Ayco Luca, nicht ganz gegen den Willen des Magiers, der seit langem nichts richtiges, oder gar frisches mehr zu sich genommen hatte, mit Beeren. Für die Dauer des kurzen Marsches, war Ayco wirklich mehr Kind als Mann, fröhlich und ausgelassen, als habe er vollkommen vergessen, worüber sie zuvor noch gesprochen hatten.

Aber auf die Frage hin, warum der Elf nicht mit nach Night’s End kommen wolle, antwortete er ernst: „Das ist nicht mehr der Ort meiner Kindheit.“

Luca wollte nicht indiskret sein und vorzeitig weiter in ihn dringen als notwendig. Er beließ es bei der Antwort und wartete geduldig ab, bis Ayco seinerseits die Initiative ergriff. Allerdings nutzte der Elf augenscheinlich alle Möglichkeiten die Erzählung etwas aufzuschieben.

Den Magier beschlich dabei ein eigenartiges Gefühl, bedrückend, als wolle auch seine Erinnerung etwas hervorzaubern, an das er sich weder erinnern wollte, noch was in seiner für ihn erreichbaren Nähe lag.

Tambren, der sich wieder seinen Platz auf Lucas Schulter erobert hatte, suchte den Blickkontakt zu seinem Herren.

‚Da ist etwas, an das ich mich erinnern muss, nicht war, kleiner Freund?’ fragte Luca wortlos.

‚Wenn du es nicht weißt, Luca, kann ich –dir nur bedingt helfen’, entgegnete Tambren. ‚Es muss schon etwas da sein, was mir einen Hinweis liefert. Deine Erinnerungen zu durchforsten wäre schlecht. Das magst Du nicht, und zum anderen ist darüber ein Siegel gelegt worden, dass nur Ihad wieder aufheben kann, oder dass Du von dir aus Stück um Stück durchbrechen musst.’

Luca konnte gerade noch ein tiefes Seufzen unterdrücken, bevor er Ayco allzu deutlich machte, dass er gerade selbst über diesen Ort nachdachte. Night’s End kannte er gut von seinen ganzen Wanderschaften. Oft hatte er sich hier aufgehalten und kannte viele Leute persönlich, war ein beliebter und gerne gesehener Gast, schon weil er hilfsbereit, spendabel und freundlich war. Aber es gab auch einen Ort, um den er immer einen Bogen gemacht hatte. Das Haus und den Hof des momentanen Schmiedes. Er kannte den Mann und seine Familie, mochte sie alle sehr, kannte das Haus, aber genau das war auch der Punkt. Dieses Haus. Einmal hatte er darin genächtigt und fand keine Ruhe. Es waren die Stimmen der Toten, die in seinen Träumen und im Wachen mit ihm sprachen und ihn zu sich reißen wollten. Es war, als habe er eine Nacht auf einem ungeweihten Friedhof verbracht. Er träumte davon das Massaker vor 100 Jahren erlebt und Seite an Seite mit den Siedlern gekämpft zu haben. Allerdings träumte er auch von dem Tot all derer, die um ihn waren und seinen eigenen, der ungleich brutaler war.

Sein einziger Lichtblick in dieser Nacht war die Tochter des Schmiedes, das kleine Mädchen, was sich so zu ihm hingezogen fühlte. Sie hatte sich zu ihm gelegt, seine Tränen getrocknet und ihm von ihren Träumen erzählt. Luca war es damals, als habe er in dem Kind eine kleine Schwester gefunden zu haben. Seither teilten sie beide ihre Geheimnisse und ihr Wissen. Luca lehrte sie, immer wenn er seinen Weg durch Night’s End fand, Lesen und Schreiben, Magie und Astronomie, und sie schenkte ihm dafür ihre Aufmerksamkeit und ihre tiefe, kindliche Liebe.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, gab es wenig schlimmes, was er gegenwärtig mit Night’s End verband.

Sein Blick glitt über die Holz und Reisig gedeckten Dächer des Ortes und verfolgte versonnen einige Sekunden lang das Blumenmädchen in ihrem blauen Kleid. Alles hier war friedlich. Die Zeit hatte dieses kleine Dorf vergessen und Night’s End ignorierte die Kriege, die um den Ort herum stattfanden.

