Zum Inhalt der Seite

Behind the Wall

Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kaum mehr als ein zweifelhafter Moment

Kapitel 25 Kaum mehr als ein zweifelhafter Moment
 

In der Annahme, meinen Kindheitsfreund zu erblicken, öffne ich schwungvoll die Tür. Doch es ist nicht Richards warmes Braun, welches mir entgegensieht, sondern es sind die mattblauen Augen des alternden Detectives. Ich merke, wie meine Atmung einen Augenblick lang aussetzt, wie sich die Härchen in meinem Nacken sträuben und das überraschende Kitzeln seinen Weg über meine Arme nimmt, bis es in meiner Brust mündet. Ein weiterer beschämter Schauer ergießt sich über mich bei dem Gedanken daran, dass Detective Moore eben auf der Treppe Richard begegnet sein könnte. Vielleicht auch nur flüchtig. Von Richard unbemerkt. Vermutlich weiß Moore ganz genau, wie er ungesehen bleibt.

„De Faro.“ Er formuliert meinen Namen mit einem noch herberen Tonfall als sonst. Ich sehe, wie er mich mustert und wie ihm der Mangel an Kleidungsstücken an meinem Körper auffällt. Ich erkenne auch, wie er seine Schlüsse daraus zieht und keinen Hehl daraus macht, dass er mich dafür noch weniger respektiert. Ausreden oder Erklärung kann ich mir sparen. Sie wären vergeudet, denn er weiß auch so, was vor wenigen Minuten passiert sein muss. Mit wachsender Scham starre ich auf meine nackten Füße und fühle mich erneut wie der hilflose Teenager, der unter den Blicken der Autorität zusammenbrach. Meine Zehen sind bereits eiskalt. Der Rest folgt schnell.

„Lässt du mich rein?", fragt er und sieht bewusst an mir vorbei. Ich bestätige, indem ich beiseitetrete.

Mit dem alternden Polizisten habe ich nicht gerechnet. Er sollte gar nicht mehr hier sein, sondern am See seine Angel auswerfen. So hatte er es gesagt und so hatte ich es gehofft. Ein leises Seufzen flieht über meine Lippen als Zeichen vollkommener Beklommenheit, während ich die Tür schließe. Das Klicken des Schlosses übertönt es zum Glück.

„Was wollen Sie hier? ... Schon wieder?“, frage ich bissig. Als ich Moore in den Flur gefolgt bin, hält er mir eine schlichte braune Akte hin. Ich nehme sie nur zögerlich an und verstehe nur Bahnhof.

„Ich mache meine Arbeit, um die du mich übrigens gebeten hast“, erwidert er mit Nachdruck. Der Verkehrsknotenpunkt für Züge bleibt weiterhin präsent. In meinem Kopf herrscht ein heilloses Durcheinander und die einzige wirklich laute Frage ist die nach der Möglichkeit, ob er Richard gesehen hat. Mein Herz beginnt zu flattern und das Rauschen in meinen Ohren wird noch etwas lauter. Es muss so sein.

„Das sind die Telefondaten", erläutert er, als er meinen hilflosen Blick bemerkt.

„Aus der Telefonzelle?", frage ich ungläubig und deute fahrig hinter mich in Richtung der Außenwelt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er sie so schnell bekommen würde. Im Grunde habe ich nicht einmal geglaubt, dass er mir wirklich helfen wird.

„Kaffee hast du doch?“, fragt er und reißt mich aus den Gedankenkreisel meiner Hilflosigkeit. Ich zeige zur Küche und sehe dabei zu, wie er am Wohnzimmer vorbei darin verschwindet. Auch ich werfe einen kurzen Blick in die Stube hinein, als ich dem anderen Mann folge und bekomme augenblicklich Gänsehaut. Ricks Geruch haftet an mir und ich spüre seine Wärme, sobald ich meine Augen schließe. Vorsichtshalber ziehe ich die Tür ran und verhindere weitere ungewollte Blicke. Moore sitzt bereits am Tisch und ich lege die Akte vor ihm ab. Ohne abzuwarten setze ich Kaffee auf, stelle zwei Tassen hin und lehne mich mit verschränkten Armen gegen den Küchentresen. Die Stimmung im Raum ist mehr als unangenehm und ich schaffe es nicht, ihn anzusehen. Mein Magen verknotet sich heftig, fast schmerzhaft und keiner von uns beiden versucht etwas gegen die Schwere zu unternehmen. Wir schweigen bis das Wasser fertig kocht. Meine Hände sind feucht und der gefüllte Behälter ist schwer. Ich verschütte etwas, als ich versehentlich die Tasse über den Rand hinausfülle. Das Resultat sind braune Körner auf der Arbeitsplatte und dem Außenbereich der Keramik. Ich lasse es wie es ist und versuche mein Bestes, auf dem Weg zum Tisch nicht noch mehr zu verkippen. Die kühlen Augen des anderen Mannes folgen dabei jedem meiner Schritte, bis ich mich ihm gegenüben hinsetze. Er greift nach der weniger beschmierten Tasse, zieht sie zu sich heran, ehe er sich räuspert und nach der abgelegten Akte greift. Er hebt sie an, ohne sie aufzuschlagen.

„Ihr zwei seid unfassbar!“, platzt es aus Moore heraus, „Vor allem du! Du bist der Inbegriff von töricht und dumm.“ Die Akte landet mit einem auffällig lautem Platsch zurück auf dem furnierten Holz des Esstisches und verleiht seinem Ausruf etwas mehr Nachdruck. Diese Show war nicht nötig. Ich zucke, unfähig es zu unterdrücken, zusammen. Ein paar Zettel lösen sich aus der Halterung der Akte und schieben sich heraus. Darauf zu erkennen sind handschriftliche Anmerkungen. Kopfüber kann ich sie nur schwer lesen, fixiere sie aber dennoch. Ich erkenne eine Ansammlung von Zahlenreihen. Tag und Monat, sowie Uhrzeiten. „Zum Glück warst du nicht so umnachtet, Richard vom Festnetz aus anzurufen.“

„Sind sie fertig?“

„Noch lange nicht.“ Ich antworte mit einem schwermütigen Raunen und bleibe sonst still. „Nachdem ich die Anrufliste der Telefonzelle erhalten habe, habe ich mir auch die Daten deiner Nummer geben lassen. Was übrigens sehr aufschlussreich war." Ich verstehe nicht, was er meint.

