Seelensplitter (2/2)
Siebzehnter Teil
Kids roten Haare waren nun beinahe vollständig von Laws weißem Hut mit den wenigen grauschwarzen Punkten verdeckt; nur an der Stirn, den Ohren und im Nacken kämpften sich rebellische Strähnen in die Freiheit. Die malerische Ironie, die sich vor ihm darlegte, ließ den Studenten den Kopf schütteln, während er nahezu gerührt grinste. Selten hatte er sich mit der Perspektive eines Patienten intensiv auseinandergesetzt, denn bisher hatte er nie einen Grund dazu gehabt. Ebenso hatte er sich niemals gefragt, was die Diagnose einer psychischen Erkrankung für die Betroffenen tatsächlich bedeutete. Law konnte inzwischen nicht mehr leugnen, dass ihm etwas an dem rothaarigen Idioten lag und so erfüllte ihn allein die Vorstellung von dessen Erlebnissen in den letzten fünf Jahren mit Mitgefühl. „Der Hutmacher war immer meine Lieblingsperson“, erzählte Law schließlich und freute sich über das dankbare Mienenspiel, das sein Geständnis auf Kids Gesicht zauberte.
Eine Zeit lang schwiegen die beiden jungen Männer, als hätten sie Angst, die besondere Atmosphäre, die sich gerade über den Raum gelegt hatte, zu zerstören. Unsicher schlenderte Kid schließlich an Law vorbei, schnappte sich den Wein vom Boden und ließ seine Daumenspitze gedankenverloren über die runde Öffnung am Flaschenhals kreisen. „Dein Onkel…“, begann er anschließend und sicherte sich somit im Bruchteil einer Sekunde Laws ungeteilte Aufmerksamkeit, „versuchte mich verstehen zu lassen, was genau in meinem Kopf passierte. Er meinte, ich wär nen Analytiker und wenn ich es verstehen würde, dann könnte ich damit leben…“ Law schmunzelte, als er sich über die Raffinesse seines Familienmitglieds freute. Der alte Mann hatte mehr auf dem Kasten, als er ihm bisher zugestanden hatte. Ein Blick auf die Wände dieser Wohnung genügte, um zu begreifen, wie sinnvoll der Plan seines Onkels damals gewesen war.
„Mir gefiel die Idee und ich hab den ganzen Schrott gelesen… Bücher und Studien und son Mist. Ich kannte die Medis und wusste am Ende alles über Hirnareale, Hormone und Blockaden und den Scheiß…“, erklärte Kid und fuchtelte genervt mit den Händen vor seinem Gesicht, als würde er das gesamte Wissen symbolisch aus seinem Kopf wedeln wollen. „Aber es hat nicht geholfen?“, Law war sichtlich überrascht. Die Idee seines Onkels hatte so einleuchtend geklungen, der Plan lukendicht, dennoch schüttelte Kid den Kopf. „Ich hab es nicht verstanden… Also schon die Texte und den Kram… Aber die Sache an sich. Ich wollte verstehen, vorher die verfluchten Stimmen kamen und warum sie in meinem Kopf waren und…“, ein geradezu amüsiertes Lächeln huschte über seine Lippen, während er sich zu Law wandte, „warum es immer so leise war, wenn ich zu Killer in die Werkstatt ging.“
Nachdenklich legte Law den Kopf in den Nacken und starrte hinauf an die Decke, dessen vergilbte Farbe schüchtern von der nächtlichen Dunkelheit versteckt wurde. Er verstand Kids Problem, doch war die Lösung zu diesem in seinen Augen nahezu unmöglich zu finden. „Und du denkst, dass ich die Antwort kenne?“, schlussfolgerte er und zuckte verwundert zusammen, als ihn Kid lautstark auslachte. „Überschätz dich nicht, Doktorchen“, giggelte er, stieß Law im Vorbeigehen mit zwei Fingern frech gegen die Stirn und schlenderte zum Fenster. Zufrieden betrachtete er das Schneetreiben. „Dein Onkel meinte, wenn ich nich zufrieden bin, dann muss ich meine eigene Antwort finden und wenn ich sie hätte, dann soll ich mich melden.“ Eine Erinnerung zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht, kurz bevor er sich an Law wandte: „Er ist ziemlich gut in dem, was er macht.“ Law nickte zustimmend, überhörte allerdings nicht die unterschwellige Kritik gegen ihn, die in der Aussage mitklang.