„Dort unten“, Ayco deutete zu dem kleinen Marktplatz, „habe ich damals gelebt.“

Luca folgte ihm mit den Blicken bis zu der Schmiede, aus der dichter Rauch aufstieg. Ein Schauer durchlief seinen Körper. Er musste nicht fragen, um sicher zu gehen, dass das der Ort war, an dem Lea und ihre Mutter starben. Es war klar. Das Warum zu dieser Sicherheit, konnte er nicht begründen. Es war eine unumstößliche Tatsache. Allerdings kam sein plötzliches frösteln auch von einer anderen Person, die nun hier war; richtiger von Lea. Ihre Präsenz war stark, stärker als sonst und geprägt durch eine Vielzahl von Gefühlen. Durch Tambren, der alles, was dieses zierliche, kleine Geistermädchen empfand, empfing er ihr Bewusstsein ungefiltert. Angst, Wut und Hass, ein so tief sitzender Hass, dominierten sie. Diese Gefühle waren durchaus nicht ungerichtet. Luca sah Tam in die Augen. Beide hatten das Bild Trehearns vor Augen. Dieses Kind hasste seinen Vater auf eine Weise, die unbeschreiblich war. Ayco glaubte ihn zu hassen, klammerte sich aber an dem Glauben an das alte Bild seines Vaters fest. Luca fand aber in Lea nichts als zerstörende, bodenlose Rache.

‚Das ist nicht gut, Luca. Sie nutzt ihren Bruder als Werkzeug ihrer Gefühle’, warnte Tambren. ‚Sie ist kein niedliches, kleines Kind, was ihren Bruder nicht allein lassen wollte. Sie ist eine dunkle Seele, die nur noch hasst.’

Luca nickte still.

Er konnte Lea aus dem Augenwinkel sehen. Ihre Züge waren maskenhaft erstarrt. Die Augen loderten allerdings. Ihre Hände hatten sich zu Fäusten geballt und schwarze Nebel stiegen aus ihren silbrigen Haaren auf.

Ayco beachtete sie nicht.

„Dort sind Lea und ich aufgewachsen, Luca.“

Er lächelte versonnen. „Unsere Mutter war die Priesterin des Dorfes. Eine Feuerpriesterin.“ Langsam senkte er die Lider und rief sich Night’s End in Erinnerung wie es einst einmal war. Luca durchzuckten mehrere Bilder des Ortes. Er nahm durch Tam die Gedanken und Erinnerungen der Geschwister, wohl richtiger Zwillinge, wahr. Aycos Vorstellung des alten Night’s End war friedlich. Die Ansammlung kleiner Holzhütten und ausgebauten Zelte um den Marktplatz und den Findling mutete an, als sei der Ort gerade erst entstanden, frisch aufgebaut, um einigen Siedlern ein Heim zu geben. Frauen hatten Leinen zwischen den Häusern gespannt und Holzgestelle gebaut, um ihre Wäsche zu trocknen und zu bleichen. Hühner, Ziegen und Schafe liefen frei herum und die ungepflasterten Wege waren noch nichts außer Trampelpfaden. Zwischen den hohen Bäumen, den Fichten, Erlen, Zypressen, Eichen und Buchen, spielten Kinder, Menschen vorwiegend, aber auch Elfen, Orcs, Trolle, Zwerge und Seraphin. Es hatte etwas so archaisches, einfaches, aber auch liebenswert schönes, dass Luca sich am liebsten in diesen Vorstellungen verloren hätte.

Leas Vorstellung des Ortes war optisch vergleichbar, aber durchwoben von Bildern einer steinernen Kirche, in der sie betete und zu warten schien. Ihr Dasein schien bestimmt durch Lernen, Arbeit und Hoffen. Aber tief in ihrem Unterbewusstsein traten fragmentarisch winzige Splitter von spielenden Kindern zu Tage, einem lachenden Knaben, der seine Zwillingsschwester neckte, einem schwarz geflügelten Bündel in weißen Windeln, was einfach nicht begriff, dass zwischen ihm und der Freiheit eine Glasscheibe war und immer wieder mit dem Kopf dagegen flog, bis es weinend aufgab, einer Wasserschlacht zwischen einigen der Dorfkinder, einem geheimen Treffen, wobei sie offenbar beschlossen, den Wirt und seine Frau zu ärgern und dem tiefen Hass auf einen Jungen, der ihr weder Liebe noch Aufmerksamkeit schenkte, sondern sich ausschließlich auf ihren Bruder konzentrierte und sie nur als Freundin ansah.

