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Behind the Wall

Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft
von

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Der Funken Wahrheit in jeder Lüge

Kapitel 31 Der Funken Wahrheit in jeder Lüge
 

Ich lasse das Handy sinken, ohne den Anruf des alten Detectives zu beenden und behalte es in der Hand, sodass das Display nach hinten zeigt. Ich hoffe inständig, dass Moore dranbleibt und den Wink versteht.

„Steven“, bemerke ich absichtlich laut, schaffe es aber nicht, den aufgeregten Hüpfer aus meiner Stimme zu verbannen. Auch nicht, das eruptive Beben meiner Hände zu unterdrücken. Als er die letzten Schritte tilgt, verbraucht es auch den übrigen Rest meiner Fassung und ich bleibe nur stehen, weil mich die Angst lähmt.

„Ellen… Elien… Eileen… oh warte, Lee oder? So war es doch, nicht wahr? Ich bin neugierig. Ist dieser Richard der Einzige, der dich so nennt? Geht dir dabei einer ab?“, faselt Steven freimütig vor sich hin, beugt sich leicht vor und ich rieche dieses penetrante Eau de Toilette an ihm, welches einem nachts Albträume beschert. Jeder Muskel in meinem Körper reagiert darauf, spannt sich an, zuckt und schreit. Ich frage nicht, woher er es weiß, antworte auf keine seiner Fragen, sondern beobachte ihn mit Obacht. Jedes Wort ruft ein Beben der furchterfüllten Abscheu hervor. „Hat´s dir die Sprache verschlagen? Wie schade, aber was solls, wir haben gleich genug Zeit zum Plaudern. Aber es gibt noch eine kleine Planänderung.“ Steven zieht einen Schlüsselbund hervor und lässt diesen klimpern. Ich erkenne ein paar der Schlüssel wieder.

„Wurdest du jetzt zum Lieferjungen degradiert?“, spotte ich vollkommen deplatziert, „Ach nein, was sag ich, das Botenäffchen warst du ja schon vorher.“

„Fuck you, de Faro!“, bricht es in einem kurzen Anflug von Wut aus ihm heraus, die jedoch sogleich wieder abflaut und als ein Grinsen im schmalen Gesicht des anderen Mannes verbleibt. Er erinnert mich an einen Geier, der sich euphorisch auf das vor ihm liegende Aas stürzt. Nun fügt sich auch der unangenehme Gestank an ihm ins Bild ein.

„Dann war die Nachricht von dir? Du hast mich zum Dark Orange gelockt? Jaron hat rausbekommen, dass ich mich hier schon mal mit Richard getroffen habe und er hat´s dir erzählt?“, frage ich laut und öffentlich deutlich, sodass Moore es mitbekommt. Steven grinst und wiegt seinen Kopf hin und her, ohne eindeutig zu antworten.

„Kannst du dir vorstellen, Jaron denkt wirklich, ich habe geplaudert. Ich! Weißt du, nach all den Gefallen, die ich ihm getan habe, sollte er es doch besser wissen.“ Gefallen. Er nennt es Gefallen. Das Eindringen in meine Privatsphäre. Die Torturen. Die Angst.

„Na na na, du bist nicht der verfickte Moralapostel, der du vorgibst zu sein. Du hast es verdient, das wissen wir beide.“

„Und warum hast du es getan? Hat es dir nicht gereicht, mich auf Arbeit zu nerven? Was bringt es dir? Geld? Das kann nicht alles sein.“, frage ich zögerlich und doch mit nervenzerrender Neugier, denn genau das verstehe ich nicht. Das Warum. Die Motive. Strenggenommen gilt es für beide, Jaron und Steven.

„Würde es dich verwundern, wenn es nur das Geld ist? Nichts weiter?“ Ich glaube ihm nicht. „Genug geplauscht. Lauf schon los, sonst kommen wir zu spät zu unserem Dreier“, verlangt er mit wachsender Ungeduld und weicht so meinen Fragen aus.

„Nein“, sage ich ruhig. Im Inneren schreie ich es laut aus und balle als einzigen Hinweis meine freie Hand zu einer Faust. Ich will nicht mit ihm gehen, will keine Sekunde länger mit ihm allein sein. Alles in mir weigert sich. Die gestaltlose Vorahnung voller Dunkelheit ist wie ein unangenehmes Beben auf meiner Haut. Das Wanken einzelner Härchen, welches zum tobenden Kaventsmann wird, je länger meine Vorstellung arbeitet.