„Später habe ich dann andere Sachen gelesen. Ich war eh den ganzen Tag in der Klapse. Killer war der einzige, der mich besucht hat und…“, er warf einen verschmitzten Blick zu Law, „Es ist halt Killer. Ich liebe ihn, aber er ist nicht der Typ für lange Unterhaltungen.“ Kid grinste frech und Law stimmte ihm mit einem wissenden Lächeln zu. Wahrscheinlich war Killer jeden Tag dagewesen, nachdem seine Wunden einigermaßen verheilt waren, nur um sicher zu gehen, dass es Kid an nichts fehlte… Die Beziehung der beiden Irren war in keinster Weise mit gesundem Menschenverstand zu begreifen. „Klingt, als hättest du viel Zeit gehabt“, folgerte Law, schlich ebenfalls zum Fenster und stellte ich mit verschränkten Armen neben den Rotschopf.
Die plötzliche Nähe ließ Kid kurz zusammenzucken. Er musterte den jungen Mann an seiner Seite, als würde er abwägen, ob er zur Seite treten oder bleiben sollte. Schlussendlich beugte er seinen Oberkörper nach vorn, sodass sich seine Stirn gegen die Fensterscheibe vor ihm drückte. „So dreckig der Saftladen auch war, Saint George’s hatte eine ziemlich große Bibliothek und dein Onkel hat organisiert, dass ich rein durfte. Recherche und so“, führte Kid seine Erläuterungen fort und setzte ein breites Grinsen auf sein Gesicht. Offensichtlich hatte er die Privilegien genossen, die ihm sein Therapeut zugestanden hatte und während er dies erkannte, bewunderte Law immer mehr die Methoden seines Onkels und dessen Wissen und Rückschlüsse über seine Patienten. Auf so eine simple Weise hatte er Kid dazu angeleitet, seine eigene Therapie zu kreieren und zu verfolgen – Perfekt für einen rebellischen Aufständischen.
Unvermittelt richtete sich der Rotschopf auf und drehte sich mit Schwung um die eigene Achse, sodass er Law direkt in die Augen sehen konnte. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, als würde er bereits wissen, wie Law auf seine anschließende Erklärung reagieren würde. „Als ich wusste, dass der medizinische Dreck mir nicht weiterhelfen würde, hab‘ ich meine Forschung ausgeweitet. Seelen und Verstand… Plato, Nietzsche, Religion… Wenne einmal anfängst…“, er stoppte, machte ein Geräusch, das offensichtlich eine Explosion nachahmen sollte und bewegte seine Hände in einer symbolischen Druckwelle von seinem Kopf weg. „Hmm…“ Ein weiteres Mal ließ Law seinen Blick über die Wände des Raumes wandern. Kid schien um einiges intelligenter zu sein, als es den Anschein machte. Vielleicht war er sogar intelligenter als er selbst und vielleicht war das der Grund, weshalb Law von Anfang an die Auseinandersetzungen mit Kid genossen hatte; weshalb er so fasziniert war von Kids Handlungen. Es musste auch der Grund sein, weshalb sein Onkel von Anfang an befürchtete, dass Kid für seinen Neffen eine potenzielle Gefahr darstellen konnte.