Luca begriff, dass Lea damals verliebt gewesen sein musste, ihre Liebe aber so wenig erlangt haben dürfte, wie die meisten Seraphin.

Er sah das Geistermädchen an, mitleidig und sanft. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.

Tambren schob sich unter Lucas Zopf auf die andere Schulter, verfehlte seinen großen Freund allerdings und konnte sich gerade noch in den Haaren festklammern, bevor er abstürzte. Irgendetwas schien ihn nervös zu machen, aber den Gedankengang verlor Luca in dem Moment, in dem der Drachling um sein Gleichgewicht kämpfte. Behutsam half der Magier seinem Freund. Gleichzeitig erzählte Ayco, der in seinen Erinnerungen schwelgte, weiter.

Die Verbindung zu Lea riss ab.

„Lea und ich sind hier, in Night’s End geboren worden. Leider hatten wir selten etwas von unserem Vater. Er kam nur manchmal und dann auch nur für wenige Wochen zu uns. Sein Heer hatte hier ebenfalls die meisten Frauen und Kinder sitzen. Das Dorf war besiedelt von alten Männern und Frauen, Kindern und Müttern. Aber es war schön hier und friedlich. Einige der Krieger hatten sich auch zur Ruhe gesetzt und gingen handwerklichen Berufen nach. Schmiede, Korbflechter, Zimmerleute und Maurer hatten wir hier, aber auch Frauen, die das Handwerk des Brauers übernahmen, Bäuerinnen, eine Gerberin und mehrere Wirte. Es gab wenig, was sich hier nicht fand. Night’s End war ein vollkommen autarkes Dorf. Männer und Frauen arbeiteten miteinander und füreinander. Die Alten lehrten die Jungen und der Pakt mit dem hiesigen Landadeligen, dem Magier I’Eneel besagte, dass das Dorf ihm Waren als Pacht für das Land lieferte und er sie dafür magisch beschützte. Ich erinnere mich sogar noch sehr genau, dass Kyle diesen Packt mehrfach mit dem alten Halbelfen nachverhandelte.“ Versonnen lächelte Ayco. „Der alte Zausel, oben im Herrenhaus, war ein sehr trockener und eigenwilliger Mann. Manchmal glaubte ich, die Zeit habe ihn vergessen...“

Luca hatte einen kurzen Eindruck eines älteren, vornehmen Mannes mit edlen Zügen und langen, leicht gewellten Haaren. Ein sauber gestutzter Bart umrahmte seine Lippen und tiefe Linien gruben sich in seine bleiche Haut. Er hatte leuchtende, helle Augen, klar, kalt und schön. Aber darin fand sich wenig Wärme und noch weniger Mitgefühl. Lange, schlanke Elfenhände hielten den Griff einer Peitsche. Er umklammerte sie so fest, dass seine Knöchel weiß hervor traten. In dem Griff der Silberdraht umwobenen Waffe war eine einzelne Rose eingelassen. Die Blütenblätter waren Rubinsplitter. Der erste Schlag traf. Luca spürte den sengenden Kuss auf seiner Brust. Der zweite Schlag allerdings prallte an der eisernen Rüstung eines Mannes mit dem gleichen Silberhaar ab, das Ayco hatte. Ohne es zu merken, hatte Luca den Griff seines Dolches umklammert. Die Rubinrose schnitt ihm leicht in die Handfläche. Die Finger seiner Linken lagen auf der Brust, dort wo er immer noch den sengenden Schmerz der Peitsche fühlte. Er spürte den Blick Leas auf sich. Als er zu ihr blickte, fragend, verwirrt, fand er tiefen Schrecken in ihren Augen.

Langsam sah er zu Ayco. Aber der Elf hatte davon nichts bemerkt. Er saß ruhig da und lächelte, die Lider geschlossen und versunken in mehr oder weniger schönen Erinnerungen versunken.