„Nein? Du wirst“, mahnt er an und kein Körnchen Scherz bleibt zurück. Seine Stimme gleicht einer Lawine, deren Druck meinen Schädel spaltetet.

„Sag mir erst, wohin es geht.“ Als er erneut anfängt, mischt sich gespielte Ruhe in seinen Tonfall. Das alarmiert mich nur noch mehr. „Eine Bar ist doch kein Ort, um sich in Ruhe zu unterhalten, findest du nicht auch? Zu viele Leute. Zu Laut. Vorwärts!“ Er stößt mich nach vorn und ich stolpere ein paar Schritte voran. Daraufhin bleibe ich stehen, spüre ihn noch im selben Moment dicht am Rücken und wie er meinen Arm packt. Es zwiebelt bis in meine Fingerspitzen und vorsichtig schiebe ich mein Handy in die Jackentasche. „Denk nicht mal daran, irgendeinen Scheiß zu machen. Du weißt, dass nicht lange diskutiert wird bei Verstößen gegen die Bewährungsauflagen. Eins, zwei und du bist wieder im Knast und diesmal wirst du gefickt, dafür würde ich sorgen“, droht er ruhig, „Weißt du, das Witzige ist, in unseren Personalakten stehen auch die Namen unserer Bewährungshelfer. Glaub es oder nicht, aber ich war überrascht als ich feststellte, dass wir auch das gemeinsam haben. Ich könnte überaus interessante Bilder mit ihm teilen. Gleich hier und jetzt. Also, ein letztes Mal. Geh! Sonst werde ich ungemütlich.“ Die Bilder beweisen, dass ich mehrfach grob gegen die Auflagen verstoßen habe. Richard zu sehen, ist ein schwerwiegender Verstoß, der einen Widerruf der Bewährung zur Folge hätte. Für die vier ausgesetzten Jahre müsste ich dann zurück ins Gefängnis. Es fühlt sich langsam wie ein unausweichliches Schicksal an. Nichtsdestotrotz gehorche ich, laufe los und bin erleichtert, als ich zwischen mir und Steven mehr Entfernung bringen kann. Allein seine Nähe ist ein Hagelschauer an Bitternis und Angstgefühl. Abwechselnd und gleichzeitig. Immerwährend.

„Wohin gehen wir?“, erfrage ich erneut.

„Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, der neue Firmensitz ist hier in der Nähe.“ Es ist mir nicht bewusst, denn sonst komme ich von der anderen Seite der Stadt. „Da sollte man doch meinen, dass man sich verbessert und nicht verschlechtert, wenn man die Firma in den Finanzdistrikt umziehen lässt, aber … egal. Dort haben wir zu mindestens unsere Ruhe und zum Glück weiß ich, dass seit einer Woche einige der Wirtschaftshallen leer stehen. Was für ein Zufall! Diese dekadenten Scheißkerle in der Chefetage kriegen den Hals nicht voll“, bellt er zynisch von einem Moment auf den nächsten. Ein Passant dreht sich zu uns um. Dieser ständige Wechsel zwischen ruhigem Flüstern und lautem Wahn macht es immer unangenehmer. Ich schaue einfach gerade aus und lasse den anderen Mann reden. Ihm habe ich auch nichts zu sagen und ich hoffe, dass er nicht mitbekommt, dass ich den Anruf zu Moore noch immer aufrechterhalte. Hoffe ich zu mindestens. „Weißt du warum Barson solche wie uns einstellt? Wir sind so schön billig und es gibt einen Eingliederungszuschuss. Geldsäcke kriegen noch mehr Geld. Noch dazu kann er uns einfach feuern, wenn er uns nicht mehr will oder braucht. Ganz einfach. Hochrisikoangestellte nennt Barson das. So ein scheiß Heuchler.“

„Er hat dich nicht einfach gefeuert. Du hattest mehrere Abmahnungen und…“

„Tze, hat dir das diese Schlampe Kaley erzählt?“ Ich bleibe abrupt stehen, doch sofort spüre ich Stevens Hände, die sich hart in meinen Rücken stoßen. „Wow, Kaley bringt dein Blut zum Brodeln? Wie süß. Schade für sie, dass dir Schwänze lieber sind.“

„Halt einfach deine Klappe!“, knurre ich. Zu dem panischen Zittern mischt nun noch Wut, die meine Stimme ungewöhnlich rau klingen lässt. Er soll ihren Namen nie wieder in den Mund nehmen. Nicht mal an sie denken.