„Hast du eine Antwort gefunden?“, fragte Law schließlich, als Kid keine Anstalten machte, seine Geschichte eigenständig zu beenden. Der Rotschopf zuckte mit den Schultern, zog sich die Mütze vom Kopf und setzte sie Law auf, bevor er zurück zur Matratze schlich, um sich auf den weichen Untergrund zu setzen. Die Weinflasche fand ihren Platz zu seiner Rechten. „Was hältst du von Reinkarnationen?“, fragte er, als würde er das Thema wechseln wollen, sah interessiert zum Studenten auf und verfolgte, wie dieser das Konzept belächelte. „Die Frage solltest du nicht an einen Mediziner richten“, meinte er unbeeindruckt und schüttelte vielsagend den Kopf. Kid lachte, als hätte er die Antwort bereits gekannt. Nahezu schüchtern strich er sich Haarsträhnen aus der Stirn, nahm die Flasche zurück in seine Hände und drehte sie. „Deine Antwort ist, dass es keine absolute gibt. Selbst ihr Möchtegern-Docs findet immer wieder andere Antworten auf gleiche Fragen.“
Law verzog anerkennend den Mund. Dagegen konnte er nichts sagen, auch wenn er gelernt hatte die Falsifizierung von Thesen als Fortschritt zu betrachten. „Eine frustrierende Erkenntnis. Willst du dich deshalb nicht behandeln lassen? Ist es sinnlos?“ Der Mediziner in Law wollte die Oberhand zurückgewinnen. Kid schien gerade in der Laune mit sämtlichen Hinweisen für eine Diagnose und Therapieansätzen um sich zu werfen und Law wollte nichts unversucht lassen, eventuell doch einen Weg zu finden, um dem Rotschopf zu helfen. Aufgeregte Motivation ergriff vom Körper des Studenten besitz. „Ich gehe zu deinem Onkel“, verteidigte sich Kid und erntete ein müdes Raunen: „Und ignorierst seine Ratschläge.“ Schuldig stützte der Rotschopf seine Stirn auf den Flaschenhals. „Stimmt“, murmelte er, als würde er ihr vorheriges Spiel noch einmal aufgreifen wollen.
Nachdem es einige Zeit still zwischen ihnen war, spürte Law, dass Kid mit einem Mal unruhig wurde. Nervös wippte sein Körper abermals vor und zurück, während er seine aufgerissenen Augen auf ein unsichtbares Objekt am Boden richtete. Das letzte Mal war Laws Frage der Auslöser für dieses Verhalten gewesen, nun schien etwas anderes zu passieren – doch er hatte keine Idee, was es sein konnte. Unsicher trat er einen Schritt auf Kid zu. „Warum Reinkarnationen?“, fragte er, nicht aus Interesse, sondern um einen Grund zum Reden zu finden. Ohne seinen angespannten Gesichtsausdruck zu lockern, wanderten Kids von der Dunkelheit geweiteten Pupillen hinauf zu Law, während er seine nackten Füße mit den Händen umfasste. Nachdem er einen Moment nachdachte, zauberte das gewählte Thema erneut ein Lächeln auf seine Lippen.
„Es war eine Idee. Gehörte früher mal zum Christentum, oder so. Kann mich nicht genau erinnern. Auf jeden Fall glaubten sie, dass es früher, also ganz zu Beginn, nur eine Seele gab. Eine große Seele. Und als dann alle Adams und Evas auftauchten, da wurde die Seele geteilt, für alle Kinder und wiederum neue Inkarnationen.“ Während er lauschte, verzog Law verwundert den Mund. Mit derlei esoterischem Gedankengut hatte er noch nie etwas anfangen können und es wunderte ihn, dass Kid es überhaupt für erzählenswert hielt. „Wenn du die Idee weiterdenkst, dann teilen sich alle Menschen Splitter der gleichen Seele.“ Law seufzte: „Und deshalb sind wir alle gleich?“, schlussfolgerte er, doch bekam ein Kopfschütteln zur Antwort. „Kapierst du es wirklich nicht, oder tust du nur so?“, neckte ihn Kid mit einem breiten Grinsen und setzte zur Erklärung an: „Am Anfang gab es nur wenige Seelen und wenn sich diese nur selten teilten und es nur wenige Inkarnationen des gleichen Splitters gab, dann gibt es immer noch Menschen, die sich größere Teile dieser Seele teilen.“ Jetzt musste selbst Law grinsen: „Seelenverwandte.“ Kid hob anerkennend seinen Zeigefinger und richtete ihn bestätigend auf sein Gegenüber.