„I’Eneel war mein erster Lehrmeister in der Zauberkunst. Er war ein fürchterlich langweiliger Mann mit einer so monotonen Stimme, dass ich oft in seinem Arbeitszimmer eingeschlafen bin. In der Zeit hatte ich mehr blaue Flecken vom nicht aufpassen, als Kopfschmerzen vom Lernen, Luca.“

Er öffnete unvermittelt die Augen und Luca bekam gerade in letzter Sekunde seine Mimik wieder so weit unter Kontrolle, dass Ayco ihm nicht zu deutlich ansah, was er gerade mit seinen Worten anrichtete. Der Magier wollte seinen Liebsten nicht noch weiter in Zweifel und die gleiche Verwirrung zu stürzen, in der er sich gerade befand.

Mit jedem Wort, was Ayco nutzte um seine Vergangenheit bildlich zu machen, erwachten Spiegelscherben eines Lebens, das Luca ganz sicher nicht geführt haben konnte, zumindest nicht als der Mann, der er nun war. All das wovon Ayco erzählte, geschah vor etwa 100 Jahren. Soweit Luca sich erinnern konnte, war er ein neunundzwanzig jähriger Mann, der zwar kein schönes Leben geführt hatte, aber zumindest eines woran er sich weitestgehend zu erinnern vermeinte. Aber vielleicht hatte Ihad ihm zu viel seiner Erinnerung versiegelt? War er doch älter? Für die wenigen Sommer, die er lebte, konnte er eindeutig zu viel - wusste zu viel. Dennoch gab es gemeinsame Erinnerungen von Aycolén und ihm aus seiner Kindheit und Jugend, unumstößliche Tatsachen, die sein Leben mit schweren Schicksalsschlägen als Eckpunkte in der Geschichte Valvermonts sogar fixierten.

In Lucas Hals bildete sich etwas, dass ihm die Luft abschnürte und ihn schwindeln ließ. Für Sekunden wurde ihm so schlecht, dass schwarze Lichtblitze seine Sicht zerrissen. Der Boden neigte sich leicht unter ihm. In diesen Sekunden verwischten seine Gedanken vollkommen und er fand ein wenig Ruhe in der nahen Ohnmacht.

Erst als sich seine Gedanken wieder klärten vernahm er Aycos Stimme, die sich mit dem lautlosen Flüstern Tams vermischte.

„Ist alles in Ordnung, Luca? Das alles war zu viel für dich, oder?“, fragte der Elf besorgt.

‚Kyle und Ihad sind dir einige Antworten schuldig, Luca’, bemerkte Tam zeitgleich und mit tiefer Sorge aber auch unbändiger Neugier. ‚Du stößt gerade auf ein Paradoxon, dass du kennen müsstest, aber was dir fremd ist. Luca, mein Freund, das ist wichtig. Versuche alles daran zu setzen diese Bruchstücke zusammenzusetzen.’

Luca schluckte hart, setzte den Wasserschlauch an die Lippen und verschüttete die Hälfte fahrig. Tambren schimpfte sofort, als das Wasser ihn und den Stoff des Hemdes benetzte. „Gebadet habe ich schon, du Dummkopf!“

Der Magier schloss die Augen und atmete tief durch, gleichzeitig reichte er Ayco den Wasserschlauch. „Verzeih, Liebster“, flüsterte er. „Die Beeren und das Wasser vertragen sich offensichtlich nicht gut.“

Ayco nahm die Ausrede hin und Luca war insgeheim sehr dankbar, dass der Elf nichts davon wusste, wie robust sein Magen wirklich war.

„Geht es wirklich?“, harkte Ayco vorsichtshalber noch einmal nach. Sanft strich er mit seinen kühlen Fingern über Lucas Stirn. Der Magier nahm diese Berührung als ungemein wohltuend wahr. Langsam entspannte er sich wirklich wieder.

„Erzähle ruhig, mein Liebster.“

„Ich hatte damals einen Freund, den konnte I’Eneel nicht ausstehen. Er sah dir unheimlich ähnlich, war auch ein Zauberlehrling, wie ich und...“ Ayco verstummte.

