Erklärungen
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9. Erklärungen
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Es ist Montag, der 8. Dezember 2014, 9 Uhr morgens und ich sitze seit zwei Stunden in Joannes Krankenzimmer an ihrem Bett, Besuchszeit ist zwar eigentlich nicht, aber Kaiba hat seine Beziehungen spielen lassen und es mir ermöglicht, meine Tochter jederzeit besuchen zu dürfen und zu bleiben solange ich will. Er selbst ist gerade unten bei Doktor Sigand und lässt einige Tests machen, um zu sehen, ob er als Knochenmarkspender für Joanne in Frage kommen kann. Er hat sich bisher noch nicht getraut, Joanne hier zu besuchen, vermutlich wird es eine Weile dauern, bis er sich mit dem Gedanken, eine Tochter zu haben, anfreunden kann. Ich kann es ihm nicht einmal übel nehmen. Es hat bei mir ebenfalls lange gedauert, bis ich mich damit anfreunden konnte, dass Joanne nicht meine leibliche Tochter ist. Ich habe sie trotz allem ins Herz geschlossen und ich könnte sie niemals aufgeben.
Ich habe mich ein wenig mit den Vorgängen einer Knochenmarktransplantation befasst und bin ziemlich schockiert. So einfach, wie ich gedacht habe, scheint es gar nicht zu sein. Bei der Knochenmarktransplantation wird das Knochenmark des Patienten durch gesundes fremdes Knochenmark ersetzt. Dazu muss zunächst das Knochenmark des Patienten durch hochdosierte Chemotherapie mit oder ohne begleitende Strahlentherapie zerstört werden, was sich ziemlich schrecklich anhört. Joanne werden dabei vermutlich ihre schönen blonden Haare ausfallen. Ansonsten muss der Spender wirklich mit dem Empfänger kompatibel sein, weil sich sonst die bei der Transplantation mitübertragenen Immunzellen des Spenders gegen den Empfänger richten und eine schwere immunologische Abwehrreaktion auslösen. Verläuft die Transplantation erfolgreich, hat der Patient allerdings Aussicht auf dauerhafte Heilung, was mich schon ein wenig beruhigt.
Allerdings erschreckt mich die Prozedur der Knochenmarktransplantation ein wenig. Das gesunde flüssige Knochenmark des Spenders wird dem Empfänger über eine Nadel oder einen Katheter wie eine Infusion in die Blutbahn übertragen und ersetzt das vorher zerstörte Knochenmark des Patienten. Die Stammzellen der Blutbildung finden von selbst ihren Weg in die Markhöhlen der Knochen, siedeln sich dort an und beginnen, neue funktionstüchtige Blutzellen zu bilden. Wie soll das nur gut gehen, wo Joanne schon bei kleinen Spritzen zurückschreckt?
„Papa?“
Ich schau auf meine kleine Tochter hinab, die mich aus müden Augen anblinzelt.
„Was ist, meine Kleine? Hast Du wieder Schmerzen?“
Sie schüttelt müde den Kopf.
„Nein, aber ich will nachhause. Hier gefällt es mir nicht.“
Ich seufze leise.
„Das geht leider nicht, meine Süße. Du bist schwer krank und wirst eine ganze Weile hier bleiben müssen, damit Du wieder gesund wirst.“
Vermutlich sogar ein halbes Jahr oder länger, je nachdem wie schnell die hochdosierte Chemotherapie anschlägt und das neue Knochenmark übertragen werden kann. Am Samstag hat Doktor Sigand noch Knochenmark von Joanne entnommen, was ihr gar nicht gefallen hat. Er hat es untersucht und seine erste Diagnose einer chronischen myeloischen Leukämie bestätigt, sich aber gefreut, dass ich Kaiba überreden konnte, Joanne zu helfen.