Der Freude folgte ein verträumtes Grinsen im blassen Gesicht des jungen Mannes, als er auf das Etikett der Weinflasche blickte. „Seelenverwandte“, wiederholte er in einem Flüstern und strich nachdenklich über das harte, grüne Glas des Behälters. „Die Leute glaubten, dass das Ziel unseres Daseins darin liegt, einen anderen Teil unseres Seelensplitters zu finden.“ Zwar verstand Law noch nicht, was es mit Kids Krankheit zu tun hatte, doch er begann die Geschichte zu mögen und den entspannten Gesichtsausdruck, den sie bei Kid auslöste. Wieder wurde es still bis auf den Wind, der erbarmungslos um die Häuser pfiff und alte Holzbalken knarren ließ. Law verfolgte fasziniert den ruhigen Glanz in Kids grünen Augen und das zufriedene Lächeln, das seine schmalen, blassen Lippen umspielte. Der Anblick hatte etwas unerwartet Tröstliches innerhalb der kalten, dunklen Wohnung, in der sie sich befanden und Law kam nicht umhin den Wunsch zu verspüren, Kid ein weiteres Mal zu küssen.
„Cheers!“, rief der junge Mann mit den feuerroten Haaren auf einmal, auch wenn seine Stimme schwach wirkte und sich im Raum verlor. Law riss es aus seinen Gedanken, kurz bevor er verfolgte, wie Kid ihm die Weinflasche entgegenhielt, die er bis dahin wie ein Heiligtum mit sich getragen hatte. Der angehende Mediziner zog verwundert die Augenbrauen zusammen und legte den Mund schief. Davon abgesehen, dass der Wein inzwischen fahl schmecken musste und er mit dem Auto unterwegs war, ärgerte es ihn, dass Kid den besonderen Moment zwischen ihnen nicht wahrgenommen, vielleicht sogar absichtlich zerstört hatte – alles für einen idiotisch sinnlosen Schluck Wein. Law schüttelte den Kopf.
...„Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie ich dir helfen kann“, merkte er an, schnappte die Flasche aus Kids Händen und stellte sie in eines der Regalfächer. Kid sah ihr wehmütig hinterher, bevor er sich in einen Schneidersitz begab und neugierig zu Law aufsah. Für einen Augenblick wanderten seine Augen nachdenklich von links nach rechts und zurück, während das für ihn typische schelmische Grinsen seine Lippen endlich wieder zierte. „Oder vielleicht hast du es und ich habe es vor lauter Gerede über Seelen nicht mitbekommen“, fügte Law hinzu und streckte seine Hand aus, um Kid aufzuhelfen. „Was, wenn die Stimmen die anderen Teile sind… Hab ich mir gedacht“, gestand Kid mit einem Mal, richtete seinen Blick allerdings auf den Boden, als wäre ihm das Bekenntnis peinlich. „Splitter auf der Suche, wenne so willst. Und es wird leise, wenn ich einen richtigen Teil gefunden habe…“ Sein Körper wurde mit einem Mal vollkommen still, als würde er darauf warten, dass Law lachen würde. Doch Law lachte nicht. Stattdessen schnappte er sich Kids Arm, zog ihn zu sich hoch und sah ihm in seine überraschten Augen. „Ist es jetzt leise?“, fragte er mit einem hoffnungsvollen Flüstern…
Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie ich dir helfen kann. Jeder von Laws Träume endet nunmehr mit diesen Worten; jeder Augenblick in dem er an den Moment in Kids dunkler Wohnung zurückdenkt. Immer und immer wieder fragt er sich, weshalb er diese Frage nicht gestellt hatte; immer und immer wieder spielt er diese Alternative in seinen Gedanken durch und straft sich selbst mit der Gewissheit, dass er alles Folgende hätte verhindern können. Doch es bleibt ein Traum, eine Illusion, die ihm etwas von dem Schmerz und der Wut nehmen soll, die ihn seit dieser Nacht jeden Morgen nach dem Aufwachen erwartete und bis zum Einschlafen begleitete. Vielleicht hätte er einfach Kids Aufforderung folgen, sich die Flasche nehmen und sie alleine leeren sollen…
Schweigend betrachtete Law an jenem Abend in der heruntergekommenen Wohnung den Wein, den Kid ihm so keck entgegenstreckte. Es erinnerte ihn an den Whiskey, den sie sich in der Kellerbar geteilt hatten; seinen bittersüßen Geschmack, der Laws Kehle brennend hinabgeglitten war, kurz bevor ihm Killer ein Messer an den Hals gedrückt hatte. Nachdenklich streckte er seine Hand aus, berührte kurz das kühle, glatte Glas der Flasche, bevor er seine Finger entschlossen zurückzog. Er war auf der Suche nach Antworten und würde einen klaren Kopf brauchen, sagte er sich und lehnte mit einer höflichen Geste Kids Angebot ab. Dieser nahm die Falsche wieder an sich, legte sie in beide Hände und betrachtete sie mit müdem Blick. „Warum erzählst du mir etwas von Seelenverwandtschaft?“, fragte Law schließlich, verschränkte die Arme und blickte neugierig zu Kid hinab. Als dieser lediglich traurig seufzte, hob Law irritiert eine Augenbraue: Wann hatte sich Kids heitere, kindlich amüsierte Art in nahezu romantische Lethargie verwandelt?
„Ich wollte immer verstehen, woher die Stimmen kommen…“, meinte Kid schließlich und schnaubte, als würde er sein eigenes Handeln inzwischen als Lächerlich abtun. „Ich dachte, wenn ich versteh‘ was es ist, dann hört es auf…“ Kids zuvor ruhige Stimme beinhaltete nun ein aggressives Zittern, während er seine Augen frustriert zusammenkniff. Seine Atmung wurde immer schneller. In absoluter Anspannung presste er Luft aus seiner Nase, während er seine Lippen in unregelmäßigen Abständen spastisch aufeinanderdrückte und wieder lockerte. Mit einem beängstigendem Grinsen sah er schließlich hoch zu Law, betrachtete ihn für einige Sekunden und schüttelte schließlich energisch den Kopf. Law trat auf ihn zu, hielt jedoch alarmiert inne, als Kid mit einem Glucksen den Kopf schief legte. „Ich hab keine Ahnung, wie ich es euch anders hätte sagen sollen…“, sprach er unter verzweifeltem Schluchzen mit Augen, in denen sich Tränen der Verzweiflung sammelten. Es war Verzweiflung, die alle Hoffnung verloren hatte; ein Kind, das einsam und verlassen in einer Mengen von riesigen, ignoranten Menschen untergeht und begreift, dass es den Weg nach Hause nie wieder finden wird; dass es allein bleiben wird, übersehen und vergessen. Laws Herz schlug indes am Limit, pochte schmerzend gegen seine Brust in dem Bewusstsein, dass er seine imaginäre Kontrolle verlor. Vollkommen machtlos stand er einer bizarren Metamorphose gegenüber, die sich ihm als blankes Chaos darbot.
