Die Welt steht still
Kapitel 6
Die Welt steht still
Sag mir, worauf wartest du denn noch?
Was hält dich so lange auf?
Wenn das alles ist, dann sag es jetzt!
Streiche dich aus meinem Lebenslauf
Die Welt steht still
Zwischen uns
Mach die Augen wieder auf
Atme langsam wieder aus
Die Welt steht still
(Die Welt steht still - Revolverheld)
»Hey, schwule Sau!«, rief er und die zwei Jungs, die mit ihm auf der anderen Seite der Straße liefen, gackerten.
»Besorgt er's dir innen Arsch?«
Wochen, Monate. Das Gerücht hatte sich verbreitet wie Öl im Wasser. Oberflächlich, aber gut sichtbar haftete es mir an. Mir war es egal. Anfangs. Ich hörte weg, denn ich wusste, dass die es nicht wert waren. Ich redete mir ein, dass es unwichtig war, dass mir die Worte nichts bedeuteten, weil die Typen mir am Arsch vorbei gingen. Aber es tat weh.
In den schwachen Momenten, wenn es am Abend ganz ruhig war, dann hörte ich manchmal ihre höhnischen Stimmen, sah die provozierenden Gesten. Wut stauchte sich dann in meinem Magen und in meinen Fäusten zusammen.
»Guckt mal, wer da wieder ist! Die Schwuchtel!«
Wochen, Monate, in denen ich weg hörte. Doch ich vernahm ihr Gelächter und die Blicke. An diesem Tag – es war eigentlich gar kein besonderer – brannte es in mir durch. Ich schritt nicht ruhig weiter und ließ sie hinter mir. Ich wandte mich um, lief auf sie zu und rammte ihm meine Faust ins Gesicht. Erst herrschte Stille, keiner bewegte sich. Die Welt stand still. Nur mein schwerer Atem, als wäre ich kilometerweit gerannt. Dann sah ich ihre Gesichter. Die Überraschung, der Schock wich Wut. Solche, die sich auf meinen Magen, meine Rippen und mein Gesicht entließ. Schmerz brannte sich durch meinen Körper. Abscheu und Ekel presste meine Lungen zusammen und zwang mich immer weiter zu schlagen, zu treten, zu kämpfen. Selbst als ich vor Schmerz wimmerte, meine Finger nicht mehr spürte und vor Dreck und Tränen nichts mehr sehen konnte.
»Willst du ihn umbringen?«, rief jemand. Aber dann riss mein Gedankengang und ich verlor jedes Zeitgefühl, lag auf dem Gehweg, das Bild vor meinen Augen drehte sich, dann verblassten die Farben und ich schwebte in der Dunkelheit.
Zuerst nahm ich ein Piepen wahr. Dann spürte ich etwas an meinen Fingern und zuckte mit meiner Hand instinktiv zurück.
»Oh«, machte jemand, »du bist wach.«
Tagelang saß er immer wieder an meinem Bett. Manchmal sah er mich an, als wollte er etwas sagen. Aber er tat es nicht. Und ich tat so, als würde ich es nicht bemerken. Vielleicht weil ich mich davor fürchtete, was er sich nicht traute, mir zu sagen. Und so flüchteten wir uns in Oberflächlichkeiten und Smalltalk.
»Vielleicht sollten wir –«, begann ich eines Abends und er sah mich an, als fürchtete er sich. Dieser Blick, den ich noch nie bei ihm wahrgenommen hatte, erschreckte mich und ließ mich verstummen.
»Wir sollten das Ganze endlich beenden«, kam er meinen Worten zuvor. Worte, die ihm versichern sollten, dass ich ihn niemals im Stich lassen würde, Worte, die vorschlagen wollten, diese Idioten anzuzeigen.
»Ja, auf jeden Fall«, stimmte ich ihm zu, glaubte, dass wir dasselbe darunter verstanden. »Wir könnten sie –«
»Wir haben es versucht, aber«, behauptete er, »sie haben gewonnen.«
Liebe ist Liebe. Aber manchmal gibt man sie auf, weil es so besser scheint.
»Nein, haben sie nicht«, widersprach ich heftig. Alles in mir rumorte und strampelte, wie Tritte in meine Eingeweide oder wie die Schläge der Jungen – nur noch schmerzhafter. Er schritt aufgebracht hin und her, fuchtelte mit seinen Händen und öffnete den Mund, nur um ihn wieder wortlos zu schließen. Dann blieb er vor meinem Bett stehen und fixierte mich. Es sah so aus, als müsste er sich dazu zwingen.
»Sie dich an!«, flüsterte er und als hätten diese Worte endlich den Bann gebrochen, schrie er: „SIEH DICH AN!“
Ich sah ihn an. Die Worte hallten in meinen Ohren. Ich wusste, wie ich aussah. Meine Nase gebrochen. Das linke Auge blutunterlaufen, das Weiß des rechten rötlich verfärbt. Mein Arm war gebrochen, ein Knöchel gestaucht. Mein Bauch übersät mit Blutergüssen. Aber nichts davon war ein Vergleich zu den Worten, die er dann zu mir sprach und seiner gebrochenen Stimme.
»Mein Vater hatte Recht.«
Es war als würde er mich in den Bauch treten.
»Was? Mit was?«
»Es würde mir irgendwann noch leid tun.«
Er machte eine ausholende Geste, sah mich an, strich mir mit seinen Fingern über den Handrücken und flüsterte: »Werd gesund und denk nicht mehr an mich.«
Mein Innerstes gefror. Alles in mir knirschte wie Eis. Ich wollte ihm widersprechen, ihn zurechtweisen, aber ich war betäubt und sah ihn stumm an. Wortlos wandte er sich um und ging. Als sich die Tür schloss, stand die Welt still und ich zerbrach mit jedem seiner Worte.
Liebe ist Liebe. Aber manchmal geht sie.