„Wozu brauchten Sie meine Nummer?“

„Weil ich prüfen wollte, wie unglaublich dämlich ihr seid.“, kommentiert er flapsig.

„Sie sind schrecklich aufdringlich“, gebe ich retour und merke selbst, dass meine Erwiderung durchweg schwach ist. Er ist nicht hier, um zu streiten. Moore ist gerade nicht mein Feind, sondern einer der wenigen Hilfen. Deswegen werde ich seine Provokationen einfach schlucken müssen. Ich lasse seinen wertenden Blick schweigend über mich ergehen und stupse unter dem Tisch mit den blanken Zehen schmollend gegen einen der Tischbeine, während ich darauf warte, dass er fortfährt. Der Detective räuspert sich und klappt schwungvoll die Akte auf. Meine Fingerspitzen streichen über die warme Keramik meiner Tasse, aber ich trinke nicht, sondern sehe ihm schweigend dabei zu.

„Wenigstens konnte ich keinerlei Verbindungen zwischen euch herstellen, aber glaub nicht, dass mir diese nicht nachverfolgbare Nummer nicht aufgefallen ist.“ Ein weiteres Mal spricht er in diesem Tonfall, der jedes seiner Worte zu einem Vorwurf formt. Die Nummer gehört zu einer Prepaidkarte, welches Rick schon ewig besitzen muss, wenn man bedenkt, dass er den Ring nicht erst gestern anfertigen ließ.

„Die gehört zu einem Arbeitskollegen.“, kommentiere ich fahrig.

„Sicher.“, sagt er trocken und fächert mehrere Blätter nebeneinander auf, “Ich konnte in der Anrufliste deiner Nummer mehrmals dieselbe Telefonzelle identifizieren. Aber auch zwei weitere. Also habe ich mir auch die ausgehenden Anrufe von denen besorgen lassen.“ Er sortiert vier Stapel auf dem Tisch. Auf dem einen steht am oberen Rand meine Festnetznummer. Auf den anderen erkenne ich die unbekannten Zahlenreihen, die zu den anderen beiden Telefonzellen gehören. Moore deutet zwischen ihnen hin und her.

„Jedes Mal wurde nach dem Anruf bei dir vom selben Telefon aus noch eine andere Nummer gewählt." Moore dreht mir die Papiere mit orangemarkierten Stellen zu. Er deutet auf eine der gekennzeichneten Zeilen und danach auf die Liste der Telefonzellen. Die Nummer erkenne ich nicht.

„Welche?“

„Richards.“, erwidert er kühl. Ich sehe sofort auf und spüre, wie im selben Augenblick alles in mir zum Stehen kommt. Erst nach einem unbestimmten Moment beginnen meine Fingerspitzen zu pulsieren. Das Blut in meinen Venen bewegt sich rasend schnell durch meinen Körper und es ist so heiß, dass es fast schmerzt.

„Richards?... Was…Woher wissen Sie...“ Eine blöde Frage.

„Das hier ist seine Festnetznummer.“ Das Volldepp, welches deutlich auf seinen Lippen hängt, lässt er unausgesprochen. Stattdessen tippt er demonstrativ mit seinem knubbeligen Zeigefinger auf das Papier. An den Seiten ist der Fingernagel rissig und angebissen. Ich brauche einen Moment, bis ich mich von dem Anblick losreißen kann und mein Gehirn die dargebotene Information halbwegs bearbeitet hat. Dann sehe ich mir die fremde Nummer an, so als würde mir damit irgendwas klarer werden. Ricks Festnetznummer.

„Ich nehme mal an, dass er dir diese nicht gegeben hat?" Es ist eine rhetorische Frage. Ich verneine unwillkürlich, indem ich automatisch den Kopf schüttele. Als ich es bemerke, lasse ich es gleich wieder sein. Ein Pokerface hatte ich noch nie. Meine Hand beginnt zu zittern, als ich das Papier mit den Fingerspitzen dichter an mich heranziehe. Fast sofort präge ich mir die Zahlen ein. Sie brennen sich regelrecht in meinen Kopf hinein. Dann zähle ich die Markierungen der Anrufe durch, bei der meine Nummer gewählt wurde. Ich weiß nicht, wie viele dieser Belästigungen es wirklich gewesen sind. Mitgezählt habe ich nicht. Angestrichen sind neun Anrufe und ebenso neun Mal taucht direkt danach Richards Nummer auf. Ich versuche mich zu erinnern. Doch mein Gehirn blockiert jeglichen Gedanke daran und trotzdem merke ich, wie das beklemmende Gefühl mich überrollt, mich erschüttert und ebenso lähmt.

„Eleen, ist dir klar, was das bedeutet?“ Was es bedeutet, wiederhole ich still in meinem Kopf. Nein. Ja. Nein. Ich sehe auf. In seinen Augen erkenne ich denselben angeregten Funken wie damals. Er glaubt noch immer, dass Richard der Stein des Anstoßes ist. Unbewusst beginne ich meinen Kopf zu schütteln. Nein. Ich kann seinen Gedanken folgen, aber werde es niemals glauben.

„Richard hat nichts damit zu tun.“

„So naiv kannst du nicht sein. Nicht so blind. Eleen, wie erklärst du dir die Anrufe?“ Diesmal ist seine Stimme nicht vorwurfsvoll, höhnend oder anklagend und das macht sein Gesagtes fast noch schlimmer.

„Ich weiß nicht. Vielleicht wird er von derselben Person belästigt.“ Meine Stimme wird mit jedem Wort leiser. Wenn es so wäre, hätte er es mir doch erzählt. Oder nicht?

„Meinst du nicht, dass er dir das gesagt hätte?“, formuliert Moore meinen Gedanken. Ich weiche seinem Blick aus, schaue auf die Liste mit Nummer und schüttle meinen Kopf energischer. Sage jedoch nichts. Ich kann es einfach nicht.

„Wahrscheinlicher ist, dass ihm jemand Bericht erstattet. Die jeweilige Dauer ist unterschiedlich, aber einige davon sind 10 Minuten lang. Wie erklärst du dir das?“, vermutet der alte Mann weiter und ich sehe ihn erschüttert an.