„Oh, wird der kleine Lee endlich bissig? Hat was. Weißt du, was ich mich die ganze Zeit frage?“

„Ich wills nicht wissen.“ Wieder spüre ich, wie mich seine Hand heftig im oberen Rücken trifft und nach vorn stößt. Beinahe verliere ich das Gleichgewicht vollständig, schaffe es aber, meinen Sturz mit der Hand abzufangen. Meine Handinnenfläche trifft auf den porösen Stein eines am Straßenrand stehenden Pollers und ich bemerke sofort, wie die dünne Haut dort aufreißt. Der plötzliche Schmerz wird pochend und verweilt im Hintergrund, als ich mich wieder in Bewegung setze, ohne die Miene zu verziehen oder ein verräterisches Geräusch von mir zu geben.

„Wo bleiben denn deine Manieren?“

„Die habe ich gerade in der Faröerstraße abgegeben“, presse ich hervor und bin für einen Moment froh, dass wir bereits an der richtigen Adresse angekommen sind. Ich bete dafür, dass Moore noch immer in der Leitung ist und dass er es gehört hat. Was auch immer er tun kann.
 

Die Gestalt, die vor der Lagerhalle steht, tippt aufgebracht auf einem Smartphone herum, während sie zusätzlich eine angezündete Zigarette hält. Das orangefarbene Glimmen leuchtet auffällig in den dunklen Schatten, als er einen schnellen Zug nimmt. Der entlassene Qualm verschwimmt mit dem Dunst des dämmernden Lichtes. Er schreitet unruhig hin und her, bis er sich das Handy ans Ohr hält und es in Stevens Hosentasche zu klingeln beginnt. Erst als wir näherkommen und er den lautdröhnenden Song vernimmt, legt er wieder auf. Jarons Gesichtsausdruck spricht Bände.

„Verdammt Pfennig, was soll der Scheiß?“, fragt Richards Freund aufgebracht, läuft auf meinen ehemaligen Arbeitskollegen zu und packt ihn am Kragen der Jacke. Steven grinst, lässt sich heranziehen, ohne sich gegen ihn zu wehren. „Du solltest dich zurückhalten. Verdammt noch mal. Was will der hier? So war das nicht geplant.“ Den letzten Teil zischt er und beinahe hätte ich es nicht gehört. Erst jetzt wendet sich Jaron mir zu. Er hätte direkt vor mir stehen können und ich hätte ihn nicht als den Jugendfreund von Richard erkannt. Wahrscheinlich hat er das in den letzten Wochen sogar ein paar Mal und es war mir nicht bewusst. Einzig der unverkennbare Geruch von Zigaretten aktiviert die Erinnerungen bei mir und es sind wahrlich keine guten. Der Moment vor dem U-Bahnhof. Beim Kino.

„Ich tue euch nur einen Gefallen und hab meinen Spaß“, sagt Steven mit diesem unterschwelligen arroganten Ton und deutet in meine Richtung. „Hier ist der perfekte Ort. Schreit euch an, so laut ihr wollt! Macht euch fertig. Niemand wird euch hören oder sehen. Wir sind ganz unter uns. So wolltest du ihn doch haben, ausgeliefert und blank.“ Mir läuft es eiskalt den Rücken runter und die zunehmende Anspannung lässt mich kaum mehr atmen. Jaron entlässt Stevens Jacke, stößt ihn leicht zurück und weicht selbst ein paar Schritte zurück.

„Das wird hier keine Piepshow, Pfennig“, knurrt Jaron dem anderen Mann entgegen. Er sieht sich mit Missfallen um und ich achte auf jede ihrer Bewegungen. Ich bemerke das kurze Zögern und sehe den Seitenblick, den Jaron in Stevens Richtung wirft. Als würde er selbst gegen eine Unsicherheit ankämpfen. „Scheiße.“ Er flippt die Zigarette davon.

„Nicht so schön, wenn man die Kontrolle im eigenen Spiel verliert“, presse ich hervor und spüre diesen kühlenden Hauch der Genugtuung, als ein Funken Zorn über Jarons Gesicht flackert wie Blitze im faradayschen Käfig. Den Drang, etwas zu erwidern, wird durch sein Handy unterbrochen und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, erheitert ihn der Anruf keineswegs. Jaron flucht. Leise, aber dringlich. Er wirft uns einen warnenden Blick zu, ehe er rangeht.