Im Grunde hat es mich nicht sonderlich überrascht, dass Kaiba zugestimmt hat, schließlich ist er kein Unmensch und ich habe ja dafür gesorgt, dass es für ihn keinen Nachteil geben wird, da er ja nicht einmal als leiblicher Vater in Joannes Krankenakte auftaucht oder sonst irgendwie mit Joanne in einen Zusammenhang gebracht wird. Wenn rauskommt, dass er ein uneheliches Kind hat, das auch noch bei einem anderen Mann aufgewachsen ist, wird die Presse ihn vermutlich in der Luft zerreißen.
„Kann ich nicht zuhause behandelt werden?“
Ich schüttle traurig den Kopf.
„Auch das geht leider nicht. Was ist denn, wenn sich Dein Zustand verschlechtert? Ich werde Dir nicht helfen können.“
„Heißt das, wenn ich jetzt nachhause gehe, könnte ich sterben? So wie Mama?“
Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich nicke leicht.
„Ja. Das könntest Du. Aber wenn Du hierbleibst, dann können die Ärzte Dich retten und alles wird wieder gut.“
„Ich will nicht sterben. Wenn ich also hierbleiben muss, dann mach ich das. Aber weine bitte nicht, ja? Ich will nicht, dass Du weinst, Papa.“
Ich wisch mir die Tränen aus den Augen und lächle ein wenig.
„Du bist ganz schön stark, meine Kleine. Hast Du denn gar keine Angst?“
Joanne schüttelt energisch den Kopf.
„Nein! Ich habe vor gar nichts Angst! Außer vielleicht davor, dass Du ganz alleine bist, ohne Mama und … ohne mich.“
Ich zieh sie in meine Arme und drücke sie fast verzweifelt an mich.
„Meine kleine Joanne. So ein tapferes Mädchen.“
Ein leises Räuspern lässt mich kurz zusammenzucken und nach rechts blicken. Kaiba steht in der Tür zu Joannes Krankenzimmer und wirkt irgendwie ein wenig nervös, fast schon schüchtern.
„Hallo. Ich hab geklopft, aber ihr habt mich wohl nicht gehört. Störe ich?“
Ich drücke Joanne ein wenig von mir weg und wische mir noch ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, bevor ich Kaiba zunicke.
„Komm rein. Du störst keineswegs. Wie liefen die Untersuchungen?“
Er kommt auf uns zu, schließt hinter sich die Tür, zieht sich einen Stuhl an Joannes Krankenbett, legt ein Bein über das andere und verschränkt die Arme.
„Hervorragend. Übereinstimmung von 100 Prozent, ich bin also tatsächlich…“
Er räuspert sich kurz, wendet den Blick von uns ab und lässt den Satz unvollendet.
„…Sobald die Chemo Wirkung gezeigt hat, kann die Knochenmarkspende erfolgen. Ich hoffe nur, dass es während der Chemo oder der Knochenmarkübertragung keine Komplikationen geben wird. Ich hab mich am Wochenende eingehend damit befasst und bin wirklich schockiert, was Joanne hier zugemutet wird. Andererseits ist diese Art der Behandlung vermutlich eher von Erfolg gekrönt als eine langwierige Therapie, wo die Krankheit eher unterdrückt, als vollständig geheilt wird.“
„Was ist eine Chemo? Und was ist eine Knochenmarkspende?“
Ich blinzle Joanne an und werfe Kaiba einen wütenden Blick zu.
„Musste das sein? Du kannst doch nicht so offen über sowas reden, Joanne ist erst 6, sie wird das gar nicht alles verstehen.“
„Korrektur, sie ist schon 6 und wenn wir ihr es genau erklären, wird sie es sehr wohl verstehen. Du kannst sie nicht vor allem beschützen, Wheeler. Und das weißt Du.“
„Genau, Papa! Der Onkel hat Recht, außerdem will ich das wissen! Ich will auch wissen, was ich denn für eine Krankheit habe, dass ich im Krankenhaus bleiben muss und nicht nachhause darf, weil ich da vielleicht sterben könnte.“
Seufzend fahre ich mir durch die Haare. Na klasse. Jetzt ergreift meine eigene Tochter schon Partei für Kaiba und fängt an, mit mir zu diskutieren. Wie der Vater, so die Tochter, oder was? Da merkt man, dass sie doch noch mehr von ihm geerbt hat, als man auf den ersten Blick sieht.