„Richard hat nichts damit zu tun!“, entfährt es mir mit Nachdruck. Meine Hand auf dem Tisch ballt sich zur Faust. Die mattgrauen Augen des anderen Mannes betrachten meine lächerliche Wutreaktion. Unwillkürlich lockere ich meinen Griff und lehne mich zurück, bringe so etwas mehr Distanz zwischen uns. Seine ablehnende Haltung und seine vorgefertigte Meinung verärgern mich. Seine Schlüsse sind subjektiv. Nichts anderes.

„Wieso um Himmelswillen bist du dir so sicher?“, fragt er mit einer Ruhe, die mir durch Mark und Bein geht. Ich gebe ihm keine Antwort, weil egal was ich ihm sage, er würde es mir nicht glauben. Er würde es nicht verstehen. Niemand versteht es. Für ihn ist mein Schweigen ebenfalls eine Antwort und der erfahrene Detective weiß es zu lesen.

„Eleen, hör mir zu. Ich weiß nicht, was Richard damit zu tun hat, aber ich sage dir, dass er der Grund ist, aus dem das passiert…“

„Das ist doch... nein, das ergibt keinen Sinn…warum... nein...“, würge ich ihn ab. Auch der alte Detective lehnt sich resigniert seufzend zurück. Er streicht sich über die durch Bartstoppeln gezeichneten Wangen und wirkt in diesem Moment noch ein klein wenig älter, ausgemergelter und seltsam müßig. Er verliert mit mir und meinem störrischen Verhalten langsam aber sicher die Geduld. Er will mir nur helfen, rufe ich mir ins Gedächtnis, aber ich kann die Vergangenheit nicht einfach abschütteln. Ich verstehe seinen Unmut und Moore hat mir gegenüber keine Verpflichtungen. Er macht nur seinen Job. Schon immer. Schon damals brandete er an meiner Entschlossenheit, an meiner Naivität und das muss ihn wahnsinnig gemacht haben. Und so sehr es mich schmerzt, an das Vergangene zurückzudenken, so weiß ich doch, dass es immer meine eigene Entscheidung gewesen ist und damit muss ich Leben und niemand anderes.
 

„Okay´, beginnt er laut ausatmend. Es klingt fast wie ein Schnaufen. „Sinn hin oder her. Richard handelt bei weitem nicht so, wie er müsste, wenn er wirklich verhindern will, dass du zurück ins Gefängnis gehst. Ihr solltet beide schlauer sein und euch einfach voneinander fernhalten.“

„Sie sind nicht hier, um mir eine Moralpredigt zuhalten“, sage ich erneut trotzig. Ich bin es leid. „Und ich werde nicht zulassen, dass sie Richard irgendwas anhängen, nur um endlich Bestätigung zu erhalten.“

„Glaubst du wirklich, dass das mein einziges Anliegen ist?“, fragt er entgeistert und ich zucke nur mit den Schultern, „Du denkst, ich bin nur hier, um Richard Paddock ins Gefängnis zubringen? Eleen, ich bin hier, um zu verhindern, dass du weiter aus blindem Vertrauen heraus dein Leben wegwirfst. Ein zweites Mal, wohl gemerkt.“ Ein abfälliges Geräusch perlt über meine Lippen.

„Ach, Sie sind nur nie darüber hinweggekommen, dass Sie den Fall nicht vollkommen auflösen konnten“, spotte ich und bin mir sehr wohl bewusst, dass ich damit einen empfindlichen Punkt treffe. Womöglich sogar eine Grenze überschreite. Eine gefährliche. Mit der flachen Hand schlägt er auf den Tisch. Zorn fliegt über sein Gesicht, der aber ebenso schnell wieder verschwindet, wie er kam. Moore hatte sich schon immer gut unter Kontrolle und das ist auch jetzt so. Der von ihm gewünschte Effekt tritt trotzdem ein.

„Du solltest dich zurückhalten, denn ich habe noch immer genügend Möglichkeiten. Ein Wort von mir und all die Besserungsmaßnahmen sind hinfällig und die Bewährung wird zurückgezogen.“ Die Deutlichkeit seiner Worte trifft mich erwartet hart. Ich schlucke schwer und weiche unwillkürlich seinem Blick aus. Wie damals. Auch heute noch habe ich das Gefühl, dass ich dem autoritären Blick des anderen Mannes nichts entgegensetzen kann. Dabei bin ich kein Kind mehr. Doch in seiner Gegenwart werde ich wieder 17 Jahre alt und habe gerade gesehen, wie ein Mensch stirbt.

„Eleen, sei nicht dumm“, beginnt er mit ruhiger, fast sanfter Stimme, “Rick wird niemals wirklich an deiner Seite sein… Das kann er einfach nicht...“, setzt er an und ich unterbreche den alten Detective, indem ich meine Hand hebe. Rick? Nach kurzem Schweigen setzt er unbeirrt fort. „Glaubst du denn wirklich, dass du jemals mit ihm zusammen sein wirst?“

„Wieso nennen Sie ihn so?“, frage ich dann doch.

„Was?

„Rick. Sie nannten ihn Rick.“

„Hab ich das? Du hast ihn sicher mal so genannt…“ Seine Antwort kommt zu schnell. Unruhig beugt er sich wieder zum Tisch und verschränkt seine Finger ineinander. Ein einfaches Mittel, um Nervosität zu verstecken. Ich mache es auch.

„Sicher nicht. Ich nenne ihn nie vor anderen so. Woher wissen Sie es?“, frage ich misstrauisch. Er zögert und lehnt sich wieder zurück. Seine Hände landen diesmal in seinem Schoß. Nur kurz, dann greift er in die Innenseite seiner Jacke und er zieht mehrere geöffnete Briefumschläge hervor.

„Ich habe eure Briefe von damals...“, gesteht er. Ich starre irritiert auf das Bündel in seiner Hand und spüre zum wiederholten Mal an diesem Tag, wie mein Herz vor Panik zu rotieren beginnt. Das Papier ist an einigen Stellen dreckig. Braun. Schwarz. Vergilbt. Auf dem Vorderen steht die Anschrift meines Elternhauses und mein Name in krakeliger Jungenhandschrift. Moore legt sie in die Mitte des Tisches und achtet darauf, dass es nicht auf den Ausdrucken der Telefondaten liegt. Seine Beweise feinsäuberlich aufgereiht. Was weiß er noch alles? Was weiß er nicht? Ich fühle mich entblößt. Unwillkürlich greife ich nach dem Ring um meinem Hals und ziehe meine Hand erst zurück, als meine Fingerspitzen sachte gegen das verdeckte Metall stoßen.