Das Rauschen des Windes wurde lauter, während Kid mit einer Hand nervös durch seine eigenen Haare fuhr. „Ich hab es versucht, aber niemand hat’s gehört, weißt du…?“ Law war sich nicht sicher, ob er zu ihm oder mit sich selbst sprach. „Kid? Alles in Ordnung?“, fragte er mit vor Aufregung bebender Stimme. Wieder trat er einen Schritt auf den jungen Mann zu, während er darüber nachdachte, was Kid ihm hatte sagen wollen; was er überhört haben könnte. „Aber es ist einfach so laut… So unendlich laut…“ Kids Stimme war nunmehr ein verzweifeltes Flüstern, während er sich seine Handflächen auf die Ohren presste. „Kid!“ Law hingegen schrie den Namen seines Gegenübers in dessen Gesicht. Er verstand nicht, was gerade passierte, doch er spürte, dass er etwas unternehmen musste. Irgendetwas hatte sich verändert und das nicht zum Guten. Erschrocken hielt er inne, traute sich nicht einmal mehr zu atmen, als Kid den Kopf hob und Law wütend anstarrte. Der Student schluckte schwer.
„Es hat geholfen“, meinte Kid schließlich und grinste in beunruhigender Zufriedenheit. Law sah ihn fragend an. „Es war so laut; so laut wie noch nie zuvor. Ich musste was machen und da habe ich ihn angesteckt. Ich hab es einfach getan… Es war so laut und ich konnte nicht mehr und dann… Ich hab’s gespürt. Auf meinem Gesicht… Überall. Ich hab‘s gespürt und vor Schmerz geschrien und trotzdem… trotzdem…“ Nachdem er sich am Anfang in Rage geredet hatte, wurde Kid für die letzten Worte vollkommen ruhig und starrte Law mit aufgerissenen Augen an. „Trotzdem war es endlich leise“, beendete Law den Satz, als er verstand, von welchem erschreckenden Geständnis er gerade Zeuge geworden war. Unmittelbar spürte er die Gänsehaut, die sich über seinem Körper ausbreitete, als Kid bejahend nickte, sein Gesicht nun vollkommen ausdruckslos, nahezu tot. „Es soll einfach nur leise sein…“, hauchte er, sah lange in Laws graublaue Augen, bevor er ihn unglücklich, nahezu flehend anlächelte und den grünen Flaschenhals an seine Lippen legte. „Das Leben ist ein Hund…“, lachte er überraschend laut und leerte den Wein in einem einzigen Zug.
Der Satz war das Ende von Kafkas Buch, erinnerte sich Law. Es war der letzte Satz, den der Verurteilte aussprach, bevor er sich seinem Schicksal ergab; bevor der letzte Schuss fiel. Nun sah Law dem Jungen mit den feuerroten Haaren schweigend zu, traute sich allerdings nicht, näher an ihn heranzutreten. Da hatte er seine Antwort zu Killers Narben. Doch alles, was sie in ihm auslöste, war Trauer, Frust und Wut. Kid hustete wild, als er die Flasche absetzte und zurück auf dem Boden stellte. Mit Mühe richtete er sich wieder auf, streckte die Arme, um seine Balance zu finden und starrte Law anschließend verträumt entgegen. Der Student schnaubte ein sarkastisches Lachen. Wenn er an ihren gemeinsamen Tag zurückdachte, dann wollte er einfach nicht begreifen, wieso eine solch irreparable, unsichtbare Krankheit gerade das Leben der Menschen zerstören konnte, die es am meisten zu genießen schienen. Doch das Leben war ein Hund und Law war lange genug Mediziner, um erkannt zu haben, dass zumeist all die Menschen als erstes gingen, die gelernt hatten, in jedem Atemzug das Leben wertzuschätzen, selbst mit einem nassen, alten Laubhaufen. „Es gibt Medikamente und Therapien, Kid. Du musst so nicht leben. Medikamente können es einfacher machen und du…“, setzte Law an, wurde aber unterbrochen: „Ich weiß.“ Kids Stimme war rau und brüchig: „Es ist ok… Ich dachte, die anderen Splitter schweigen, wenn du einmal das Ziel erreicht hast. Aber das war falsch…“ Er seufzte traurig. „Es war falsch… Aber nicht sinnlos.“
Mit einem tröstlichen Lächeln im Gesicht stellte er sich direkt vor Law und legte eine Hand auf dessen Wange. „Es ist nie sinnlos“, wiederholte er für sich selbst, lächelte ironisch und schob Laws Mütze vom Kopf, sodass diese unter einem dumpfen Aufprall zu Boden fiel. Der Körper des Studenten verkrampfte sich unter der plötzlichen Nähe, die er nicht zu interpretieren wusste. Wortlos verfolgte er, wie Kid ihm immer näher kam, seinen Kopf leicht zu Seite drehte, schließlich die Augen schloss und seine Lippen sanft auf Laws drückte. Der Student verharrte zunächst regungslos, wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte und konzentrierte sich auf den rasanten Schlag seines eigenen Herzens. Doch schließlich gewann das vertraut angenehme Gefühl des Kusses die Oberhand, sodass auch er seine Lider schloss, um sich ganz den weichen Berührungen der schmalen, blassen Lippen hinzugeben.