„Richard. Hey.“ Richard. Sein Name allein zwingt mich zur vollen Aufmerksamkeit und unwillkürlich mache ich einen Schritt auf Jaron zu. Er stoppt mich mit einer einfachen Handbewegung. „Ja, entschuldige, ich verspäte mich. Ja… ich… Geh schon mal in die Bar. Bestell uns eine Runde Moscow Mule, hörst du.“ Das beständige Echo in meiner Brust wird stärker. Neben der angespannten Furcht und Obacht mischt sich augenblicklich Sorge hinzu. Meine Hände ballen sich zur Faust, als sich Ricks Freund von uns abwendet und seine nächsten Worte durch die Stadt weggetragen werden.

„Was?“, sagt er plötzlich laut, „Hey, what the hell, Richard. Shit…dieser sture Bastard.“ Fluchend quetscht Jaron das elektronische Rechteck zurück in die Hosentasche und dreht sich zu uns um. Ich sehe, wie sein Kiefer arbeitet, wie sich seine Zähne vermutlich knirschend aufeinander bewegen. Doch hören kann ich es nicht. „Das ist doch alles ein schlechter Scherz.“ Er flucht erneut.

„Das denke ich mir schon seit Wochen“, entflieht es mir zwischen mehreren Fucks und Shits und während ich Jarons flatterige Anspannung beobachte. Er hatte schon immer nur eine große Klappe, aber keinerlei Substanz. „Und was wird das jetzt hier?“, frage ich in die spannungsangereichte Luft und richte es an beide. Jarons Kiefer zuckt und sein Blick huscht zu Steven, ebenso wie meiner. Seinem Blick halte ich nicht lange stand, denn er dringt so tief in mich ein, dass es mich fast aushöhlt und nichts als eisiger Schauder zurückbleibt.

„Ich kann mich jetzt nicht damit befassen…“, verkündet Jaron unruhig. Er ist ein feiger Mitläufer, war er immer gewesen. Die Beschimpfung liegt mir auf der Zunge, doch ich sage es nicht, weil Steven erneut anfängt zu lachen. Er ist der einzige, dem das hier Freude bereitet. Ich fürchte mich davor, erneut allein mit ihm zurückzubleiben. Also mache ich aus meiner Not eine Chance, in der Hoffnung, dass Moore auf dem Weg ist.

„Aber du bist mir Antworten und Erklärungen schuldig“, lasse ich verlauten und sehe mit Genugtuung, wie seine Schultern sich anspannen.

„Ich schulde dir gar nichts. Du bist ein…“ Jaron stoppt.

„Was bin ich?“ Er knurrt, statt zu antworten. „Ja, zieh den Schwanz ein. Wie früher. Ich weiß, was du bist… Ein feiger Idiot.“

„Halt die Klappe!“, brüllt er mir zu. Seine Worte sind harsch und hastig. In einem Anflug puren Zorns tritt er auf mich zu und bleibt doch mit genügend Abstand zu mir stehen.

„Nein, all diese Vermutung, aber bist du kein einziges Mal auf die Idee gekommen, zu fragen, was Richard dazu zu sagen hat! Woran liegt es wohl, hä? Du bist ein verdammter Narr.“

„Ich weiß, was Richard sagen und tun würde. Er nimmt dich in Schutz. Er nimmt dich schon immer in Schutz. Warum hätte ich ihn fragen sollen, damit er mir genau diesen Unfug bestätigt?“

„Du hast also nicht den Mumm, ihn wirklich zu fragen“, wettere ich zurück und Steven beginnt, ekstatisch zu klatschen.

„Oh ja, es wäre so viel besser, wenn er auch hier wäre. Vielleicht bestellst du ihn her. Immerhin wartet er eh schon auf dich“, schlägt Steven vor und mir läuft es bitterkalt den Rücken hinab, wenn ich daran denke, dass vermutlich zwischen seiner und meine Ankunft im Dark Orange nur wenige Minuten lagen.

„Nein, nein… wir halten ihn da raus“, bitte ich prompt, stolpere über meinen hektischen Gedankenkreisel. Steven lacht.

„Ach fuck you, Steven, das hier ist schlicht und einfach eine Farce. Was mischt du dich überhaupt ein, du hast gefälligst nur…“, wettert Jaron los, Wut ungefiltert. Er bedient sich diesem despektierliche Augenrollen, aber er schafft es nicht, seinen Satz zu Ende zu bringen. Mit schnellen Schritten tilgt Steven den Abstand zwischen ihm und Jaron. Es ist so überraschend, dass Richards Freund nur fahrig reagiert, als der andere Mann ihn am Kragen packt und im nächsten Moment das Handy aus seiner Tasche zerrt. Auch ich spüre, wie mein Puls zu beben beginnt, als mein Blick bei dieser Aktion zufällig auf das Messer an seiner Hose fällt, welches hinter der Jacke hervorblitzt. Es gab solche Situationen auch im Gefängnis. Nicht oft, aber es gab sie. Die Spannung war zu spüren, flimmerte durch den Raum wie Kohlenmonoxid. Still und tödlich.