„Unerwartet sind eure Spitznamen nicht. Trotzdem, gute Tarnung.“

„Sie dienen nicht als Tarnung“, erwidere ich abwehrend und denke an den Moment zurück, als Rick mich zum ersten Mal Lee nannte. Ich spüre die durchdringende Wärme, seine Liebe, die in dieser Koseform steckte und wünsche mich augenblicklich an seine Seite.

„Was willst du von mir hören?“

„Woher haben Sie die Briefe?“

„Von deiner Mutter.“ Meine Mutter?

„Was machen Sie bei meiner Mutter?“, frage ich gedankenverloren, greife nach dem abgekühlten Kaffee und störe mich nicht daran, dass er bitter und schwer über meine Zunge fließt, als ich diesmal wirklich davon trinke. Im Gegenteil, das unangenehme Aroma bringt mich wieder zurück in die Gegenwart.

„Sie... Sie reden mit ihr?“

„Sie rief mich an...“

„Sicher nur um Sie davon abzubringen, weiter rumzustochern...“

„Im Gegenteil. Sie ist immer noch der Überzeugung, dass du unschuldig bist und will, dass ich es beweise“, sagt er. Unschuldig. Ich war nie wirklich unschuldig. „Und sie macht sich große Sorgen. Sie hat mich gebeten, ein Auge auf dich zu haben.“ Also ist sie schuld daran, dass Moore hier aufgeschlagen ist und uns das Leben schwer macht? Ich kann es kaum fassen.

„Wow, dass sie mir nicht traut, wusste ich bereits, aber nun glaubt sie auch nicht mehr daran, dass Ewan seinen Babysitterjob erledigt?“ Ich fühle mich verraten. Ewan sollte es auch.

„So ist das nicht.“

„Ach nein? Das ist doch absurd. Auf einmal bittet sie Sie auf mich aufzupassen, aber sie schafft es nicht allein zum Telefon zugreifen und mich anzurufen? Warum ausgerechnet Sie?“ Aufgebracht springe ich auf, presse meine Lippen aufeinander und tigere ein paar Schritte in meiner kleinen Küche hin und her. Moore sieht mir geduldig dabei zu, streicht sich durch die ergrauten Haare und lehnt sich zurück.

„Würdest du dich bitte wieder hinsetzen und es mich erklären lassen.“ Mit dem Fuß schiebt er meinen Stuhl in eine wartende Position. Die Ruhe in seiner Stimme ist unerträglich. Ich fühle mich nicht dazu in der Lage, still dazusitzen und mir diese halbgaren Erklärungen anzuhören. Es ist alles zu viel.

„Nein!“, sage ich erstaunlich gefestigt, „Nein, ich denke, Sie sollten gehen. Ich muss noch einiges erledigen und…“ Meine Bitte folgt mit weniger Nachdruck.

„Eleen.“

„Nein, ich will, dass Sie gehen.“ Ich bleibe demonstrativ stehen und deute zur Tür. Meine Stimme ist erstaunlich fest, doch ich fühle mich, als würde mir jeden Moment der Boden unter den Füßen wegbrechen. Ich brauche Zeit für mich, um über alles nachzudenken.

„Was ist das eigentlich an deiner Hand?“ Moore deutet auf meinen Handrücken. Ich folge seinem Blick zu den geröteten Knöcheln meiner rechten Hand und schiebe sie hinter meinen Rücken.

„Nichts weiter…“

„Machen dir noch mehr Leute Ärger?“, fragt er fast besorgt. Ich werde aus diesem Mann einfach nicht schlau.

„Er ist nur ein Idiot von der Arbeit, dem mein Name nicht gefällt“, sage ich ausweichend und mit genügend Wahrheit darin, dass er es glaubt. Von Stevens Drohungen und dessen Beleidigungen muss er nichts wissen.

„Du musst vorsichtiger sein…“

„Bitte hören Sie auf, so zu tun, als würde Ihnen etwas an mir liegen“, unterbreche ich. Von Moore kommt nur ein eigenartiges Lachen. Der alternde Detective richtet sich schwerfällig auf. Seine Hand stützt sich flach auf den Tisch. Sein Zeigerfinger zuckt auf und ab. Viermal, dann entflieht ein weiteres tiefes Raunen über seine Lippen, als er beschließt, meiner Bitte zur folgen. Er geht an mir vorbei in den Flur. Ich folge ihm. Der ehemalige Detective bleibt an der Schwelle zum Hausflur stehen und sieht mich an.

„Ich bin nicht dein Feind. Ich hoffe, das wird dir langsam klar.“ Damit schließt sich die Tür. Es folgt Stille und das Dröhnen in meinem Kopf scheint mit einem Mal unendlich laut.
 

Ich bleibe im Flur stehen, weil in dem Moment die Schwere aller Informationen auf mich niederschlägt, die mir eben aufgetischt wurden. Ich fühle mich wie gelähmt. Die Telefonate. Die Briefe. Moore und meine Mutter. Rick. Das kann doch alles nicht wahr sein. So viele neue Informationen, die meinen vorhandenen nicht zuträglich sind. Nichts wird klarer. Nichts wird verständlicher. Es wird alles nur noch undurchsichtiger. Ich fühle mich verlorener als jemals zuvor. Wann wird das alles nur enden? Wer ist dieser Spinner, der erst mich anruft und dann Richard? Egal, warum er ihn anruft. Wer hatte etwas davon?

Sybilla Paddock? Sie ist die einzige mit klaren Motiven. Aber nein, sie hätte andere Mittel, die viel schneller dafür sorgen würden, dass ich zurück ins Gefängnis gehe. Sie würde auch Richard niemals belasten oder mit hineinziehen. Schnell und ohne Spuren, das wären ihre Methoden. Rick hätte es nie mitbekommen.

Rahel, eventuell. Aber im Grunde nicht wirklich, denn auch sie hätte andere Möglichkeiten, um mich aus Richards Leben zu entfernen. Außerdem hat sie bis vor kurzem nicht einmal gewusst, wer ich bin. Noch dazu würde nichts, was sie tun könnte, Richard zu ihr zurückbringen. Das hatte er zu mindestens gesagt und ich glaube ihm. Seine Entscheidung fiel, bevor wir einander wieder nähergekommen waren. Wer also bleibt übrig? Ich starre einen Moment lang hilflos auf meine noch immer nackten Füße. Dass sie kalt sind, merke ich schon gar nicht mehr. Und obwohl ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, funktioniert es nicht. Es gibt nur einen Gedanken, der sich unaufhörlich hervorpellt. Erst leise, aber bohrend. Dann laut und unwiderruflich, bis ich ihn nicht mehr leugnen kann.