Aufgeregt vergrub er seine Hände in den feuerroten Haarsträhnen und begann seinen Mund fordernder zu bewegen, sich fester gegen den fremden und doch bekannten Körper zu drücken, sodass er nun fühlen konnte, wie auch Kids Herz immer schneller schlug. Innerlich lachte er: Vielleicht war dies der Weg, mit dem er Kid helfen konnte; der Grund, weshalb ihm der kleine Idiot geschrieben und ihm damit fast einen Herzinfarkt eingejagt hatte. Sein Atem wurde unregelmäßiger, auf seine Wangen legte sich ein roter Schimmer, fest drückte er seine Lippen auf Kids, spürte das Leben und gab sich dem Moment hin…
Zunächst vernahm er nur ein leises Husten, das ihn allerdings nicht aufhielt. Doch kurz darauf wurde aus dem Husten ein Röcheln, bis sich der gesamte Körper, den er in seinen Armen hielt, schüttelte. Überrascht wich Law einen Schritt zurück, starrte verwundert auf Kid, der sich verkrampft nach vorn beugte, sein Gesicht in seinen Handflächen vergrub und in einen Ausfallschritt trat, um nicht umzukippen. Vollkommen irritiert streckte Law seine Arme unsicher von sich; wusste nicht, was er machen sollte. „Kid, was…?“, presste er hervor, schüttelte den Kopf und verfolgte angespannte, wie sich der junge Mann vor ihm unter verkrampftem Räuspern aufrichtete. Langsam hob er den Kopf, zeigte sein Gesicht mit den nahezu unsichtbaren, frechen Sommersprossen auf heller Haut, welche nun jedoch mit viel zu dunklen Sprenkeln übersät war.
Law hielt den Atem an, streckte eine Hand aus und legte sie auf Kids Wange, wobei sein Daumen die zähe Flüssigkeit berührte, die Kids Mund umrahmte. Schwarz war sie, im blauen Licht der Nacht. Als Law seine Finger bewegte, zog er eine feste, warme Schliere mit sich. Voller Entsetzen in schmerzhaft aufgerissenen Augen fixierte er sein Gegenüber: Ein zitternder Köper, der angestrengt nach Luft rang. Jeder Atemzug wurde von einem Rasseln der Lunge begleitet, während Kid den Kopf weiter in den Nacken legte und Law durchdringend angrinste, wobei Blut seinen sonst so weißen Zähnen unheilvolle, bedrohlich rote Konturen verlieh…
~*~
“Well, as a child I mostly spoke inside my head
I had conversations with the clouds, the dogs, the dead
And they thought my broken, that my tongue was coated lead
But I just couldn't make my words make sense to them
If you only listen with your ears...
I can't get in“
- Radical Face: “The Mute”
~*~