„Hol ihn her“, wiederholt er leise, bedrohlich. Ohne die Warnung zu formulieren. Die Starre breitet sich in mir aus, obwohl er es nicht an mich richtet. Doch auch Jaron nimmt den Ernst wahr und das, was ich in seinem Gesicht sehe, gibt mir kaum Hoffnung. Steven ist gefährlich und das scheint auch er zum ersten Mal wirklich zu begreifen. Das hier ist kein Spiel mehr. Jaron reißt ihm sein Handy aus der Hand und tippt eine Nachricht. Danach starren sie sich an, bis das Handy ein einzelnes Geräusch von sich gibt. Eine Nachricht. Jaron schluckt und wendet seinen Blick ab.

„Er ist in 10 Minuten hier“, sagt Jaron und ich schließe entmutigt die Augen.
 

Es sind die härtesten Minuten meines Lebens und als ich die vertraute Stimme vernehme, versagt es mir, all den Schmerz herausschreien. Ich bleibe still, spüre die gesammelte Schuld stetig in mir wachsen.

„Jaron, was für einen verdammten Zirkus veranstaltest du?“, fragt Richard, als er näherkommt. Ich will nicht, dass er hier ist. Doch ehe ich etwas sagen kann, ihnen warnen kann, ergreift Richard erneut das Wort. „Was zur Hölle ist hier los?“ Seine Stimme ist fordernd und er schaut mit steinernem Blick zu seinem besten Freund, flackert zu Steven und erdet sich schlussendlich bei mir. Es dauert, bis die Kälte gänzlich verschwunden ist. Doch dann macht sie einer tiefsitzenden Sorge Platz. Er will Antworten. Ich möchte sie auch. Rick hält sich zurück, doch ich bemerke die kleinsten Andeutungen, die unscheinbaren Zuckungen in meine Richtung. Jaron scheinbar auch, denn er stellt sich mit wenigen Schritten zwischen uns. Ich schiele vorsichtig in Stevens Richtung.

„Dann ist es also wahr? Du steckst hinter dieser ganzen Scheiße hier?“

„Spielt keine Rolle“, entgegnet sein bester Freund mit knirschenden Zähnen, „Und das ist auch nicht das Thema.“

„Okay, was ist dann das Thema, Jaron? Was, um alles in der Welt, denkst du dir dabei?“

„Ich versuche nur, dich zu beschützen und für Gerechtigkeit für den Tod deines Vaters zu sorgen.“

„Bist du verrückt geworden?“, pfeffert mein Kindheitsfreund bei der Erwähnung Renard Paddocks los, „Jaron, ist das dein Ernst? Bist du vollkommen bescheuert? Wie verdammt nochmal soll das, was du tust, irgendwas davon bewerkstelligen?“ Richard baut sich vor ihm auf und lässt keinen Zweifel daran, was er von alldem hier hält.

„Du bist so blind, Richard.“, spottet Jaron, „So verbohrt und naiv.“

„Naiv? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du nicht annährend in der Position bist, so etwas zu sagen. Er und ich sind die einzigen, die wirklich wissen, was damals alles geschehen ist. Und niemand anderen geht es etwas an. Dich nicht. Wer auch immer der da ist. Niemand. Nur mich und Eleen.“

„Und das ist dein Fehler. Das ist es schon die ganz Zeit. Deine verbohrte und völlig falsche Einschätzung. Mich geht es ebenso etwas an.“

„Ich bitte dich“, wirft ihm Richard verächtlich zu.

„Siehst du, du behauptest immer, du wärst nicht wie dein Vater und doch stehst du hier und lässt mich eiskalt abblitzen. Wir sind zusammen aufgewachsen, Richard. Ich habe diesen ganzen Scheiß hautnah mitbekommen. Dir war es nie wichtig, aber für mich war er wie ein Vater, denn ich hatte nie einen. Ich will Gerechtigkeit, denn zu mir war er immer gut.“

„Wow, im Ernst? Reiß dich mal zusammen oder willst du mir als nächstes weißmachen, dass du davon überzeugt bist, mein lang verheimlichter Bruder zu sein.“

„Es wäre doch gut möglich, immerhin wusste jeder in dieser verdammten Firma, dass er mit meiner Mutter eine Affäre hatte“, brüllte Jaron Richard mitten ins Gesicht. Ich habe sie früher bereits streiten sehen. Doch diesmal ist es anders. Es ist rauer. Die Emotionen in ihren Gesichtern sind roh und messerscharf. Sie werden sich nicht zurückhalten, denn dafür gibt es keinerlei Grund mehr. Richard seufzt laut und genervt auf.