Was weiß Rick?

Eine Antworte bleibe ich mir schuldig. Doch das Gefühl in meiner Magengegend wird zunehmend schmerzhafter.
 

Ermattet laufe ich ins Wohnzimmer. Mein Blick fällt auf die Couch mit den zerwühlten Kissen und den deutlichen Flecken. Ich mache kehrt, hole aus dem Badezimmer ein Handtuch und feuchte es an. Zurück im Wohnzimmer hocke ich mich vor die Couch und beginne zu rubbeln. Mit ein wenig Reibung sind die Spuren schnell verschwunden. Meine Gedanken jedoch nicht. Hatte Richard etwas damit zu tun? Von dieser beißenden Frage überwältigt, lasse ich mich vor der Couch nieder und strecke meine Beine aus. Ich lasse meine Zehen wackeln.

Nein, aus tiefsten Herzen glaube ich nicht daran, dass Richard etwas damit zu tun hat. Aber was, wenn doch? Der Zweifel, einst undurchsichtig und klein, hebt sich nun deutlich hervor. Kann man einer Person hundertprozentig vertrauen? Hätte man mich vor ein paar Wochen danach gefragt, hätte ich ohne zu zögern gesagt, dass Richard dieser jemand für mich ist. Nun scheint alles um mich herum zu schwanken, sodass auch mein Inneres durcheinander gerät. Ich reibe mir mit beginnender Frustration übers Gesicht.

Noch mal Nein, Rick würde mir sowas nicht antun. Die Wut, die er zeigte, als ich ihm von den Anrufen und Nachrichten erzählte, war echt gewesen. Seine Sorge ist es ebenfalls. Er macht vielleicht nicht alles richtig, aber macht nichts davon mit Hintergedanken. Doch irgendwas erzählt er mir nicht. Vielleicht weiß er doch mehr? Wird er selbst auch von seltsamen Anrufen belästigt und will es mir nicht sagen, damit ich mir keine Sorgen mache? Einige der Gespräche haben nach Moores Aussage länger gedauert. Was, wenn Rick den Mann mit der Zigarette wirklich kennt?

Ich strecke meinen Arm in die Höhe, lasse ein paar Knochen knacken und streiche mir mit der anderen über die behaarte Haut meines Unterarms. Mein Blick haftet sich an die Rötungen auf meinen Knöcheln. Ich lasse die Hand sinken und lege sie auf meinem Brustkorb ab. Habe ich Richards Familie zerstört, so wie es der Anrufer behauptete? Wahrscheinlich. Ich bin der Grund, aus dem es so weit gekommen ist. Hätte ich damals Rénard Paddocks Warnungen nachgeben sollen? Hätte ich das gekonnt? Ich weiß es nicht. Müde streiche ich mir über den Bauch und verschränke danach die Arme vor der Brust. Ich habe es Rick nie erzählt, doch bereits Wochen vor dem endgültigen Streit hatte mich sein Vater angesprochen. Er legte mir nahe, dass ich seinen Sohn vergessen soll. Es war eines dieser klassischen Klischees. Nur bot mir Rénard Paddock damals kein Geld an, sondern beließ es bei Drohungen und mahnenden Anweisungen. Es schüchterte mich ein, doch nichts hätte mich von Rick fernhalten können. Es schien unmöglich. Genau das ließ mich später ins Verderben rennen. Moore bezeichnete es vorhin als blindes Vertrauen. Hatte er damit Recht? Vertraue ich Richard so bedingungslos, dass ich ungesehen ins Verderben renne? Erneut? Ich denke an die Briefe, die auf dem Tisch liegen und in meinen Fingerspitzen entflammt ein intensives Kribbeln. Sie sind ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Unserer Liebe. Es sind materielle Beweise, an die ich schon lange nicht mehr gedacht habe. Ob Rick meine Hälfte auch noch hat? Ob meine Mutter sie ebenfalls gelesen hat? Wieso glaubte sie, dass die Briefe Moore helfen würden, mich zu beschützen? Sollten sie mich vielleicht nur brechen? Das Kribbeln verebbt in meiner Magengegend.
 

Gerade, als ich mich wieder aufrichte, beginnt das Festnetztelefon neben der Couch zu singen. Die Gänsehaut, die sich auf meinem Körper ausbreitet, ist so intensiv, dass ich für einen Moment das Gefühl habe, dass ich mich zu häuten scheine. Mein Herz springt und ich bin mir sicher, dass ich es nur dank meiner fleischlichen Hülle nicht abrupt in den Händen halte. Zögerlich greife ich nach dem Hörer, atme erleichtert aus, als ich die Nummer erkenne und gehe ran.

„Ich bin´s“, meldet sich Ewan direkt, ohne eine erste Begrüßung meinerseits abzuwarten.

„Hey“, erwidere ich wenig enthusiastisch.

„Geht’s dir gut? Du klingst seltsam.“

„Bin nur müde“, versichere ich schwach. Ein Klischee, was jeder sofort durchschaut. Natürlich auch mein Bruder. Ewan setzt zu einem weiteren Versuch an, doch die kindliche Stimme seiner Tochter unterbricht seinen Gedankengang.

„Einen Moment…“ Ich höre, wie er mit Lira spricht. Er verneint. Sie quengelt. Er gibt nicht nach. Streng sein ist Ewans Spezialität. Schon immer. Ich höre Liras piepsige Stimme, aber verstehe keines ihrer Worte. Unwillkürlich schweifen meine Gedanken zu Rick und an seine kleine Tochter. Kaya wird auch älter werden und irgendwann Fragen stellen. Solche, wie `Wieso Mama und Papa nicht jeden Tag zusammen sind?` oder `Wieso sie zwei Zuhause hat?`. Ob sie irgendwann nach mir fragen wird?

„…Eleen?“, höre ich Ewan meinen Namen wiederholen. Ich habe nichts mitbekommen.

„Ja! Entschuldige. Ich habe noch nicht gefrühstückt“, erkläre ich meine Unaufmerksamkeit. Auch wenn es im Grunde eine hinkende Aussage ist. Genauso wie die Müdigkeit.