Luca wendete den Kopf und sah den jungen Mann fragend an. In Aycos Blick spiegelte sich Unsicherheit und starke Verwirrung. Er schüttelte seinen schönen Kopf und rieb sich die Schläfen.

„Und?“, fragte Luca sanft nach, während er Aycos Arm berührte.

„Mir war sein Name entfallen“, murmelte der Elf tonlos.

„Wie hieß er?“, fragte Luca, obwohl er die Antwort kannte.

Der Elf richtete sich auf Knie und Hände auf, um näher zu seinem Freund zu kommen. Der Magier saß entspannt mit ausgestreckten, aber übereinandergeschlagenen Beinen gegen einen Baum gelehnt, Tam auf der Schulter und Lea neben sich. Ayco setzte sich auf Lucas Oberschenkel, ergriff mit beiden Händen Lucas Gesicht und betrachtete ihn lange. Vorsichtig strichen seine Fingerspitzen über die Wangen des Magiers. Luca hatte das Gefühl sein Geliebter wolle mit seinen Händen jedes Detail seiner Mimik und seines Aussehens einfangen.

„Luca“, beantwortete der Magier leise seine eigene Frage. „Das ist doch der Name, den dein Freund hatte, oder?“

In der Stimme des Magiers lag eine unheimliche Ruhe, dieselbe wie schon vor einigen Stunden.

Es war eine unumstößliche Tatsache, der weder er noch Ayco entgehen konnten. Der Magier hatte schon einmal gelebt und er war sich sehr sicher, dass er bei dem Untergang von Night’s End umgebracht worden war.

Aycoléns Körper bebte. Seine weit aufgerissenen Augen sagten Luca zu deutlich, dass er diese Erkenntnis nicht ganz so einfach verkraftete, und schon gar nicht Lucas Emotionslosigkeit verstand.

Luca lächelte still, schloss Ayco in seine Arme und vergrub seinen Kopf in den weichen, weißen Haaren.

„Wenn das, woran du dich erinnerst so wahr ist wie die winzigen Fragmente meiner Erinnerung, so habe ich in einer sehr ähnlichen Gestalt mit der gleichen Persönlichkeit schon einmal gelebt, Ayco“, flüsterte Luca.

„Aber wie kannst du dabei so ruhig bleiben?!“, rief der Elf entsetzt.

„Wenn ich die Nerven verliere, weil ich etwas nicht verstehe, oder im Heer meine Souveränität einbüße, worauf können sich dann die Männer und Frauen, die mir anvertraut sind, überhaupt noch verlassen?“, fragte Luca ihn. In seiner Stimme schwang so viel Sanftmut mit, dass Ayco mit ähnlicher Ruhe darauf reagierte.

„Alles, was ich nicht verstehe, was unerklärt bleibt, verdränge ich nicht sondern bewahre meine Fragen auf, bis ich sie stellen kann oder schlicht die passenden Fragmente habe um ein Bild daraus zu erschaffen, was meiner Logik folgt.“

Ayco atmete tief durch und richtete sich in Lucas Armen auf. „Du bist wirklich nicht mehr der Hilfsbedürftige Junge von damals. Weißt du wie schlecht und schwach ich mir nun vorkomme?“

Luca legte ihm seine Fingerspitzen über die Lippen und genoss für wenige Sekunden das seidige weiche Gefühl und den warmen Atem.

„Ayco, lass uns gemeinsam herausfinden, was damals hier passierte, wieso du die Erinnerungen an mich verdrängt hattest und ich als die selbe Person wiedergeboren wurde, mit dem gleichen Namen und dem selben Ansinnen Magier zu werden.“

Ayco nickte deutlich gezwungener. „In Ordnung. Ich erzähle dir, woran ich mich erinnere.“ Sein Kopf hob sich. Allerdings blieb er Luca so nah und setzte sich nun ganz auf den Schoß seines Freundes. Behände sprang Tambren von Lucas Schulter zu Ayco und rollte sich in dem Arm des jungen Mannes ein. Luca ahnte, warum der Drachling das tat. So war die mentale Verbindung zu dem Elf stärker und einfacher aufrecht zu erhalten.