„Mein Vater war ein arrogantes Arschloch und dieser Fakt ist nichts neues. Aber das hier, das ist alles kompletter Unsinn.“

„Wie kannst du dir so sicher sein? Alles passt.“

„Warum ich sicher bin? Du Depp, es existiert ein Testresultat.“

„Was?“

„Es gibt einen DNA-Test, Jaron, der eindeutig ausschließt, dass wir miteinander verwandt sind. Meine Mutter hat Bescheid gewusst, okay? Sie wusste von all den Affären und Scherereien. Glaubst du wirklich, dass sie nach seinem Tod nicht geprüft hat, ob es irgendwelche unehelichen Kinder gibt? Lass uns gemeinsam in die Firma fahren und dann zeige ich es dir.“ Richard streckt energisch die Hand aus und verdreht erschüttert die Augen.

„Du wusstest es die ganze Zeit?“

„Natürlich, aber mir war nicht klar, dass du und deine Mutter es scheinbar nicht wussten. Hast du dir deswegen all diesen Mist ausgedacht?“ Richard stößt Jaron mit beiden Händen heftig gegen die Brust und er taumelt. Für ihn ist es eine Überraschung, seinen Freund so zu sehen. Es ist eine Farce. Was hat er erwartet? Jaron vergrößert den Abstand zwischen ihnen nicht, sondern schließt direkt wieder zu Richard auf. „Warum bist du nicht zu mir gekommen? Warum verdammt nochmal willst du der Sohn dieses Mistkerls sein. Haben dich meine beschissenen Erfahrungen mit ihm nicht zur Genüge abgeschreckt? Was ist dein verdammtes Problem?“, brüllt Rick kontrolliert und packt seinen Freund danach am Kragen. Stoff reißt und eine Naht platzt, so viel Wucht steckt in Richards Griff. Plötzliche sehe ich Renard Paddock erneut fallen, höre den dumpfen Aufschlag durch den hohen Raum hallen.

„Er ist mein Problem. Er hat ihn getötet. Er war selbstsüchtig und eigennützig und auch wenn er nicht mein Vater war, war auch unser Leben von dieser verdammten Firma abhängig“, wettert Jaron inbrünstig zurück. Die Härte seiner Stimme und die absolute Kälte darin lässt mich zurückzucken. Er ist so voller Wut und unendlichem Zorn. „Eine simple Jugendstrafe? Bewährung? Er ist ein kaltblütiger Mörder und du siehst dabei zu. Schlimmer noch, gehst auch noch mit ihm ins Bett“, spuckt er in Richards Richtung und schaut zu mir.

„Herrje, Jaron, halt einfach die Klappe!“, gibt Richard mit zusammengebissenen Zähnen von sich. Er kämpft.

„Er hat alles kaputt gemacht, höre endlich auf, ihn in Schutz zu nehmen. Verdammt Richard, wie verblendet bist du eigentlich? Wie konntest du das alles zulassen?“, brüllt Jaron aufgebracht.

„Zulassen? Du begreifst gar nicht, wovon du redest! Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was mein Vater uns zugemutet hat“, kontert Rick ebenso energisch. Diesmal ist die Schärfe deutlicher zu spüren. Das letzte Mal, als ich ihn die Stimme erheben hörte, war es dieser eine Tag. Die Vergangenheit holt uns ein und trifft uns mit ebensolcher Härte. Richards Hände sind zu Fäusten geballt.
 

„Aber ich weiß es! Und ich denke, wir sollten uns schleunigst alle beruhigen.“ Detective Moores Stimme lässt mich zusammenzucken, auch wenn seine plötzliche Präsenz eine unerwartete Erleichterung mit sich bringt. Wir sehen alle drei zu ihm. Sein Gang ist zurückhaltend, als er auf uns zu schreitet. Schritt für Schritt tastet er sich heran, wie an einen am Abgrund stehenden Springer. Ich fühle den Luftzug, der einen weiteren Schwall Vergangenheit mit sich bringt und eine Briese Hoffnung. Sein rechter Arm ist dezent angewinkelt und seine Hand streicht über die Seite seiner Jacke, in der Polizisten normalerweise ihre Pistolenholster haben. Mir wird angst und bange, obwohl ich weiß, dass der Detective nicht mehr im aktiven Dienst ist und keine Waffe bei sich tragen wird. Was er jedoch nicht weiß, ist, dass Steven bewaffnet ist.