„Es ist fast mittags?“ Verständnislos. Ich verkneife mir ein genervtes Raunen.

„Wie geht es Sora?“, erkundige ich mich nach seiner Frau, um der Belehrung zu entgehen, die sich langsam aber sicher einen Weg nach draußen kämpft. In Lektionen Verteilen ist er ebenfalls ein Weltmeister. Manches wird sich nie ändern. Immerhin schaffe ich es, ihm den Wind aus dem Segel zu nehmen.

„Soweit ganz gut. Die Morgenübelkeit macht ihr sehr zu schaffen. Mehr als bei Lira damals. Die Ärzte sagen aber, dass alles in Ordnung ist.“ Jetzt klingt er nur noch geschafft und abgekämpft. Ich nicke verstehend, ohne, dass er es mitbekommen kann.

„Eleen, was ist los?“ Die Frage perlt mit deutlicher Verstimmung über seine Lippen. Ich hadere mit meiner Unwilligkeit, ihn noch tiefer in die Angelegenheit hinzuziehen. Er weiß schon viel zu viel. Erneut wiederholt er meinen Namen und ich gebe nach.

„Hast du in der letzten Zeit mit Mama gesprochen?“, frage ich mit erstaunlich ruhiger Stimme und lasse meinen Kopf zurück auf die Couch fallen.

„Sicher, wieso?“ Wieder regt sich der Unwillen. Ich lasse meinen Kopf ein wenig auf dem Polster auf und ab hüpfen und verursache kleine quietschende Geräusche.

„Nur so…“, antworte ich ausweichend.

„Eleen... muss das sein?“ Ich stoße laut die Luft aus.

„Ist ja gut. Weißt du, ob sie… Kontakt zu Detective Moore hat?“

„Warum willst du das wissen?“, fragt er zögerlich. Es verrät ihn. Ich streiche mir die Haare zurück und bin mir unsicher, ob ich einfach nur überrascht oder doch entsetzt bin.

„Also ja“, stelle ich laut klar. Am anderen Ende des Apparats bleibt es ungewöhnlich still. So ruhig, dass ich hören kann, wie er sich auf einen der gummierten Küchenstühle niederlässt. Ein leises Quietschen ertönt. Ein Raunen folgt, dann ein Klopfen. Es sind seine Finger auf der Tischplatte.

„Wie lange weißt du es schon?“, frage ich weiter.

„Eleen…“, setzt er an. Ich unterbreche ihn.

„Wie lange?“, sage ich diesmal etwas schärfer. Ewan atmet tief und geräuschvoll ein. Ein kurzes Rauschen dringt durch das Telefon, als sein Atmen über den Sprachbereich streicht.

„Seit der letzten Bewährungsanhörung. Sie sind danach ins Gespräch gekommen.“ Es muss ihm schwerfallen, mir dir Wahrheit zusagen.

„Mutter braucht jemanden, mit dem sie reden kann. Erik und ich haben es versucht, aber sie hat sich uns gegenüber nicht geöffnet. Es war und ist eine schwere Zeit für sie.“ Die Vorwürfe höre ich deutlich.

„Und wieso hast du es mir nicht gesagt? Gott, er ist der Kerl, der mich eingesperrt hat und ihr haltet es nicht für nötig, mir das zu erzählen?“

„Ich sah darin keine Notwendigkeit, weil ich dachte, dass du die Kurve endlich gekriegt hast... und Mutter bat uns darum, es nicht zu erwähnen.“ Keine Notwendigkeit? Kein Wort der Entschuldigung? Die Zeit ändert wirklich nichts.

„Das kann doch nicht euer Ernst sein?“, pfeffere ich ihm wütend entgegen.

„Reg dich ab. Du weißt, dass es nicht so einfach ist... Es war für uns alle schwer. Für Mutter ganz besonders.“, versucht er zu beschwichtigen. Eshilft nur nicht.

„Natürlich...“, entflieht es mir sarkastisch, „Zu eurer Information, für mich war es schlimmer.“ Aufgebracht lege ich auf. Ich stoße das Telefon aus Wut quer durch den Raum und es schliddert gemächlich gegen die gegenüberliegende Wand. Zu hören ist nur ein leises Klack und das laute Rotieren meines Verstandes.
 

Ich schnappe mir eines der Kissen und drücke mein Gesicht hinein. Wieso denkt jeder, etwas vor mir verheimlichen zu müssen? Wieso gibt es so viele Geheimnisse und Unehrlichkeiten? Ich lasse meinen Kopf nach hinten fallen und sehe an die Decke, so wie ich es vorhin schon getan habe. An einigen Stellen löst sich ein Teil der Tapete und die Fugen zwischen den einzelnen Bahnen reißen auseinander. Vielleicht sollte ich renovieren? Laut Mietvertrag ist man zu Schönheitsreparaturen in der Wohnung verpflichtet und meine hat es definitiv nötig. Es gäbe einiges zu tun. Nicht meine einzige Baustelle, aber sie wäre eine perfekte Ablenkung von meinen Zwischenmenschlichen. Allerdings würde es auch nicht helfen.

Meine Familie hat es nie verstanden. Doch darf ich ihnen wirklich einen Vorwurf machen? Das Verhältnis zu meiner Mutter ist angespannt und war auch nie wirklich intensiv gewesen. Wir sind uns zu ähnlich. Beide eher ruhig und zurückgezogen. Kopfmenschen, die sich nicht zu artikulieren wissen. Die wenigen Male, die wir uns seit meiner Entlassung gesehen haben, waren überschattet von unangenehmem Schweigen und seltsam klischeehaften Phrasen. Keiner von uns beiden wusste es besser zu handhaben. Ewan hatte oft versucht zu vermitteln, aber egal was er sagte, das Gefühl des Verlorenseins in mir wurde nicht gemindert. Ich fühlte mich damals von meiner Familie im Stich gelassen und so ist es auch noch heute. Ich weiß um ihre Hilflosigkeit, aber ich verstehe sie nicht. Sie hätten an meiner Seite sein müssen. Egal, wie sehr sie zweifelten oder verzagten. Ich wäre es gewesen.