Liebevoll kraulte Luca Aycos Nacken mit einer Hand, während er die Finger der anderen in die des Elfs verschlang.

„Erzähl, mein geliebter Engel“, flüsterte er.
 

Aycos Worte malten in Lucas Phantasie nur zu deutlich Bilder, schon weil er Kyle, Aycos Vater bestens kannte und sich zu erinnern glaubte, dass der Ritter auch damals seine Hände nicht bei sich behalten hatte, als er Luca kennen lernte. Aber er war immer Freund und Schutzschild für seine Kinder und den jungen aus Valvermont gewesen, Begleiter und Spielgefährte. Er sah sich mit Ayco als gleich altes Kind durch die Wälder toben, in Bächen baden und I’Eneel ärgern. Ayco, Lea und Luca waren einst Freunde, Kinder, wovon nur eines zu einem jungen Erwachsenen wurde. Luca fehlten Monate, teils Jahre, in denen er nicht bei seinen Freunden war, aber in jedem Fall fanden die drei immer wieder zueinander. Nur ereiferte sich I’Eneel immer stärker darüber und wollte besonders die beiden Jungen voneinander trennen. Ayco lernte mehr von Luca, dessen Leben scheinbar in einem Zauberorden begann und der, mit Ausnahme der Zeit hier in Night’s End nie an einem anderen Ort gelebt hatte, als von I’Eneel.

Zu Anfang duldete I’Eneel die Freundschaft, doch später, als sie intensiver wurde und auch – bestimmt durch das Seraph-Blut – enger und liebevoller, unternahm er alles, um Luca von Ayco fern zu halten.

Der letzte Tag von Night’s End, verwischte scheinbar in Aycos Erinnerungen zu Nebeln, die er nicht mehr durchdringen konnte, vielleicht auch weil seine Seele sich vor dem, was geschehen war, zu schützen versuchte.

Aber einige Details hatte er nicht vergessen. Luca hört stumm seiner Beschreibung zu.

„I’Eneel hatte mich in das Herrenhaus eingesperrt, damit ich nicht in das Dorf laufen konnte. Vermutlich hatte er bereits anhand seiner Magie gewusst, was passieren würde, denn er machte sich auf den Weg dort hin, um seinem Packt nachzukommen.“ Aycos Stimme bebte. „Er konnte mich nicht halten. Im Gegensatz zu ihm kannte ich jeden Schlupfwinkel des Hauses und auch den Dachausstieg. Er hatte wohl auf meine Angst zu fliegen gebaut. Insofern hatte er sogar recht, denn ich war zu feige, als ich oben auf dem Boden stand und hinab sah.“ Wütend schlug Ayco seine Faust gegen den Baum. „Verdammt. Wäre ich nicht so feige gewesen...“

„Wärest du jetzt tot!“, fuhr ihn Tambren, der bisher geschwiegen hatte, ärgerlich an. „Vielleicht hat der alte Mann so dein Leben bewahrt!“

„Aber ich hätte an der Stelle sein sollen, wo Lea und meine Mutter starben!“ Aycos Stimme überschlug sich. Luca verstand die Anspannung des Jungen, seine Gewissensbisse und den tiefen Gram darüber zu gut. Sein Blick glitt zu Lea, deren materielose Kiefer aufeinander mahlten. Die Augen des Geistermädchens verloren sich in der Entfernung, an dem Ort, wo sie einst starb.

Die Genugtuung über Aycos Schmerz allerdings war ihr anzusehen.

Luca schloss kurz die Augen. ‚Tam, bitte sage ihr, dass diese Niedertracht und dieser Neid auf ihren lebenden Zwilling so ungerecht ist. Ayco hat mehr gelitten als ihr Todeskampf hätte dauern können. Hundert Jahre Schmerz und Schuld auf seiner Seele, Einsamkeit und das Gefühl alles verloren zu haben, was ihm - einem Kind damals noch – die Kraft zum Leben gab, sind mehr als ein qualvoller tot.’

Lucas Verbindung wurde stärker zu Tambren und er nahm die Emotionen des kleinen Drachen sehr klar auf. Er fühlte die Überlagerung, das Erschauern Tams bei den tiefen, erregten Gefühlen Lucas und den Zorn auf Lea. Sogar die Übermittlung seiner Nachricht bekam er mit, schmerzhaft präzise.