„Na schön. Erklär ich Dir halt alles, was ich über die Krankheit weiß und was ich nicht weiß, kann Dir sicher der Onkel da erklären. Der ist ja so ein großes Genie.“
Auch wenn er vermutlich von Kindererziehung wenig Ahnung hat, obwohl er ja auf eine gewisse Art und Weise ja Mokuba die Eltern ersetzt und ihn somit auch großgezogen hat. Gozaburo war jedenfalls kein guter Vater, wenn man ihn dann als solchen überhaupt bezeichnen kann.
„Also, als allererstes hast Du Leukämie, so nennt sich die Krankheit, die Du hast. Die genaue Bezeichnung wäre chronische myeloische Leukämie, aber den Namen musst Du Dir nicht unbedingt merken, ist vielleicht zu schwierig. Bei dieser Krankheit kommt es zu einer starken Vermehrung von weißen Blutkörperchen im Blut und im Knochenmark. Bei einem gesunden Menschen beträgt das Verhältnis von roten und weißen Blutkörperchen 700 zu 1, das heißt auf 700 rote kommt nur ein weißes Blutkörperchen. Bei Dir sieht das Verhältnis jedoch ganz anders aus. Du hast zwar noch genügend rote Blutkörperchen, da Deine Krankheit noch im Anfangsstadium, der sogenannten chronischen Phase, entdeckt wurde, aber deine weißen Blutkörperchen sind stark vermehrt. Das heißt, dass jetzt auf 700 rote Blutkörperchen schon ungefähr 5 weiße kommen, also 5mal so viel, wie bei einem gesunden Menschen.“
Joanne schaut mich mit großen Augen an.
„Und wie kann man das wieder rückgängig machen?“
„Mit einer Chemotherapie und einer Knochenmarkspende. Eine Chemotherapie ist eine Behandlung mit starken Medikamenten, die einer vermehrten Bildung von weißen Blutkörperchen entgegen wirken. Dein Immunsystem wird dabei sehr stark belastet, bzw. sogar zerstört, damit später eine Knochenmarkspende nicht abgestoßen wird. Das flüssige Knochenmark wird dabei von einem geeigneten Spender, in Deinem Fall von dem Onkel hier, entnommen und in den Blutkreislauf des Patienten, also von Dir, übertragen. Wie lange es nun tatsächlich dauert, bis Du wieder gesund bist, kann ich Dir leider nicht sagen, aber es wird vermutlich eine ganze Weile dauern.“
„Hm. Hört sich sehr kompliziert an.“
Ich seufze und nicke Joanne zu.
„Ist es auch. Deshalb wollte ich Dich eigentlich nicht damit belasten.“
Sie lächelt mich an und schüttelt den Kopf.
„Ist schon gut, Papa. Auch wenn ich nicht alles verstanden habe, ist es doch gut, dass Du mir erzählst, was mit mir los ist oder was die Ärzte mit mir machen, dann muss ich wirklich keine Angst haben und kann mich ganz darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden, damit ich wieder nachhause kann.“
Ich zieh Joanne wieder in meine Arme.
„Du hast eine verdammt starke Tochter.“
Ich schau Kaiba an, der irgendwie etwas melancholisch zu lächeln scheint und dabei den Blick nicht von Joanne losreißen kann.
„Sie ist so stark wie ihr Vater.“
Er schaut mich direkt an, mit einem Blick, den ich nicht deuten kann. Irgendwie traurig, vielleicht auch etwas hoffnungsvoll, dennoch auch ein wenig distanziert und abweisend.
„Ja. Wie ihr Vater.“
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