Mit der Hand streiche ich mir über den flachen Bauch und wie auf Kommando beginnt er leise zu knurren. Ich sollte dringend etwas essen, aber vor allem muss ich einkaufen gehen. Normalerweise mache ich mir eine Liste, da ich dazu neige, die Hälfte zu vergessen, wenn ich es nicht tue. Doch mein Magen meldet sich ein weiteres Mal so laut, dass ich einfach nur einen der Einkaufsbeutel aus der Schublade krame und nach dem Sockenanziehen losstiefele.
 

Den Weg zum Supermarkt gehe ich wie in Trance. Ständig wiederholen sich die gleichen Fragen in meinem Kopf, wie schon zuvor. Wer? Was? Wieso und Warum? Ich wälze jeden Fakt wieder und wieder umher, doch ich finde keine Antworten, sondern nur noch mehr Fragen.

Planlos betrete ich das Geschäft, nehme einen Korb statt eines Wagens und bereue bereits jetzt, keine Notizen gemacht zu haben. Vor dem Obst bleibe ich stehen und starre gedankenversunken auf einen Berg von Äpfeln. Der kleine Korb in meiner Hand fühlt sich sondergleichen schwer an und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.

Ich fühle mich in großen Supermärkten schlichtweg überfordert. Tausende Sorten von Käse, Wurst und Zahnpasta. Manchmal ergeben Anordnungen und Zusammenstellungen des Regals gar keinen Sinn für mich. Jedes Mal wieder suche ich die Eier oder den Ketchup. Bei Hefe habe ich schon mal vollkommen aufgegeben. Ich weiß bis heute nicht, wo ich sie finde, weshalb selbstgemachte Pizza seit langem kein Thema mehr für mich ist.

Nachdem ich geschlagene fünf Minuten unbeweglich verweile, biege ich in einen Nebengang mit Konserven und Grundlebensmitteln ab und das nur, weil ich da niemanden mehr im Weg stehe. Ich denke an Pizza, als mein Blick die gestückelten Tomaten kreuzt und ich erinnere mich daran, wie gut die Schinkenpizza mit Peperoni bei dem kleinen Italiener war, bei dem ich mit Kaley gewesen bin. Ich greife nach einer der Dosen. Der Inhalt stammt aus Italien. Sonnengereift. Fruchtig. Süß. Ich möchte gern einmal nach Italien reisen. Dort muss es wunderschön sein. Und es wäre weit weg. Im Moment wirkt dieser Gedanken seltsam befreiend auf mich. Aber es bleibt auch was es ist, eine Fantasie.
 

Nach und nach schaffe ich es, einige essenzielle Dinge in meinen Korb zulegen. Käse, etwas Gemüse und Aufstrich. Bei Brot bin ich unentschieden. Ich beschäftige mich eine Weile mit einem einfachen Weizenbrot und einer angepriesenen Fitnessvariante. Vollkorn mit Ballaststoffen und garantiert mehr Gesundheit. Für ein langes, glückliches Leben. Wäre es nur so einfach. Ich lasse es in meinen Korb fallen und streune weiter durch die Gänge. Schaue hier und da. Meine Unentschlossenheit nimmt ungeahnte Ausmaße an. Noch dazu sehe ich mich ständig um. Es sind nicht sehr viele Leute im Laden unterwegs und dennoch fühle ich mich beobachtet. In der Kühlabteilung kommt mir einer der Mitarbeiter entgegen. Ein kurzer versteckter Blick, dann verschwindet er abrupt im Lagerbereich. Vermutlich werde ich langsam verrückt.

Ich greife mir Erbsen und Fischstäbchen und beschließe, dass das heute als ordnungsgemäßes Mittag herhalten muss. Mit allerletzter Anstrengung entscheide ich mich noch für ein paar Cornflakes, die ich greife, während zwei junge Männer dicht an mir vorbeigehen. Ich folge ihnen unruhig mit meinem Blick und es richten sich meine Nackenhaare auf. Ich drehe mich weg, höre noch, wie ein Einkaufswagen über den unebenen Boden rattert und sehe eine junge Frau hinter einem Regal verschwinden. Ihr folgt eine feine Rauchspur. Ich umfasse den Korb in meiner Hand fester. Ich sehe schon Gespenster. Seufzend greife ich die Packung Cornflakes fester und lege sie ohne hinzusehen zu meinem Einkauf. Danach streune ich mit der Gewissheit, etliches vergessen zu haben, zur Kasse.

Der Kassierer lächelt übertrieben, während er meinen Einkauf übers Band zieht. Dann erkenne ich, dass es derselbe Mitarbeiter ist, der vorhin im Lagerbereich verschwunden ist. Mit dem Wechselgeld wünscht er mir einen besonders schönen Tag und ich verlasse irritiert den Laden. Draußen bleibe ich stehen und bemerke eine noch glimmende Zigarette in dem nahestehenden Müllbehälter. Kleine Qualmfäden lösen sich von dem brennenden Material. Ein leichter Luftzug entfacht die Glut und meine Gänsehaut. Ich rieche den Rauch und blicke mich unwillkürlich um. Auf der Straße ist niemand zu sehen. Sehr wahrscheinlich hat es auch gar nichts zu bedeuten. Jeder kann die Zigarette dort abgelegt haben. Jeder oder niemand. Wahrscheinlich waren es Gespenster.

Ich fasse die Einkaufstasche fester und wende mich ab. Das Blut in meinen Venen rauscht so laut, dass ich es die gesamte Zeit über hören kann und an nichts anderes denke.
 

Zurück in der Wohnung stelle ich die Einkaufstüte beiseite und schrecke zusammen, als meine Tasche zu klingeln beginnt. Es ist das Handy und trotzdem schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich greife fahrig danach. Als ich auf das Display sehe, erkenne ich Richards Nummer. Mein Herz macht einen kleinen glücklichen Hüpfer und wird dennoch von einem bedrückenden Gefühl begleitet. Ich lasse es mehrfach Klingeln, bevor ich den Regler letztendlich in die grüne Richtung schiebe.

„Hi“, haucht er erleichtert. Ich kann hören, wie er lächelt.

„Hi“, erwidere ich, höre selbst, wie meine Stimme weicher wird.

„Ich würde gern zu dir kommen“, sagt er ohne Vorwarnung, klingt ruhelos und angespannt. Mein Körper beginnt zu kribbeln, als ich mir vorstelle, wie sich Ricks Arme um mich legen, wie sein Geruch mich umfängt und wie sich das Gefühl völliger Seligkeit in mir ausbreitet. Ich sehne mich sehr danach, ihn bei mir zu haben.