Lea löste sich aus ihrer Starre. ‚Kyle war es! Er hat die Vernichtung begründet!’, donnerte sie. Blanker Hass verzerrte ihr schönes Gesicht zu einer grauenhaften Maske. ‚Er wollte nichts anderes als Dich! Und du weißt wieso. Ihr seid Seraphin, und er hat in dir sofort erkannt was du bist und wie wertvoll du für ihn bist. Darum hat er Mutter und mich verraten und hasst Ayco bis auf das Blut!’

Luca war sich sicher, dass Ayco genau mitbekommen hatte, was sie sagte, denn der Elf starrte sie verwirrt an. „Was meinst du damit, Lea?“, fragte er. Allerdings bevor sie eine Antwort geben konnte, fasste sich der Elf. Etwas in seiner Stimme änderte sich. Wut durchwob seine Worte.

„Du wusstest die ganze Zeit, dass Luca damals schon bei uns war?!“

Lea fuhr zusammen und sah ihn aus großen, runden Augen an. Sie hatte sich verraten in ihrem Hass.

„Was hast du mir sonst noch alles verschwiegen?!“, zischte der Elf. Seine Fäuste ballten sich. Es schien Luca, als würde eine Form von Nebel, die Aycos Sicht der Dinge stark beeinflusst hatten, weggeweht werden. Das Vertrauen in Lea bröckelte augenscheinlich und der Elf rammte seine Faust mit einer Gewalt in die Rinde des Baumes, dicht neben Lucas Kopf, dass seine Knochen knirschten und seine Knöchel aufplatzten. Luca zuckte nicht zusammen. Ruhig saß er da und hielt den Elf fest. Aber in seinem Augenwinkel bemerkte er, wie Lea zurück wich.

‚Glaubst du, ich habe dich belogen?!’, verteidigte sie sich etwas hilflos.

„Oh ja, Lea, das glaube ich, du kleines Biest. Du musst mich wohl sehr hassen, dass du mich so narrst!“

Das Mädchen fuhr herum und floh in den Wald.

Luca konnte sie so gut wie ihn verstehen. Paradoxer weise tat ihm Lea sogar leid.

„Ayco“, flüsterte Luca, zog seinen Freund gegen seine Brust und barg den Kopf des Elfs in seinen Armen. Ayco, sprich weiter. Vielleicht klärt sich dann mehr für dich. Vielleicht siehst du ein, dass der Mann, den sie beschuldigt, keine Schuld trägt.“

„Ich habe ihn in den Flammen des brennenden Dorfes gesehen. Inmitten all des Blutes und der Leichen stand er, den zerfetzten Leib meiner Mutter in den Armen.“

Die Stimme des Elfs versagte ihren Dienst und wurde von einem kläglichen Schluchzen verschluckt.

„Lea hat dir gesagt, dass sie durch die Hand eures Vaters starb, nicht wahr?“, fragte Luca behutsam, während er Ayco streichelte und seinen Nacken kraulte.

Der Junge war nicht mehr in der Lage zu antworten, aber er nickte schwach.

„Sage mir einen Grund warum Kyle diesen Ort vernichten sollte? Das ist der Platz, an dem er seine Familie in Sicherheit glaubte. Viel eher bin ich der Auffassung, dass er zu spät kam, und nur noch die Toten vorfand. Das ist, was er mir sagte...“

„Was...“, Aycos Stimme erstarb kurz in einem erstickten Atemzug. „Was macht dich so sicher bei Kyle...? Was hast du mit ihm zu tun?“

Für einen winzigen Moment rang Luca mit sich. Er war sich ganz und gar nicht sicher, ob der Elf diese Wahrheit nicht als Betrug an seiner Liebe und seinem Vertrauen auslegte. Aber er konnte Ayco nicht belügen.

„Kyle Trehearn und ich stammen von demselben Seraphin ab. Wir sind Brüder, Ayco.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Anfang 2015 erscheint im Incubus-Verlag ein weiterer Roman der in Äos (der Welt von Night's End) spielt.

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