„Moore“, stellt Richard bitterkalter Ruhe fest, „Wieso überrascht es mich nicht, Sie hier zusehen?“

„Wer ist das?“, fragt Steven scharf und ablehnend. Auch seine Haltung ändert sich.

„Niemand. Er tut nichts zur Sache“, beantworte ich schnell, ehe einer der anderen Parteien etwas Verdächtiges äußern kann. Ich vermute, dass Steven auf die Anwesenheit eines Polizisten nicht sonderlich gut reagieren wird.

„Schön wär´s. Wollen Sie weiteres Öl ins Feuer gießen, Moore? Dann los, es brennt eh schon lichterloh“, stichelt Rick gegen den alten Detective.

„Das schafft ihr ganz allein, wie es mir scheint. Also, wenn ihr mich fragt, wäre es besser, wenn wir jetzt alle unserer Wege gehen.“

„Dich fragt niemand, alter Mann“, bellt Steven Moore barsch an. Beide machen einen Schritt aufeinander zu.

„Du hast von allen am Wenigsten das Recht, dich einzumischen. Wer bist du überhaupt?“, harscht Richard in Stevens Richtung und ich tilge die kurze Entfernung, die zwischen uns liegt. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, greife seinen Ärmel. Es ist nur eine Armlänge zu ihm.

„Nicht“, flüstere ich und schüttele, ohne ihn anzusehen, den Kopf.

„Lee, was…“, setzt Rick an und seine Stimme stolpert über die im Raum stehenden Fragen, wie ein Blinder über löchrigen Asphalt.

„Du begreifst es immer noch nicht, oder?“

„Steven, halt die Klappe!“, fordert Jaron.

„Warum, jetzt ist der perfekte Moment gekommen, deinen Masterplan zu offenbaren. Du hast so viel Energie und Zeit hineingesteckt.“

„Sei still…“ Schwach. Es ist kaum mehr übrig als ein Flüstern des einstigen Stolzes.

„Wieso? Willst du nicht, dass alle erfahren, dass sie es dir zu verdanken haben, dass ihr überhaupt ein Wiedersehen feiern konnten?“

„Was?“, frage ich verwundert. Rick scheint es schneller zu verstehen.

„Jaron hat der Firma den Auftrag vermittelt, wegen dem ich die zwei Wochen U-Bahn gefahren bin. Deswegen sind wir uns… Er hat mich an dem Tag sogar aufgehalten, sodass ich genau diese Bahn nehmen musste…“, erklärt Richard. Sein Blick ist die meiste Zeit starr auf Jaron gerichtet, doch beim letzten Teil sieht er zu mir. Der Schmerz in seinem Blick sitzt tief. „Wieso hast du…“

„Ich habe das Schreiben der Anwälte über seine Entlassung bei dir gefunden. Und ein paar Tage später hast du diese verfluchten Briefe rausgeholt. So viel Zeit ist vergangen und du kommst einfach nicht von ihm weg. Dann hast du dich von Rahel getrennt und… das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich war so enttäuscht von dir, also begann ich zu recherchieren.“

„Recherchieren?“, wiederholt er ungläubig, „Ich kann einfach nicht fassen, dass du die ganze Zeit so eine verfickte Show abgezogen hast und auch noch die Frechheit besitzt, dich regelmäßig für ein Bier bei mir einzuladen und so zu tun, als würdest du mich unterstützen. Jaron, das ist dermaßen armselig. Du kriegst dein eigenes Leben nicht auf die Reihe und gibst nun Lee die Schuld? Wie kannst du es wagen?“

„Ach komm, also ob es in deinem Leben besser aussieht. Was hast du denn getan, außer im Mitleid zu schwelgen und deine Entscheidungen damit zu entschuldigen, dass es deine Mutter gesagt hat. Wärst du so mutig, wie du es darstellst, dann hättest du ihr längst die Stirn geboten. In mehr als einer Situation“, erwidert er mit Nachdruck. Richard ballt seine Fäuste und die Sehnen an seinem Hals treten hervor. Es folgt die nächste Salve an Schuldzuweisungen und Vorwürfen. Ich spüre, wie langsam, aber sicher etwas in mir verdorrt.

„Hört auf“, flüstere ich in das Stimmengewirr hinein, doch keiner der Anwesenden scheint mich wahrzunehmen.

„Du elender Mistsack, ich hatte keine wirkliche Wahl und das weißt du ganz genau“, pfeffert Richard Jaron entgegen. Es wird noch schlimmer, als auch Moore einsteigt.

„Himmelherrgott, begreift ihr nicht, euer verdammtes Lügengespinst ist es, das jetzt alles eskalieren lässt…“

„Keiner von euch begreift, was passiert ist“, hält Richard dagegen und seine Fäuste zucken, als er Moores Einwurf unterbricht.

„Das ist längst nicht mehr der Fall, Richard. Ich weiß schon lange, dass ihr gelogen habt. Ich weiß, dass Eleen nicht für den Tod deines Vaters verantwortlich ist.“ Beide Männer funkeln sich gegenseitig an. Ich kann sehen, wie Rick mit seinen Gefühlen kämpft, wie sein Kiefer arbeitet. Zuerst aus ablehnender Furcht. Dann aus verzweifeltem und reuevollem Verzehren. Er würde Detective Moore so gern Recht geben, doch das lasse ich nicht zu. Die Schuld in seinem Gesicht sucht mich nicht nur in meinen Träumen heim.

„Was?“, entflieht es Jaron entgeistert, als Moore die Scharade offenbart.

„Eleen hat Renard Paddock nicht getötet. Er hat nur die Schuld auf sich genommen, weil er noch nicht volljährig war. Aber Richard hier, hat zugelassen, dass Eleen für ihn ins Gefängnis geht“, klärt der Detective mit Deutlichkeit auf und spricht damit ein Teil der Wahrheit aus. „Ist es nicht so?“

„Du warst auch dort? An dem Abend? Ist das wahr?“ Mit diesen Worten, die so viel Anschuldigung und Wut in sich tragen, sehe ich, wie Richard weiter in sich zusammenfällt. Seine Schultern sacken ab und seine Lippen beben unkontrolliert, bis er sie zusammenpresst.

„Ich wollte nie, dass ...“, setzt er an. „Es war…“

„Hört auf!“, rufe ich. Ein verzweifelter Versuch, noch irgendwas zu verhindern, doch es ist zu spät.

„Du hast es aber zugelassen, obwohl du wusstest, dass dich die Anwälte deiner Familie niemals hätten ins Gefängnis gehen lassen. Du hast zugelassen, dass er die Schuld für den Tod deines Vaters auf sich nimmt“, brüllt Moore ungehalten und schonungslos. In seiner Stimme schwingen die angesammelten Frustrationen der vergangenen Jahre. Rick schließt wissend seine Augen und beißt die Zähne zusammen.

„Scheiße, das habe ich und ich hasse mich dafür. Ich hasse mich seit sieben Jahren dafür und würde alles geben, um es ändern können.“ Seine Worte hängen im Raum und verweilen, wie der bittere Geschmack von Grapefruits.

„Rick, nicht. Es ist meine Schuld. Wegen mir kam es zum Streit und… ich war es“, sage ich in die Stille hinein und Richards traurig schimmernde Augen sehen zu mir.

„Das ist nicht wahr. Es war ein Unfall. Ein beschissener Unfall. Um Himmelswillen, Eleen, sie haben damals ein Exempel an dir statuiert und viel zu sehr auf die Aussagen meiner Mutter gehört. Hätte ich bereits damals gewusst und schneller begriffen, wohin es führen wird, dann hätte ich dich niemals dort zurückgelassen.“ Er macht ein paar Schritte auf mich zu, doch ich blocke ihn ab und weiche zurück.

„Nein, Rick.“

„Hör mir doch zu...“

„Nein, hör mir endlich zu!“, sage ich eindringlich, „Ich war nicht ehrlich zu dir.“ Richard hatte darum gebeten, als wir vor einer Weile zusammen auf der Couch saßen. Doch ich konnte es damals nicht. Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich wollte es nur vergessen. Seine Aufmerksamkeit ist mir nun gewiss und ich wünschte, ich müsste es nicht tun.
 

„Dein Vater hat noch gelebt, als du gingst.“ Ich klinge gefasst, doch in dem Moment, in dem die Worte meinen Mund verlassen, fegt ein Monsun voller Schuld, Furcht und Trauer über mich hinweg.



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