„Ich dachte, deine Tochter ist bei dir?“, hake ich nach, als ich mich an unser morgendliches Gespräch erinnere. Ich schließe die Augen und spüre die Gänsehaut etwas intensiver werden. Doch dieses Mal nicht aus dem positiven Gefühl heraus.

„Kaya fiebert etwas und Rahel behält sie bei sich.“, erklärt er unaufgeregt. Ich sollte darauf reagieren, mein Mitgefühl ausdrücken, meine Anteilnahme äußern oder einfach nur Sorge, doch ich schweige. Ich ziehe die Packung mit Cornflakes aus der Einkaufstasche hervor und bemerke zum ersten Mal, was ich eigentlich gekauft habe. Von der Front blickt mir ein überdimensionales grinsendes weißes Einhorn mit bunter Regenbogenmähne entgegen. Ebenso farbenfroh sind auch die Cerealien im Inneren. Es ist nicht das, was ich kaufen wollte. Ich hätte besser hinsehen sollen.

„Es ist nichts Ernstes. Im Kindergarten grassiert ständig etwas und Rahel ist etwas zu vorsichtig“, erklärt er von ganz allein. Ich antworte noch immer nicht, gebe kaum ein Geräusch von mir und nibbele an der Pappverpackung der Einhornflakes herum.

„Können wie uns sehen?“, wiederholt er seine Bitte. Diesmal fast flehend. Er merkt, dass ich zögere.

„Vielleicht sollten wir lieber nicht...“, beginne ich schweren Herzens.

„Lee, bitte nicht. Das hatten wir doch schon. Ich weiß, dass wir vorsichtig sein müssen.“ Weiß er das wirklich? Mein Blick fällt auf die Briefe, die auf dem Tisch liegen. Ebenso wie die Telefonlisten. Ich beginne erneut zu zweifeln. „Bitte rede einfach mit mir." Ein weiteres Flehen perlt von Richards Lippen und ich kann deutlich hören, dass er mit aller Kraft gegen die Unsicherheit kämpft. Das macht es für mich nicht leichter.

„Moore war hier", sage ich tonlos und hoffe, dass ihm das als Begründung für meine Zweifel reicht. Ihm zu sagen, dass ich ihn nicht sehen will, weil ich schon wieder mit mir und der ganzen Situation hadere, würde ich nicht über mich bringen. Nicht schon wieder.

„Ich dachte, er wollte verschwinden und dich in Ruhe lassen?“

„Du kennst ihn. Er ist hartnäckig“, gebe ich seltsam ermattet von mir. Was soll ich ihm auch sagen? Jede weitere Erklärung würde auf das Gespräch hinauslaufen, welches ich noch nicht bereit bin zu führen. Ich lehne mich gegen die Arbeitsplatte und schaue auf die Cornflakespackung in meinen Händen. Ich habe keine Milch gekauft. Trotzdem öffne ich sie und ziehe das Plastikinnere heraus. Die Pappe klemme ich mir unter den Telefonarm. Es knistert laut und ist sicher auch für Rick zu hören.

„Vielleicht sollte ich es ihm auch noch mal deutlich machen.“, schlägt Rick knurrend vor. Sein halbstarker Ausruf lässt mich wenig schmunzeln, zeigt aber auch, wie sehr wir beide noch immer in alten Strukturen feststecken.

„Lass es gut sein.“, sage ich beschwichtigend und öffne das Plastik mittig, in dem ich es vorsichtig auseinanderziehe. Innen drin sind kleine einhornförmige Gebilde zu erkennen. Einige sind so dick und aufgepufft, dass man die Form kaum erahnen kann.

„Was wollte er von dir? Also abgesehen von den obligatorischen Moralpredigten und dem dummen Geschwätz“, fragt er diesmal mit ruhiger Stimme. Der Geruch, der mir von den Flakes entgegenströmt, ist zuckrig und leicht zitronig.

„Nur das“, gebe ich ausweichend von mir, nehme ein paar Einhörner aus der Tüte und betrachte sie mit gerunzelter Stirn.

„Sicher nicht mehr?“

„Nein“, lüge ich gerade heraus und eigenartig unbeirrt.

„Wieso willst du mich dann nicht sehen?“ Ich lasse die Einhörner sinken.

„Rick, ich…“ Am anderen Ende der Leitung bleibt es auffällig still. „Ich will einfach... ich...“ Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich weiß nicht einmal, was ich fühlen soll. Mein Kopf und mein Herz sind sich uneins und es macht mich wahnsinnig.

„Okay, wenn du Zeit brauchst, dann nimm sie dir.“, sagt er zögerlich. Er versucht neutral zu klingen, gefasst, aber ich höre deutlich, dass er sich vor den Kopf gestoßen fühlt. Vor ein paar Stunden haben wir noch miteinander geschlafen. Wir waren uns so nah, wie man sich nur sein kann. Nun stoße ich ihn wieder fort. Mein Blick gleitet unruhig zum Tisch, auf dem die Briefumschläge ruhen.

„Schließ mich nicht aus, okay?“, flüstert Richard.

„Werde ich nicht“, versichere ich und meine es auch so. Es gibt nur zu viele Dinge, die ich selbst erst mal verstehen muss.

„Du fehlst mir. Pass auf dich auf.“ Damit legt er auf. Mit geschlossenen Augen lasse ich das Handy sinken und spüre mit einem Mal einen heftigen Schmerz in der Brust. Er verebbt nur langsam. Pochend. Dröhnend. Meine Hände ballen sich zu Fäusten und ich zerbrösele die Einhornflakes in meiner Hand zu Krümel. Ich schere mich nicht darum, dass die Reste den Boden verschmutzen. Das grinsende Einhorn auf der Cornflakes-Packung blickt mir übertrieben begeistert entgegen und ich fühle keinerlei Bedürfnis, es zu erwidern. Ich stelle Pappe und Beutel zur Seite und fische vorher nach weiteren Flakes in der Öffnung. Ich stecke mir ein paar der Einhörner in den Mund und zerkaue sie trocken. Trotz der extremen Süße schmecke ich den Hauch von Zitrone, der es irgendwie angenehm macht. Ich esse eine weitere Handvoll und stelle die restlichen Lebensmittel an ihren Platz. Danach haben die Briefe meine volle Aufmerksamkeit.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück